"Zero Tolerance" und Präventionsinflation

Jugendliche und Jugendarbeit im Kontext der gegenwärtigen Sicherheitsdebatte

von Werner Lindner
Schwerpunkt
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Eine anschwellende Debatte um Sicherheit und Kriminalität hat in jüngster Zeit eine Themenkonjunktur erzeugt, die nach der eifernden Medienberichterstattung der zurückliegenden Wahlkämpfe keineswegs abgeflaut ist. Denn im Zuge der turnusmäßigen Veröffentlichung der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) erhält die Auseinandersetzung um die öffentliche Sicherheit periodisch neue Zufuhr. Wo Jugendgewalt zur "größten Herausforderung für Polizei, Justiz und Politik" hochstilisiert wird, ist auch die Jugendarbeit regelmäßig involviert, da vornehmlich ihre Adressaten - gewöhnlich in Verbindung mit dem Präventionsgedanken - in den Mittelpunkt der Erörterungen geraten.

Um hier angemessen Position beziehen zu können, ist zunächst ein Einblick in das Wirkungsgefüge hilfreich, welches die Auseinandersetzung um Kriminalität und Prävention umgibt.

1. Als gegenläufige Entwicklung zur der sich
     durchsetzenden "Risikogesellschaft" ist
     "Sicherheit" zum Zentralbegriff einer
     grassierenden Kriminalitäts- und
     Unsicherheitsdebatte erwachsen, die gegenwärtig
     alle gesellschaftlichen Themen und Debatten prägt.
     Je deutlicher sich zudem erweist, dass die
     nationale Politik dem globalen Treiben ein ums
     andere mal hoffnungslos unterlegen ist, wird es
     offenbar bedeutsam, wenigstens noch in der Innen-
     und Kriminalitätspolitik politische
     Handlungsfähigkeit und Gestaltungsmacht zu
     demonstrieren:,Sicherheit` als symbolische
     Ersatzpolitik.

2. Flankiert wird diese Lage durch eine immer
     hektischere Beschleunigung der
     Gesetzgebungsmaschine, in der sich die Fülle der
     nicht nur aufeinander folgenden, sondern
     nebeneinander konkurrierenden und sich gegenseitig
     überbietenden Initiativen, Anträge, Entwürfe,
     Beschlüsse nachgerade überschlägt. Dies ist das
     Klima, in dem dann auch PolitikerInnen
     Ausgangssperren für Jugendliche fordern und die
     Städte neue Ordnungssatzungen zu erlassen.

3. Legitimiert werden die Bemühungen um die
     öffentliche Sicherheit gewöhnlich mit Verweis auf
     zwei gleichermaßen fragwürdige Konstrukte. Zum
     einen wird die Polizeiliche Kriminalstatistik
     (PKS) bemüht, ohne zu vergegenwärtigen, dass diese
     eine reine "Verdachtsstatistik" ist, bei der nur
     ein Bruchteil von Ermittlungsverfahren wirklich
     mit einem Urteil endet. Die PKS ist daher
     überhaupt nicht in Lage, eine wirkliche
     gesellschaftliche Problemlage zu erfassen, sondern
     drückt allenfalls aus, in welchem Umfang darauf
     mit dem Etikett,Kriminalität` und den Instanzen
     Polizei und Justiz reagiert wird.
 

Als Gegenbild zu dieser statistischen "Sicherheit" wird gern das "subjektive Sicherheitsempfinden" bemüht, welches sich aber gleichfalls ein Konstrukt erweist, denn es beruht weniger auf konkreten Straftaten, als vielmehr auf der Angst davor. In einer Spirale der Furchtvermarktung zwischen Medien, Politik, Polizei (auch die private Sicherheitsindustrie mischt kräftig mit) werden diejenigen Unsicherheiten bzw. regelrechte Sicherheitspaniken erst erzeugt, die sodann zur Bekämpfung anstehen.

4. In dem Maße, wie diese Sicherheitsdebatte alle
     anderen Themen durchdringt und z.T. dominiert,
     rückt auch deren (aus den USA importiertes)
     Kernstück: "Zero Tolerance" in den Mittelpunkt.
     Indem der hier vertretene "broken-windows"-Gedanke
     jegliche Unordnung (disorder) als Vorform und
     Prädiktor von möglicher Kriminalität sieht, geht
     es nicht mehr um faktische
     Gesetzesüberschreitungen, sondern um Ordnung,
     Disziplin und Sauberkeit.

Dieser Sachverhalt ist besonders für Jugendliche von Belang. Denn über sie wird gegenwärtig vornehmlich im Tenor der Krise debattiert: Jugendliche sind demnach entweder gefährlich oder gefährdet - tertium non datur. Dabei wird ignoriert, dass Grenzüberschreitung und Provokation entwicklungstypische Realitätsproben für Jugendliche darstellen, in denen sie etwas über die Gesellschaft lernen, indem sie deren Regeln - vorzugsweise spielerisch - übertreten. Inmitten der anwachsenden Sicherheitsdebatte läuft vieles darauf hinaus, den Eigensinn und die Kreativität Jugendlicher, die letzten noch verbliebenen Entfaltungsräume im Keim (also: präventiv) zu ersticken - oder pädagogisch zu vereinnahmen.

 Wo Jugendliche vornehmlich als bedrohliche Meute
 wahrgenommen werden, gilt eine Ansammlung
 Jugendlicher - entgegen allen Erkenntnissen der
 Jugendforschung - nicht mehr als eine produktive
 Form des Umgangs miteinander, sondern als
 bedrohliche Bande: Stehen Jugendliche zusammen,
 erzeugen sie als "Zusammenrottung" Angst und
 Bedenken - tun sie das nicht trifft sie die
 Diagnose der Isolation, Vereinsamung oder
 Lebensuntüchtigkeit. Beide Varianten rufen
 alsbald Pädagogen auf den Plan. Entziehen sich
 Jugendliche aber deren fürsorglichen Belagerungen,
 wird dies nicht etwa als Signal aufgefasst, auch
 einmal eigene Wege gehen zu wollen und unbehelligt
 zu bleiben. Vielmehr steigen die Pädagogen dann -
 Stichwort: aufsuchende Jugendarbeit - den
 Jugendlichen weiter nach, um auch deren letzte
 Rückzugsräume noch zu besetzen - rein präventiv.

5. Am deutlichsten offenbaren sich die oben
     dargestellten Entwicklungen in bundesdeutschen
     Städten unter dem Zeichen der 3 "S": Sauberkeit.
     Sicherheit, Service. Um potentielle Investoren
     anzulocken, bemühen sich die Städte, "Sicherheit"
     als Standort- und Imagefaktor für die anzuwerbende
     Dienstleistungswirtschaft herauszustellen.
     Entsprechend stehen Strategien des Scheins im
     Vordergrund: das Sauberhalten der sog. städtischen
     "Visitenkarten" oder vielfältige Inszenierungen
     des City-Marketing. Und auch hier stören
     Jugendliche; denn sofern sie nicht am Konsum
     teilnehmen, könnten sie ja die Atmosphäre
     geregelten Kaufens durcheinander bringen oder
     Passanten durch ihre Anwesenheit irritieren. In
     manchen Einkaufszentren dürfen sich Jugendliche
     deshalb nur in Begleitung von
     Erziehungsberechtigten aufhalten, in anderen ist
     Personen unter 18 Jahren der Zugang generell
     untersagt.

Jugendarbeit im Kontext der Sicherheitsdebatte
Neben den Jugendlichen selbst gerät auch die Jugendarbeit in den Sog der Sicherheits- bzw. Präventionsdebatte, wo im Rahmen der zuvor skizzierten Entwicklungen der allfällige Aufstieg von äußerst mannigfaltigen Arbeitskreisen, Ausschüssen, Kommissionen und Gremien zu beobachten ist, die im Zeichen von Sicherheit und Prävention agieren: (kriminal)präventive Räte, Sicherheitspartnerschaften, ämterübergreifende Kooperationen, deliktbezogene und tätergruppenorientierte Projekte, die allesamt einsickern in Jugend- und Schulsozialarbeit, Gemeinwesenarbeit, Nachbarschaftsbelebungen und Wohnumfeldverbesserungen. Vor diesem Hintergrund wird der Präventionsgedanke im folgenden auf Paradoxien, Selektivitäten und Unverträglichkeiten hin überprüft.

1. Paradoxien
Da Prävention naturgemäß weder breit genug noch früh genug ansetzen kann, bereitet der Umgang mit dem Präventionsbegriff Verlegenheiten, wo Prävention den Vorgriff auf mögliche zukünftige Entwicklungen beansprucht. Im Durch- und Nebeneinander von nicht weniger als fünf unterschiedlichen Präventionsbegriffen (primär, sekundär, tertiär, strukturbezogen, personenbezogen), von Gewalt-, Drogen-, Aids-, Konsum-, Verkehrs-, Gesundheits-, sexueller Missbrauchs- und weiterer Präventionen besteht eher die Gefahr, sich in einer nebulösen Präventionsrhetorik zu verlieren. Hier kann jede Aktivität, beispielsweise auch Kickern und Kaffeetrinken mit Jugendlichen als Prävention deklariert werden - schließlich können sie während dieser Zeit weder sich noch anderen schaden oder sonstwelchen Unfug anstellen.
 

Eine zweite Paradoxie tut sich auf, wo jegliche Form der Devianz unter präventiven Aspekten bekämpft wird und nicht mehr unterscheidbar ist, ob es sich um eine,produktive` oder eine,negative` Abweichung von der Norm handelt. Zum einen verschleißen Grenzverstöße rasch - was gestern ein Tabubruch war ist heute biedere Konvention. Auf der anderen Seite gilt gerade Subversion als letzte Produktivkraft einer heute alles durchdringenden Popindustrie. Wird Normabweichung auf der einen Seite präventiv bekämpft, so wird jugendliches Aufbegehren auf der anderen Seite von der Industrie gesponsort, befördert und miterzeugt; wie im Spiel von Hase und Igel wird jeder Regelverstoß einverleibt, homogenisiert, entschärft, vermarktet.

Eine dritte Paradoxie ergibt sich, wo Jugendarbeit vorschnell auf die Präventionskonjunktur anspringt und diese aufgreift in der Hoffnung, die eigene Legitimation zu stärken. Auch hier aktualisieren sich vertraute Traditionen: Einerseits wird jedes gesellschaftliche "Problem"-Thema dankbar aufgegriffen und sich im Gefolge an dessen Dramatisierung beteiligt, zugleich präsentiert man sich selbst als Retter aus der Not - und hat diese Aussage im selben Augenblick unter Verweis auf übergreifende, gesellschaftliche Entwicklungen wieder zu dementieren.

2. Selektivitäten
Prävention konzentriert sich eigentümlicherweise fast ausschließlich auf die Delinquenz von Kindern und Jugendlichen; ähnliche Präventionsbemühungen im Bereich der Erwachsenenkriminalität, etwa bei Steuerhinterziehung, Schwarzarbeit oder Computerdelikten (die bei weitem die höchsten Zuwachsraten aufweist) wird man vergeblich finden. Denn diese Delikte sind im Alltag kaum greifbar; die Taten von Kindern und Jugendlichen hingegen sind in aller Regel sichtbar, erzeugen also (im Gegensatz zu z.B. Umweltverschmutzung, Arbeitslosigkeit und Subventionsbetrug) bereits über die Wahrnehmbarkeit einen spezifischen Aktualitäts- und Handlungsdruck.

Zudem verfügen Kinder und Jugendliche über die geringsten Mobilitätsressourcen und sind daher im lokalen Raum am ehesten dingfest zu machen. Dieser lokaler Bezug und das Kriterium der Sichtbarkeit prädestinieren sie sozusagen dafür, dass an ihnen die öffentlichen Sicherheitsbedürfnisse beispielhaft exekutiert werden.

Die Fixierung auf Jugendkriminalität als Zeichen der Bösartigkeit und Gemeingefährlichkeit bestimmter Jugendlicher verdeckt darüberhinaus gern den Blick auf Jugendarmut, Schul-, Ausbildungs- und Arbeitsmisere, unzureichende Familienpolitik und der Missachtung jugendlicher Interessens- und Bedarfslagen. Wer sich auf ca. 3-4% aller Jugendlichen konzentriert, erspart es sich, über 12-15%ige Jugendarbeitslosigkeit oder eine bis zu 25%ige Betroffenheit durch Armut zu reden.
 

3. Unverträglichkeiten
Die gegenwärtige Sicherheitsdebatte zeigt ihre Folgen für die Jugendarbeit dort, wo sie sich nicht mehr aus eigenen, fachlichen Zielsetzungen heraus definiert, sondern sich sicherheitspolitisch vereinnahmen lässt. Wo unter dem Vorwand, die "Ängste der Bürger ernst nehmen" zu wollen, eine restriktive Ordnungspolitik durchgesetzt und Jugendarbeit nur noch unter der Zielvorgabe der Kriminalitätsprävention akzeptiert wird, geraten emanzipatorische, demokratische, auf Selbstentfaltung abzielende Inhalte ins Hintertreffen. Pointiert bedeutet dies, dass die Jugendarbeit allmählich ins Polizeipräsidium verlagert wird. Warum die allerorts entstandenen Angebote von Mitternachts-Basketball nicht mehr als originäre, fachlich begründete Angebote der Jugendarbeit verstanden, sondern unter dem Rubrum "Prävention" in Anwesenheit und unter Beteiligung der Polizei durchgeführt werden, warum ein Präventionsrat her muss, um an Schulen pädagogische Zusatzangebote in den Pausen, Schüler- und Elternberatung, Gesprächskreise für Lehrer, Schularbeitenhilfe, gar Fahrradwerkstätten, Kinderzirkus, Präventionspuppenbühnen und Mopedkurse zu installieren, bleibt entzieht sich schlicht jeglicher Nachvollziehbarkeit. Unter einem derartigen Perspektivwandel ist es keineswegs abwegig, dass sämtliche Aktivitäten der Jugendarbeit künftig zunächst einmal ihre Präventionstauglichkeit nachzuweisen haben; zugleich erweckt - ohne Rauch kein Feuer! - jede neue Projekt in der Jugendarbeit die Vermutung, auf die Verhütung irgendwelcher Kriminalität gerichtet zu sein, was wiederum impliziert, dass es für Präventionsaktivitätern auch einen Anlass geben muss.

Wo sich die Jugendarbeit an den o.g. Gremien beteiligt, ist die eigene Rolle zumindest sorgfältig und kritisch zu reflektieren. Denn ihre Einbindung für die Belange öffentlicher Sicherheit birgt gleichermaßen Probleme der Über- wie der Unterforderung. Überfordert ist die Jugendarbeit durch die Erwartung, dass durch ihr Handeln etwa alsbald eine nachhaltige Kriminalitätsabsenkung erzielt werden könne. Unterfordert hingegen ist sie bei der Hinzuziehung für jedwede Bagatelldelikte oder Fragen der allgemeinen Ordnung. Daher wäre es zunächst entscheidend sich, entgegen der Einbindung in Kontrollstrategien, auf die Maxime einer parteilichen Jugendarbeit zu besinnen, Reglementierungen nicht an den Anfang sondern allenfalls an das Ende aller Bemühungen zu setzen, im Zweifelsfalle auf die Öffnung, nicht auf die Einschränkung von Aktionsräumen und Handlungsfeldern zu dringen, sich für eine kulturelle Belebung und Vielfalt einzusetzen und unangemessenen Ordnungsvorstellungen entgegenzuarbeiten. Die Rückeroberung des öffentlichen Raumes für Jugendliche könnte zudem geschehen durch die Initiierung oder Beteiligung an einer öffentlichen Debatte, in der geklärt wird, welche Sicherheit die Bürger erwarten können, und welche nicht; hier wären durch die Jugendarbeit Diskussionen und Projekte über die Nutzung des gemeinsamen öffentlichen Raumes in Stadtteilen und Quartieren anzuregen. Hier kann die Jugendarbeit ihre Kompetenzen im Sinne einer anderen, weitaus produktiveren Gemeinwesenorientierung einbringen, die als (Re-) Kultivierung des öffentlichen Raumes, über vielfältige Beteiligungsformen Jugendlicher deren Engagement befördert, Kontakte und Mitverantwortung schafft und damit weitaus andere Ergebnisse erzielt, als dies durch Begrenzungen, Einschränkungen, Kontrollen und Reglementierungen erreichbar ist.

(Der Text wurde von der Redaktion gekürzt und ist zuerst in: deutsche jugend 1999, H. 4, Jg. 47, S. 153-162 erschienen.)

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Werner Lindner ist Dezernent im niedersächischen Landesjugendamt, Hannover.