Minsk II

Kein starker Vertrag

von Karl Grobe

Ein starker Vertrag – dessen Durchsetzung erzwingbar wäre – ist Minsk II von Anfang an nicht gewesen. Das hatten weder Gastgeber Aljaksandr Lukaschenka, der Präsident von Belarus, noch die vier verhandelnden Spitzenpolitiker und zwei Separatistenführer erwartet. Maßnahmen zur Deeskalation wurden am 12. Februar 2015 beschlossen und einen Tag darauf vom UN-Sicherheitsrat wohlwollend zur Kenntnis genommen. Mehr war nicht zu erreichen angesichts des Misstrauens, das François Hollande und Angela Merkel als RepräsentantInnen der EU und Petro Poroschenko, Ukraine-Präsident, gegen Russlands Staatschef Wladimir Putin hegten und dieser gegen die VertreterInnen des Westens. Und ob die Donbass-Separatisten Alexander Sachartschuk und Igor Plotnitzki sich auf Waffenruhe, Abzug schweren Geräts, Zulassung von Vertrags-ÜberwacherInnen der OSZE und anderes einlassen würden – oder ob die vermuteten Moskauer Drahtzieher sie dazu veranlassen würden –, war ungewiss.

Es wurde um den Bahnknotenpunkt Debalzewe noch gekämpft. Dabei stellte sich die militärische Schwäche der Ukraine heraus. Folglich wirbt der ukrainische Präsident seitdem um mehr Geld für mehr Waffen und mehr Rekruten. Deeskalation ist das nicht, aus der Sicht Poroschenkos aber so gut wie unvermeidlich. Im Donbass ruhten die Waffen auch fünf Monate nach dem Minsker Treffen nicht; die Außenminister der vier beteiligten Staaten sahen sich Ende Juni noch einmal veranlasst, öffentlich einen lokalen Waffenstillstand (diesmal am Stadtrand von Mariupol) zu wünschen. Die OSZE hatte berichtet, dass an der Front zwischen Separatisten und ukrainischer Truppen Schützengräben ausgehoben, Brücken gesprengt und Minenfelder angelegt würden.

Bisher ist insgesamt keine Bewegung erkennbar, die einem Wegweiser in Richtung „Vertrauensbildung“ folgt. Die jüngsten Maßnahmen der USA bewirken das Gegenteil. Zwar war Washington in Minsk nicht vertreten, Pentagon-Chef Ashton Carter mischt aber kräftig mit, NATO-Kommandeur Philip Breedlove ebenso. Die Ende Juni angekündigte Stationierung von Panzern und Artillerie in Osteuropa – relativ neuem Nato-Territorium –, freilich (noch?) nicht in der Ukraine, mag eine „vorübergehende Maßnahme“ (Carter) sein, aber die Verschiebung von schwerem Militärgerät in die Nato-Staaten Mittel- und Osteuropas eskaliert. Es geht immerhin um Ausrüstung für eine Kampfbrigade, also für mehrere Tausend Soldaten, und 250 Panzer, bewaffnete Fahrzeuge und Artillerie, die „beweglich“ sein sollen. Das passt – in russischen Augen – zu der Einrichtung neuer NATO-Stützpunkte unter anderem in den baltischen Staaten. Beides wird ausdrücklich damit begründet, dass es zur Stärkung der Sicherheit der Ukraine diene und somit unvermeidlich sei. Und beides schaukelt die Spannungen zwischen „West“ und „Ost“ weiter auf, wirkt damit gegen jeden Fortschritt auf der von Minsk II angedeuteten Route.

Weitere „Abschreckungsmaßnahmen“ gegen Russland haben die NATO-Verteidigungsminister Ende Juni in Brüssel beschlossen: Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg kündigte die Verdoppelung der Stärke der schnellen Eingreiftruppe auf 30.000 bis 40.000 Soldaten an. Kern der Truppe ist die 5.000 bis 7.000 Soldaten starke „Speerspitze“ – derzeit von Deutschland geführt –, zu der Einheiten von Marine, Luftwaffe und Spezialkräften kommen. Abschreckung oder Drohung?

Diese Eskalation hat sich in den Monaten nach der Minsker Konferenz abgespielt. Sie reicht über den Konflikt in der Ost-Ukraine hinaus, sie bringt Akteure ins militärische Sandkastenspiel – die NATO und damit die USA –, die mit dem Anlass und den Ursachen der inzwischen kontinentalen Konfrontation gar nichts zu tun hatten.

Der Aufstand im Donezbecken hat weder weltpolitische noch partikularistische Hintergründe. Er brach aus und wurde zur Massenerscheinung in den Bezirken Donezk und Luhansk, nachdem eine nicht sehr kluge und zudem tölpelhaft vermittelte Entscheidung über die ukrainische Sprachenpolitik einen größeren Satz politischer und sozialer Frustrationen, materiellen Absturzes und vermuteter kultureller Erniedrigung lichterloh aufflammen ließ. Es ist die Geschichte vom Absturz einer ganzen Region.

Das weite Gebiet zwischen dem Schwarzen Meer und der landwirtschaftlich hoch wichtigen Schwarzerde-Zone ist erst vor etwas mehr als 200 Jahren permanent besiedelt worden, vorher war diese Steppenregion durch Jahrhunderte Durchzugsgebiet nomadisierender – und kampffreudiger – Völker auf Ost-West-Wanderung: Hunnen, Ungarn, Mongolen, um nur einige zu nennen. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurde es von dem Chanat der Krimtataren (und mehr oder weniger indirekt vom Osmanischen Reich) beherrscht, im weitestem Zusammenhang also noch von den politischen Erben nomadisierender Eroberer. Der militärische Sieg Russlands unter Katharina II. zog das Werben der Zarin und ihrer Nachfolger um Siedler nach sich. Es kamen russische ehemals leibeigene Bauern, daneben auch Deutsche, Griechen, Bulgaren; anders als in der übrigen Ukraine war die Bevölkerung multireligiös und überwiegend russischsprachig. Aber sie war eben nicht nationalbewusst-russisch. Sie hatte die Perspektive auf eine etwas freiere Gesellschaft. Besonders in den neuen Städten wie Odessa, wo sich neben einem bitter armen jüdischen Proletariat eine jüdische Hochkultur herausbildete.

Nachdem am unteren Donez die reichen Kohlevorkommen entdeckt waren und erschlossen wurden, folgte eine weitere Einwanderungswelle: Russische Pioniere der Industrialisierung, europäisches Kapital. Das Donezbecken (das Donbass) wurde um 1900 zum Zentrum des sich modernisierenden Zarenreichs, es war in der frühen Sowjetunion sprichwörtlich das Herz der sozialistischen Wirtschaft. Die Provinz der heldenhaften Bergarbeiter. Der Fleck Erde, auf dem Häuer Alexej Stachanow 1935 in einer Schicht angeblich 102 Tonnen Steinkohle förderte. Das Industriegebiet, das nach der totalen Verwüstung durch den deutschen Angriff im Stachanow-Rekordtempo wieder aufgebaut wurde. Darauf baute die Sowjetpropaganda so viel Lokalstolz auf, wie das System ertragen konnte.

Mit der Verlagerung der Energiepolitik auf Öl und Gas, wovon Russland reichlich hat, geriet das Donezbecken allmählich ins Hintertreffen. Es wurde kaum mehr in die Gruben investiert; um 1980 galten sie als die unfallträchtigsten in Europa. Den interessierten Funktionären, von denen einige bald nach der Wende zu Oligarchen wurden, fiel es nicht schwer, das ferne „Moskau“ für alle ökonomischen Gebrechen zur Verantwortung zu ziehen. So gewannen beim Referendum die BefürworterInnen der Unabhängigkeit am 1.12.1991 auch im Donbass eine überwältigende Mehrheit (landesweit 92, in Donezk und Luhansk 83 Prozent). Streiks, die an Härte zunahmen, richteten sich gegen die ferne Zentrale statt gegen die nahen Unternehmer. Es gelang den regionalen Oligarchen, welche seit 1992 mit allen Mitteln der Wirtschaftskriminalität und gelegentlich auch mit ehrlichem Konkurrenzgebaren die Kontrolle über die Donbass-Wirtschaft errungen hatten, den Sozialprotest (gegen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, Reallohnabbau, Verlust des gesellschaftlichen Prestiges und des Selbstwerts) umzuleiten in Lokalpatriotismus, eine Vorstufe des Separatismus.

Der Verlust des ökonomischen Zusammenhangs mit Russland und den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken beschleunigte die wirtschaftliche Talfahrt. Bei weiteren Arbeitskämpfen ging eine Grundströmung nicht mehr „weg von Moskau“, sondern „weg von Kiew“, der nun zuständigen Zentrale. Oligarchen wie Achmetow, Firtasch, Pintschuk nutzten diese Grundwelle, um – auch unter kräftiger Mithilfe durch eingeweihte, eingekaufte oder nichtsahnende Mandatsträger – ihre Interessensphären weiter auszudehnen. Von den Sozialfragen wurde keine beantwortet, vielmehr das Lokalgefühl weiter gestärkt, die ehrlichen und betrogenen ArbeiterInnen des Donbass fütterten „die anderen“ durch. Jene anderen, die Ukrainisch statt Russisch (wenigstens als geläufige Zweitsprache) sprachen, jene Nicht-Städter, über die schon Stalin gespottet hatte – und die er auszuhungern unternommen hatte.

Die Hungersnot der 1930er Jahre ist so sehr im kollektiven ukrainischen Bewusstsein verwurzelt, dass schon dies einem eindimensionalen Anschlussdenken an Russland entgegenwirkt. Solidarität mit den „galizischen Faschisten“ verbietet sich aufgrund ganz unterschiedlicher historischer Erfahrungen. Der in Lwiw, Ternopil und Iwano-Frankiwsk betriebene Heroenkult um Stepan Bandera und seine Guerilla (bis 1956!) diskreditiert im Donbass alle Versuche, die ukrainische Sprache – im Westen hat sie die Monopolstellung – als bevorzugte, gar einzige Staatssprache einzuführen.

Eine tölpelhafte Lesung des Sprachgesetzes unmittelbar nach den Maidan-Tagen, die Viktor Janukowitsch endlich von der Macht und aus dem Land entfernten, zündete den separatistischen Winter 2013/14. Tenor: Einkommen, Renten, Perspektiven und Ansehen haben „sie“ uns genommen – und nun auch noch die russische Umgangssprache? Die Schießereien, an denen sicher der „Rechte Sektor“ und wahrscheinlich Anhänger der rechtsnationalistischen Partei Swoboda aktiv beteiligt waren, trieben die Ost-Ukrainer in den Widerstand gegen „die Faschisten“ und das Donbass in den Separatismus. Wieder verschwand der soziale Protest des Maidan hinter den ins Ohr gehenden Parolen.

Separatismus – aber kein Anschluss an Russland. Wer darauf gesetzt hatte, verlor. Die durch ein sonderbares Referendum überlackierte Annexion der Krim durch Russland war so wenig ein Modell für Donezk und Luhansk, dass Putin selber seine vorbereitende Intrige später öffentlich machte.

Von den „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk ist jetzt weniger die Rede, von Anschlüssen erst recht nicht. Geblieben sind Regionen ohne Perspektive, von bewaffneten Desperados kontrolliert, von der Staatsmacht augenscheinlich nicht rückholbar. An diesen Gegebenheiten ist Minsk II zerbrochen, ehe das Papier vereinbart war. Eine Kompromisslösung – anderes ist ohnehin undenkbar –, die der Region und ihren Bewohner nicht mehr bietet als die Aussicht auf Abzug schweren Geräts und Gefangenenaustausch, wird auch künftig scheitern. Eine Lösung, die nicht auf Föderalisierung beruht, ebenso. Minsk II weist leider nur zaghaft in die Richtung.

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Journalist und Historiker, war Außenpolitik-Redakteur der Frankfurter Rundschau.