Skandalentscheidung des BGH

Keine Entschädigung für die Opfer von Varvarin

von Eckart Spoo
Hintergrund
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Ich will nicht drum herum reden, Soldaten sind Mörder - Kurt Tucholsky hat einst in der Weltbühne darüber aufgeklärt, dass diese Erkenntnis schon aus dem Altertum stammt und im Lauf der Jahrhunderte immer wieder von verständigen Menschen ausgesprochen worden ist.
Aber wer macht 18jährige Rekruten zu Mördern? Wer führt sie in den Krieg? Wer gibt ihnen immer mörderischere Waffen in die Hand? Wer Lässt Bundeswehr-Soldaten mit US-amerikanischen Atomwaffen hantieren, die auf deutschem Boden einsatzbereit gehalten werden? Wer hetzt zum militärischen Überfall auf Länder und Völker, von denen keinerlei Gewalt gegen die Bundesrepublik ausgeht? Wer rechtfertigt den verfassungs- und völkerrechtlich verbotenen Angriffskrieg?

Wenn Soldaten aus wohlerwogenen Gründen Mörder zu nennen sind - jedenfalls potentielle Mörder-dann dürfen wir den verantwortlichen Kriegstreibern und Kommandeuren die Kennzeichnung als Massenmörder nicht vorenthalten.

Oder warum sollen wir, wenn es zum Beispiel um George W. Bush geht, der sich als Gouverneur von Texas dadurch für das Amt des US-Präsidenten empfahl, dass er weit über hundert Todesurteile · voll¬strecken ließ, und inzwischen für den Tod hunderttausender Menschen im Irak verantwortlich ist (unter ihnen annähernd 3000 US-Soldaten), vornehm, nein schäbig drum herum reden?

Seit dem 2. November denke ich über die Richter des IIL Zivilsenats des Bundesqerichtshofs nach. Sie haben die Klage von 35 Überlebenden und Hinterbliebenen des NATO-Luftangriffs vom Pfingstsonntag 1999 auf die Brücke von Varvarin abgewiesen. In einer Mitteilung für die Presse nennen sie als Hauptgrund: ,,Ein Schadensersatzanspruch der Kläger gegen die Bundesrepublik Deutschland auf einer völkerrechtlichen Grundlage scheidet schon deshalb aus, weil im Falle von Verletzungen des Kriegsvölkerrechts etwaige völkerrechtliche Wiedergutmachungsansprüche gegen den verantwortlichen fremden Staat nicht einzelnen geschädigten Personen, sondern nur deren Heimatstaat zustehen."

Also im konkreten Fall dem Staat, dem führende deutsche Politiker das Existenzrecht abgesprochen hatten und der infolge des zwischen dem damaligen US-Präsidenten Clinton und dem eben ins Amt gewählten deutschen Kanzler Schröder vereinbarten Angriffskriegs heute nicht mehr besteht. Wehe den jetzt von NATO- und namentlich von Deutschlands Gnaden auf dem Balkan Regierenden, wenn sie es etwa wagen würden, Ansprüche gegen die Sieger zu erheben.

Ausdrücklich knüpft der Bundesgerichtshof an seine Distomo-Entscheidung an, mit der er Entschädigungsforderungen der Überlebenden und Hinterbliebenen eines Wehrmachtsmassakers in Griechenland zurückgewiesen hatte: Die völkerrechtliche Lage habe sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht geändert. Und ausdrücklich lässt der BGH offen, ob das deutsche Amthaftungsrecht überhaupt zulässt, dass die Bundesrepublik für etwaige Kriegsverbrechen ihrer Soldaten haftet. Nach Nazi-Recht haftete Deutschland nicht.

Die Kläger hatten der BRD unter anderem vorgeworfen, dass deutsche Dienststellen an der Auswahl der Brücke von Varvarin als militärisches Ziel mitgewirkt und den Angriff mit ihren „Tornados“ durch Aufklärung, Begleitschutz und Luftraumschutz unterstützt hätten. Dagegen argumentiert der BGH wie zuvor das Oberlandesgericht Köln, dass den militärischen Dienststellen bei ihren Entscheidungen für eine militärische Operation oder im Rahmen derselben ein umfangreicher, gerichtlich nicht nachprüfbarer, Beurteilungsspielraum zusteht. Es ist nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht diesen Beurteilungsspielraum erst bei völliger Unvertretbarkeit oder eindeutiger Völkerrechtswidrigkeit der betreffenden militärischen Entscheidung als überschritten ansieht. Das Berufungsgericht hat in rechtsfehlerfreier tatrichterlicher Würdigung angenommen, dass diese Schwelle im Zusammenhang mit der von den Klägern behaupteten Billigung der Aufnahme der Brücke von Varvarin in die Zielliste der NATO-Operationen durch die Beklagte nicht überschritten worden ist. Diese tatrichterliche Würdigung lag schon deshalb nahe, weil zu den militärischen Zielen traditionell unter anderem die Infrastruktur wie Straßen, Eisenbahnen, Brücken, Fernmeldeeinrichtungen gezählt wird. Das konnte für eine Aufnahme in die Zielliste ausreichen.“

Indem der Bundesgerichtshof dem kriegsführenden Staat einen dermaßen weiten Beurteilungsspielraum zuspricht, wischt er alles beiseite, was die KlägerInnen vorgetragen hatten, um klar zu machen, dass bei dem Angriff gegen zentrale Bestimmungen des Völkerrechts zum Schutz der Zivilbevölkerung verstoßen wurde. Denn i Varvarin und in weitem Umkreis gab es kein einziges militärisches Ziel. Die Brücke dient keinem militärischen Zweck. Wegen ihrer einfachen Bauart war sie dafür auch gar nicht geeignet.

Mit den Worten, dass schon Straßen „traditionell“ zu den militärischen Zielen gehören, stellten die Bundesrichter dem Militär einen Freibrief aus: Wenn ale Straßen erlaubte Ziele sind, wird die gesamte Zivilbevölkerung zum Ziel. Genau das Gegenteil fordert die Genfer Konvention im entsprechenden Zusatzprotokoll in mehr als 30 Artikeln: Zivilisten sollen verschont bleiben, Kriegshandlungen dürfen sich nur gegen militärische Ziele richten.
Für abgewiesene Kläger im Fall Varvarin bedeutet der Ausgang des Revisionsverfahrens, dass sie beziehungsweise das Berliner Ehepaar Kampffmeyer, das den- durch den Krieg verarmten- Opfern mit einem Teil seiner Habe geholfen hatte, den Rechtsweg (sollen wir ihn noch so nennen) zu beschreiten, nun viele Zigtausende Euro für Verfahrenskosten aufwenden müssen. Auch für Verfahrenskosten der deutschen Seite.

Welche anderen Opfer deutscher Kriegsführung werden unter diesen Umständen noch wagen, Schadensersatz zu fordern?

Übrigens: Der Angriff auf Varvarin am 30. Mai 1999 war im NATO-Krieg gegen Jugoslawien nicht etwa ein Einzelfall. Zum Beispiel wurden am 29. ai, dem Pfingstsamstag, in Cupria Wohnhäuser und Läden zerstört und 20 Personen verletzt. In Cenovac wurde eine Brücke über die Jablanica zerbombt, ein Vater und sein Sohn getötet, eine. Frau schwer verletzt. Am Morgen  des 30. Mai wurden in Brvenik Einfamilienhäuser und der Friedhof zerbombt. In der Nacht vom 30. zum 31. Mai bombardierte die NATO im Surdulica, südlich von Varvarin, ein Altersheim und Sanatorium für Lungenkranke, Dabei wurden 20 Menschen um gebracht, darunter zwölf Kinder. Am Mai mittags wurden in Novi Pazar durch Bombardierung eines Wohngebietes elf Menschen ermordet und 20 verletzt. Und so weiter.

Von alledem weiß in Deutschland fast niemand. Die tonangebenden deutschen Medien haben während des Krieges und seither einmütig konsequent über die Opfer des Krieges geschwiegen.

Wie sollen wir die dafür Verantwortlichen in den Medien nennen?

Was den Bundesgerichtshof betrifft, werde ich nie vergessen, dass er sich in dem von Rosalinde von Ossietzky-Palm angestrengten Wiederaufnahmeverfahren geweigert hat, das Reichsgerichtsurteil gegen ihren Vater Carl von Ossietzky  aufzuheben- der demnach weiterhin als Verräter zu gelten hat, weil er daran beteiligt war, völkerrechts- und verfassungswidriges Handeln deutscher Militärs aufzudecken. Ein Urteil, das geradewegs in den Faschismus führte.

Wie kann ich ein solches Gericht respektieren?

Aus: Ossietzky 23/ 2006, S. 865-67
 

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Eckart Spoo ist Mitherausgeber der Zweiwochenschrift „Ossietzky“. Er hat früher für die „Frankfurter Rundschau“ gearbeitet. Zuletzt hat er den Sammelband „Tabus der bundesdeutschen Geschichte“ herausgegeben.