Psychotherapie mit Kindern aus Kriegsgebieten

„Jetzt ist der Tiger mein Freund“

von Gisela Framhein

Das Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer „Refugio“ behandelt seit 14 Jahren traumatisierte Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebieten. Flüchtlinge erhalten hier umfassende Sozialberatung und Psychotherapie in Einzel- und Gruppensettings. Derzeit werden hier 1.100 Flüchtlinge betreut.

Refugio ist ein unabhängiger Verein und finanziert sich zu etwa 40% aus privaten Spenden.

Ein wichtiger Bereich ist die Behandlung von Kindern, die mit ihren Eltern geflüchtet sind. Gegenwärtig erhalten120 Kinder und Jugendliche Einzel-oder Gruppentherapien. Zudem betreut das Projekt „Kunstwerkstatt“ unter dem Dach von Refugio über 300 Kinder in Flüchtlingsunterkünften in wöchentlich stattfindenden Gruppen: Malen, Break-Dance, Hip-Hop, Singen, Theater spielen.

Die Kinder kommen aus fast allen Krisengebieten der Erde, vom Kongo bis Uigurien in der Mongolei; besonders viele stammen aus dem Kosovo, aus dem Irak, aus Afghanistan, Tschetschenien und Iran.

Sie werden bei uns meist von sozialen Diensten angemeldet: von Flüchtlingsunterkünften, Ärzten, Schulen, Kindergärten, in denen diese Kinder auffallen: Kinder, die zutiefst verstört sind, manchmal extrem unruhig-getrieben, manchmal wie versteinert, ängstlich in sich zurückgezogen.

In der Kindertherapie bei Refugio erfahren diese Kinder Ermutigung und Unterstützung. Hier können sie im Handeln das ausdrücken, wofür ihnen oft die Worte fehlen: mit Farbe, Ton, Knete, mit Stofftieren und Spielfiguren stellen sie ihre innere Welt dar. Und wenn die Nöte und Ängste zu Bildern und Spielgeschichten werden, verlieren sie etwas von ihrer Macht über die Kinder.

Bevor sich die Kinder ihren Ängsten stellen können, brauchen sie ein Gefühl der Sicherheit, und da das Vertrauen in die Welt der Erwachsenen und die Fähigkeit der Eltern, die Kinder zu schützen, zutiefst erschüttert ist, dauert es oft sehr lange, bis ein Kind sich sicher genug fühlt, um den erlebten Schrecken zu thematisieren, und das auch meist in verschlüsselter Form.

Faszinierend ist die Fähigkeit aller Kinder, sich im Spiel auf einer symbolischen Ebene ein Stück Sicherheit zu holen: So erfinden sie sich Bilder und Geschichten, in denen sie Helden sind, die Kämpfe bestehen und Schwierigkeiten meistern. Sie sind die Könige, die „die Bösen“ bestrafen, sie sind Prinzessinnen, die bewundert und geliebt werden. Sie imaginieren und gestalten sich einen sicheren Ort, den sie in ihrer Fantasie aufsuchen können, wenn Ängste sie quälen. Sie erinnern sich an gute Situationen aus der Vergangenheit. Auf diese Weise finden sie allmählich wieder zu ihren verschütteten Kraftquellen, und es wächst in ihnen ein Raum zum Leben.

Einige Beispiele von Kindern, die den Krieg im Kosovo 1999 unmittelbar erlebt haben, mögen das veranschaulichen:

Der 5 jährige Florim musste sich wochenlang mit seiner Mutter im Wald vor serbischen Milizen verstecken, wurde dabei Zeuge von Erschießungen von Jungen und entging nur knapp demselben Schicksal, weil seine Mutter ihn noch freikaufen konnte.

Im ersten Gespräch wirkt er wie eingefroren, stumm, Tränen laufen ihm über das Gesicht, wenn seine Mutter spricht.

In einer der ersten Therapiestunden setzt er eine Batman-Spielfigur in den Sandkasten, der im Therapiezimmer steht. Dort können die Kinder mit Figuren ihre Geschichten aufbauen.

„Das bin ich.“, sagt er über die Figur, die völlig allein wie in einer Festung sitzt. Die  Flugzeuge und Monster stehen als Schutzwall herum. So bedrohlich ist die Welt da draußen: kein Freund, nicht mal ein Tier ist an seiner Seite.

In der Therapie spielt Florim lange Zeit wie ein Kleinkind. Er holt alles nach, was er verpasst hat durch den Krieg und die Zeit danach, als die Eltern von den erlebten Schrecknissen noch zu betäubt waren, um sich Florim zuzuwenden.

Sein Lieblingsspiel: Seine Tiere – Maus und Kaninchen - haben ein Haus mit dicken Mauern und genug zu essen. So schafft er sich ein Gefühl der Sicherheit und nährt seine Seele.

Langsam wächst seine Lebenskraft, er wagt sich an wildere Spiele, Spaßkämpfe, Kissenschlachten und irgendwann greift er zu dem großen Stoff-Tiger, vor dem er sich lange gefürchtet hatte: „Der ist jetzt mein Freund“.

Im Kindergarten beginnt er, auf andere Kinder zuzugehen, während er sich früher meist unter dem Tisch versteckt gehalten hatte.

Noch immer ist Florim ein eher verhaltenes Kind, aber seine innere Welt ist lebendiger geworden, mit scheuen und kraftvollen Anteilen und mit dem Mut, es mit einem Gegner aufzunehmen: Das zeigt er in einer seiner Geschichten, die er mit Spielfiguren im Sandkasten aufbaut:

Florim ist ein chinesischer Prinz, der einen kostbaren Schatz gefunden hat und ihn gegen seine Feinde verteidigt. Mit mehreren Indianern nimmt er es auf, dabei hat er Helfer: einen ganzen Wald voller Tiere, sanfte wie wilde. Und der Bär, groß wie ein Vater, spricht zu ihm: „Das hast du gut gemacht.“

Zusätzlich zur Einzeltherapie nahm Florim noch an einer Holz-Gestaltungsgruppe im Rahmen der Refugio-Kunstwerkstatt teil, seine Arbeiten erfüllten ihn mit Stolz.

In der Schule konnte er sich nach einigen Schwierigkeiten einfügen, dabei half ihm sein stiller, verschmitzter Humor, den er im Lauf seiner Fantasiespiele entwickelt hatte.

Mittlerweile ist die Therapie abgeschlossen, Florim kommt noch alle paar Wochen „zu Besuch“ und berichtet aus seinem Leben oder beweist mir seine Überlegenheit im Brettspiel, sein Lehrer hat ihn empfohlen für den Zweig, der zum Realschulabschluss führt.

Sadete war 8 Jahre alt, als sie mehrmals Zeugin von Massakern wurde. Seitdem quälen sie die Schreckensbilder.

Mit 11 Jahren kam sie zu Refugio.

Kleine Auslöser genügten, um sie emotional wieder in den Krieg zu versetzen, manchmal für Stunden, manchmal für Tage. Dann hört sie die Schreie und sieht vor sich die Massaker. Wie gelähmt vor Angst verbringt sie dann Tage im Bett.

„In der Schule“, sagte sie, “da kommen manchmal die Bilder, und dann denke ich mir ein Rohr, durch das kann ich den Lehrer sehen.“

Einmal in der Therapiestunde war ein Staubsauger vor dem Therapiezimmer zu hören: Das klang ihr wie ein Panzer: sie erstarrte, konnte nicht mehr sprechen, die „Bilder“ waren wieder da.

Gemeinsam übten wir, durch Berührungen und Bewegungen wieder in die Gegenwart zu kommen.

Sadete genießt es, sich gute Situationen zu imaginieren. Anfangs war ihr fantasierter sicherer Ort ein abgedunkeltes Zimmer, später träumt sie sich in einen Blütenbaum, manchmal auch auf den Rücken eines weißen Pferdes. Dies sind Gegenbilder zu ihren Erinnerungen.

Sie hat herausgefunden, dass Tanz gegen die aufkommenden Bilder hilft. Wir tanzen in den Therapiestunden, sie nimmt Schritte und Übungen mit nach Hause.

Die „Bilder“: Nach einem Jahr war sie bereit, sich ihnen in den Stunden zu stellen, immer wieder, stückchenweise, die Bilder in der Imagination verändernd, so dass in ihr das Gefühl entsteht, Kontrolle über die Schreckensbilder zu haben. Sie kommen noch, aber seltener und weniger intensiv.

Sadete gewinnt Freundinnen.

Die erneuten Gewaltausbrüche im Kosovo im Frühjahr 2004 rühren an die alten Wunden. Sadete stellt mit den Spielfiguren eine Gewaltszene nach: ein Soldat richtet sein Gewehr auf ein Kind, dann, nach einem bedrückten Schweigen, wirft sie geradezu die Soldatenfigur zur Seite und stellt eine Clique Jugendlicher auf. „Das bin ich, das ist meine Freundin.“

Der Titel? „Zusammen“ Sie malt das Wort, leuchtend, verspielt.

Inzwischen ist auch diese Therapie abgeschlossen, Sadete hat eine Lehrstelle als Arzthelferin.

Nach 2 Jahren in der Kunsttherapie wagt der 13-jährige Riza, zusammenhängend zu zeichnen, was er aus seinem Kellerversteck heraus im Kosovo beobachtet hat: seine Darstellung ist nur zart angedeutet, wie um das Dargestellte auf Distanz zu halten und sich all dem vorsichtig anzunähern. Alles ist zugleich akribisch ausgemalt: viel Zeit hat er über diesen Bildern verbracht.

Die Kinder geben sich selbst die Botschaft, dass es trotz des Erlebten und neben der Angst ein Leben, ein lebendiges Dasein und eine Zukunft gibt.

Vergessen werden sie nicht, die Narben bleiben, aber es gibt daneben auch das andere: ein Stück normales Leben.

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Gisela Framhein ist Mitarbeiterin im Refugio München.