Ein rückschauender Ausblick

(K)ein Frieden in Europa?

von Christine Schweitzer

Angesichts des Krieges in der Ostukraine wird des Öfteren dem Erstaunen darüber Ausdruck verliehen, dass es 'in Europa wieder einen Krieg gebe'. Das Bild Europas als einer Zone des Friedens in einem unfriedlichen Welt hat sich tief in unser Bewusstsein gegraben. FriedensforscherInnen haben versucht, es mit der Theorie des „demokratischen Friedens“ zu untermauern – gemäß dieser These führen Demokratien keine Kriege gegeneinander. Aber ist dieses Bild von Europa eigentlich richtig? Dieser Beitrag will eine kleine Rückschau auf nicht nur friedliche 70 Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs versuchen.

1. Nach dem Ende des 2. Weltkriegs standen sich NATO und Warschauer Pakt in Europa bekanntlich mehr als 40 Jahre militärisch hoch aufgerüstet und bereit zur gegenseitigen Zerstörung gegenüber. Die Krise in der Ukraine hat das Potenzial, einen solchen Weltkrieg wieder wahrscheinlicher werden zu lassen – auf der Seite Russlands wie des Westens wird derzeit aufgerüstet und werden Waffensysteme modernisiert.

2. Das Vorhandensein von Bürgerkriegen wird von der Theorie des demokratischen Friedens nicht erfasst. Bürgerkriege gab und gibt es auch in Europa: In Griechenland herrschte nach Ende des 2. Weltkriegs bis 1949 Bürgerkrieg, in Spanien bis 1950. Der Konflikt in Nordirland, der seit ca. 1969 eskalierte, wurde erst 1998 beendet. Die ETA im Baskenland wurde 1959 gegründet, von 1968 bis 1979 herrschte Bürgerkrieg; erst 2011 erklärte die ETA, ihren bewaffneten Kampf einzustellen. In Zypern gab es drei Kriege – 1955 bis 59 (Dekolonialisierung), 1963-64 und 1974 jeweils unter Beteiligung der „Mutterländer“ Türkei und Griechenland. In Moldawien fand 1992 ein im Westen angesichts der Schlagzeilen aus Jugoslawien nahezu unbeachteter mehrmonatiger bewaffneten Kampf zwischen der Regierung und bewaffneten Kräften der Dnjster-Republik und Kosaken statt.

Die Konflikte im ehemaligen Jugoslawien
Der Zerfall Jugoslawiens ab 1991 in inzwischen sieben unabhängige Staaten ging mit mehreren Wellen massiven Krieges einher, der bis zu 300.000 Menschen das Leben kostete und Millionen zu Vertriebenen und Flüchtlingen machte. Es waren diese Konflikte, die damals in den Medien und Öffentlichkeit zu Recht als der „erste große Krieg in Europa seit 1945“ angesehen wurden.Die Gewalt breitete sich in mehreren Wellen von Westen nach Osten aus: Nach kurzen Zusammenstößen in Slowenien, als die jugoslawische Volksarmee versuchte, im Sommer 1991 die Loslösung Sloweniens aus der jugoslawischen Föderation zu verhindern, folgte von Oktober bis Dezember 1991 ein Krieg in Kroatien, an dessen Ende der Osten des Landes unter serbischer Kontrolle in einer sich selbst ausgerufenen Republik Krajina stand. Der Krieg endete erst und vorläufig, als die UN die Vermittlung übernahm und Blauhelme (UNPROFOR) stationierte. (1995 eroberte Kroatien dann einen Teil der besetzten Gebiete zurück; ein anderer Teil wurde auf friedlichem Wege im Rahmen einer UN-Übergangsverwaltung mit Kroatien wiedervereinigt.) Anfang 1992 wurden Slowenien und Kroatien von der EU als unabhängige Staaten anerkannt; eine Anerkennung Mazedoniens scheiterte am Widerstand Griechenlands.

Kurz danach, im Sommer 1992, begann dann der Krieg in Bosnien-Herzegowina, ausgelöst durch ein von der EU erzwungenes Referendum über die Zukunft der Republik, das den serbischen, kroatischen und muslimischen Bevölkerungsteil in einen drei-Fronten-Konflikt in Stellung brachte. Kroatien und Serbien unterstützen den Krieg auf Seite 'ihrer' Volksgruppe mit Waffen und Soldaten; die internationale Politik und Öffentlichkeit tendierte dazu, (nicht ganz unberechtigt) Belgrad die Hauptschuld an dem Krieg zu geben. Die UN stationierte UNPROFOR-Truppen in Bosnien, die aber den Kämpfen mehr oder weniger hilflos zuschauen mussten und sich auf den Schutz humanitärer Konvois konzentrierten. In diesen Krieg griff gegen Ende die NATO mit Bombardierungen serbischer Stellungen ein. Trotzdem dürfte der 1995 in Dayton ausgehandelte Friedensvertrag, der Bosnien-Herzegowina bis heute zu einem internationalen quasi-Protektorat machte, eher aufgrund eines militärischen Kräftegleichgewichts am Boden, das nach dem Friedensschluss zwischen Kroaten und Muslimen 1994 entstanden war, als durch die NATO-Intervention ermöglicht worden sein.

Wenige Jahre später eskalierte dann die Gewalt im Kosovo. Der Kosovo verlor 1990/91 im Rahmen des neuen serbischen Nationalismus seinen Status als autonome Provinz innerhalb Serbiens. Daraufhin begann ein gut organisierter und in erster Linie auf den Aufbau paralleler Strukturen setzender gewaltfreier Widerstand der kosovo-albanischen Bevölkerung unter Führung von Präsident Rugova. Doch das Gefühl, in Dayton an die serbische Regierung verraten worden zu sein (weil die Sanktionen gegen Serbien gelockert wurden) und Verzweifeln am Status Quo führte ca. 1996/97 zur Bildung einer bewaffneten Aufstandsbewegung, der Kosovo-Befreiungsarmee. Ihr Erstarken wiederum brachte Serbien 1998 dazu, mit massiver militärischer Gewalt im Kosovo vorzugehen – vorübergehend waren bis zu 400.000 Menschen auf der Flucht. Ein im Herbst geschlossener und von der OSZE überwachter Waffenstillstand wurde Anfang 1999 brüchig. Verhandlungen unter Führung einer internationalen Vermittlergruppe scheiterten und im März 1999 griff die NATO, die bereits im Herbst 1998 eine Aktivierungsorder erlassen hatte, ohne UN-Mandat ein. Das Ergebnis ist bekannt: bis zu 15.000 Tote, fast eine Million AlbanerInnen auf der Flucht, nach Kriegsende dann Flucht eines Großteils der serbischen Minderheit. Wie Bosnien wurde der Kosovo ein internationales Protektorat (jetzt mit UN-Mandat), bis er 2008 von vielen Staaten, wenngleich bis heute nicht von Russland, als unabhängiger Staat anerkannt wurde.

2001 und 2004 kam es zu Gewaltausbrüchen in Mazedonien und erneut dem Kosovo, die aber im Vergleich zu den 'großen' Kriegen in Kroatien, Bosnien und Kosovo nur wenige Opfer kosteten und schnell befriedet werden konnten. Aber bis heute ist die gesamte Region zwischen Bosnien und Mazedonien als instabil anzusehen und neue Gewalt ist nicht auszuschließen.

Unterdrückung und Aufstand
3. Längst nicht alle Länder in Europa waren oder sind echte Demokratien. Die Zulassung und Nicht-Behinderung wirklicher Oppositionsparteien, freie, faire und geheime Wahlen, ein Parlament, dass tatsächlich die Gesetze macht und sie nicht nur durchwinkt, usw. - das alles war und ist in ein paar Ländern auch heute noch in Europa keine generelle Selbstverständlichkeit. Und damit soll auch keineswegs nur an die Länder des Ostblocks vor 1989 gedacht werden. In Griechenland gab es zwischen 1967 und 1974 eine Militärdiktatur.Sie brach zusammen, als das griechische Militär sich weigerte, den Befehl zu einer Generalmobilmachung wegen des Konfliktes mit der Türkei in Zypern zu befolgen. In Portugal wurde die Diktatur von Caetano 1974 aus Ärger gegen die Kolonialkriege Portugals, mit denen es versuchte, seine Kolonien (vor allem Mosambik und Angola) zu bewahren, in der „Nelkenrevolution“ von Armeeangehörigen und Bevölkerung gestürzt. Der Übergang Spaniens vom Franco-Regime in eine Demokratie erfolgte erst nach dem Tode General Francos 1975 über mehrere Jahre bis 1982.

Aufstände gegen autoritäre Regimes gab es in Europa eine ganze Reihe: Der Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR ist bis heute unvergessen. In Ungarn gab es einen vergleichbaren Aufstand im Oktober-November 1956. In Prag verhinderten Truppen des Warschauer Pakts 1968 eine vorsichtige Demokratisierung, die die Regierung unter Dubcek eingeleitet hatte. Die Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc sorgte 1980 in Polen für viel Unruhe. 1989 wurden dann innerhalb weniger Monate in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und der DDR die sozialistischen Regimes beseitigt. In Rumänien verlief anders als im Rest des Ostblocks der Umsturz nicht friedlich: die Regierung von Ceaucescu wurde in einem kurzen 10-tägigen Bürgerkrieg Ende 1989 gestürzt.

Auch nach 1989 gab es eine Reihe gewaltloser Aufstände, die sog. Revolutionen der Farben, in den Transitionsländern Osteuropas: Den Anfang machte Serbien 2000, danach folgten Georgien (2003) und die Ukraine (2004). Der europäische Teil der Occupy-Bewegung und die spanischen „Indignados“ sorgten teilweise 2008/2009 für Situationen, die denen der genannten Aufstände vergleichbar waren. Der jüngste Aufstand in der Ukraine 2013/14 („Euromaidan“) hat bekanntlich zu Bürgerkrieg und der heutigen Situation der Konfrontation mit Russland geführt.

Von Europa geht Unfrieden aus
4. Demokratische Staaten mögen darauf verzichten, sich gegenseitig anzugreifen – diese Zurückhaltung gilt aber nicht für Drittstaaten. Afghanistan seit 2001, Irak seit 2003 und allgemein der „Krieg gegen den Terror“ stehen an erster Stelle, was die Größe und die Folgen der Kriege nach 1989 angeht, die auch von europäischen Staaten ausgingen. Aber sie sind bei weitem nicht die einzigen: Die Spur der Kriege, an denen europäische Länder mit Truppen direkt beteiligt waren, führt von Korea bis Libyen und von Falkland bis Mali. Wenn man dazu die sog. Stellvertreterkriege aus den Jahrzehnten vor 1989 nimmt, bei denen Armeen und Aufständische mit Waffen, Know-How und Geld ausgestattet wurden, ist das Bild eines friedlichen Europas wohl endgültig und nachhaltig demontiert.

5. Last not least: Es gibt Kriege, die gar nicht so genannt werden, obwohl die Opferzahl die mancher herkömmlicher Kriege weit übersteigt – Kriege, deren Opfer mehr durch Unterlassung von Hilfe als direkt durch Waffen sterben. Und dabei ist auch nicht nur an die Zehntausende im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge gedacht. Wie viele Millionen sind durch Hungersnöte gestorben, weil eine europäische „Entwicklungspolitik“ Bauern ihren Lebensunterhalt nahm? Wie viele durch Epidemien und Krankheiten, die behandelt werden könnten, wenn die freie Marktwirtschaft Europas nicht zuließe, dass Pharmakonzerne die rettenden Medikamente nur an die verkaufen, die sie sich leisten können?

Fazit
Europa, ein friedlicher Kontinent? Die Friedensleistung Europas in den letzten siebzig Jahren ist, etliche jahrhundertealte Feindschaften so nachhaltig zu begraben, dass ihr Wiederaufleben in Form militärischer Gewalt undenkbar scheint. Das gilt nicht nur für das Verhältnis von Deutschland zu seinen Nachbarn, sondern auch für das französisch-britische, für das spanisch-französische und für österreichische Verhältnis zu seinen Nachbarn, um nur einige Konfliktlinien der vergangenen Jahrhunderte zu benennen. Das ist der demokratische Frieden. Aber er schließt weder Bürgerkriege in Europa aus noch Krieg mit Drittstaaten und nicht-staatlichen Akteuren dort noch Formen von Massenmord durch Ausbeutung und Versagen von Hilfe. Europa mag trotz des Westbalkans und der Ukraine friedlicher sein als andere Kontinente - aber von ihm geht Unfrieden aus, auch schon ohne die neue sich abzeichnende Gefahr einer Konfrontation mit Russland.

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.