„Eine heute noch mögliche“ ethische Option?

Kirchlich-ethische Debatte zu Atomwaffen von den 1980er Jahren bis heute Nukleare Abschreckung

von Ulrich Frey
Schwerpunkt
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Als die Vertreter der Regierungen der Vereinten Nationen am 26.6.1945 in San Francisco die Charta der Vereinten Nationen unterzeichneten, waren die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, die ersten und hoffentlich letzten großen Atomkatastrophen der Menschheit, noch in Vorbereitung. Das Verbot dieser andauernden Geißeln der Menschheit müsste nachträglich in die Charta aufgenommen werden. Bis die Generalversammlung der Vereinten Nationen bei Ablehnung auch von Deutschland - zusammen mit anderen NATO-Staaten - am 7. 7. 2017 die Atomwaffen verbot, setzte es erbitterte ethische Debatten auch in den Kirchen.

Die Wurzel der friedensethischen ökumenischen Debatte auch zu den Atomwaffen ist das Diktum „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“ der Gründungsversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1948. In Deutschland formulierte 1959 zur Zeit des Kalten Krieges und intensiver atomarer Aufrüstung eine Kommission unter Mitwirkung des Physikers Carl Friedrich von Weizsäcker die „Heidelberger Thesen“, die in den westdeutschen protestantischen Kirchen und darüber hinaus breit konsentiert wurden. Zusammengefasst forderten die Thesen dazu auf, „die Zeit der Abschreckung zu nutzen, um die Logik und den Geist der Kriegsführung zu überwinden". Über die ethische Fristenlösung des „noch“ in These VIII wird zumindest in den evangelischen Kirchen bis heute gestritten: „Die Kirche muss die Beteiligung an dem Versuch, durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern, als eine heute noch mögliche christliche Handlungsweise anerkennen.“

Die 1980er Jahre
Die heftige ethische Auseinandersetzung in Europa zu den Atomwaffen in den 1980er Jahren wurde ausgelöst durch den Doppelbeschluss der NATO vom 12.12.1979 zu Raketenaufstellung und Rüstungskontrolle. Hier stand die Friedensbewegung, kirchlich und nicht-kirchlich, zu Beginn gegen die verfassten Kirchen. In ihrer Denkschrift „Frieden wahren, fördern und erneuern“ (1981) begründete die Evangelische Kirche in Deutschland ihre Position: “Die Kirche muss auch heute, 22 Jahre nach den 'Heidelberger Thesen', die Beteiligung an dem Versuch, einen Frieden in Freiheit durch Atomwaffen zu sichern, weiterhin als eine für Christen noch mögliche Handlungsweise anerkennen. ... Allein, diese Handlungsweise ist nur in einem Rahmen ethisch vertretbar, in welchem alle politischen Anstrengungen darauf gerichtet sind, Kriegsursachen zu verringern, Möglichkeiten gewaltfreier Konfliktbewältigung auszubauen und wirksame Schritte zur Senkung des Rüstungsniveaus zu unternehmen.“ (S. 58) Am 3.5.1983 zitierte die Vollversammlung der US-Bischofskonferenz in ihrem Aufsehen erregenden und differenzierenden Pastoralbrief „Die Herausforderung des Friedens: Gottes Verheißung und unsere Antwort“ aus der Botschaft von Papst Johannes Paul II. an die Zweite Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen über Abrüstung, Nr. 8, Juni 1982, zur Abschreckung: „Unter den gegenwärtigen Bedingungen kann eine auf dem Gleichgewicht beruhende Abschreckung – natürlich nicht als ein Ziel an sich, sondern als ein Abschnitt auf dem Weg einer fortschreitenden Abrüstung – noch für moralisch annehmbar gehalten werden.“ (1) Dem schloss sich die Deutsche Bischofskonferenz in ihrem Hirtenwort „Gerechter Friede“ (2000) und in ihrem Wort „Gerechtigkeit schafft Frieden“ vom 18.4.1983 (S. 52) an. Gegen diese gleich gerichteten protestantischen und katholischen Aussagen machte die wachsende Friedensbewegung in der Bundesrepublik mit Sympathien bei den Friedensgruppen und Kirchen in der DDR gegen die „Nachrüstung“ mit Cruise Missile und Pershing II-Raketen mobil. Es begann in Bonn auf der Hofgartenwiese bei der damals größten Kundgebung und Demonstration mit 300.000 Teilnehmenden.  

Entwicklungen in der Ökumene
In der Ökumene entwickelte sich bei der V. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) 1975 in Nairobi in Parallele zur säkularen Entspannungspolitik eine neue Bewegung.  Zentral war die Aufforderung: „Die Kirche sollte ihre Bereitschaft betonen, ohne den Schutz von Waffen zu leben und bedeutsame Initiativen ergreifen, um auf eine wirksame Abrüstung zu drängen.“ Daraufhin entstand in Deutschland u.a. die Initiative „Ohne Rüstung Leben“. Die VI. Vollversammlung des ÖRK 1983 in Vancouver, die den Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung ausrief, verschärfte den Aufruf von Nairobi: „Wir glauben, dass für die Kirchen die Zeit gekommen ist, klar und eindeutig zu erklären, dass sowohl die Herstellung und Stationierung als auch der Einsatz von Atomwaffen ein Verbrechen gegen die Menschheit darstellen und dass solches Vorgehen aus ethischer und theologischer Sicht verurteilt werden muss.“ Gefordert wurde ein „völkerrechtliches Instrument, mit dem sowohl der Besitz als auch der Einsatz von Atomwaffen als Verbrechen gegen die Menschheit geächtet werden kann“. Im Sinne dieses Bekenntnisses machten christliche Friedensgruppen den Deutschen Evangelischen Kirchentag 1983 in Hannover mit Tüchern „Umkehr zum Leben – Die Zeit ist da für ein Nein ohne jedes Ja zu den Massenvernichtungswaffen“ violett. Die Niederländisch-Reformierte Kirche leistete  dazu mit ihrem Pastoralbrief der Generalsynode zur Frage der Kernbewaffnung (November 1980)  geistliche Vorarbeit. Das Moderamen des Reformierten Bundes stellte mit seinem „status confessionis“ und dem „Nein ohne jedes Ja“ zu den Massenvernichtungswaffen 1982 die Bekenntnisfrage. Die sogenannten „historischen Friedenskirchen“ (Mennoniten, Brethren, Quaker) lehnen Atomwaffen ab, ebenso die Partnerkirche einiger evangelischer Landeskirchen, die United Church of Christ (UCC) in den USA in ihrem „Pronouncement on Affirming the UCC as a Just Peace Church“ 1985.

Die Vollversammlungen des ÖRK in Canberra (1991), Harare (1998), Porto Alegre (2006) und Busan (2013) bestätigten die in Vancouver 1983 vorgegebene Richtung zu Krieg und Frieden, zu Gewalt und Gewaltlosigkeit sowie zu den Massenvernichtungswaffen, ebenso die großen Ökumenischen Versammlungen in Basel (1989), Seoul (1990), Graz (1997), in Stuttgart (1988) und Dresden-Magdeburg-Dresden (1988/1989). Die Forderungen der Friedensbewegung wurden in Washington und Moskau gehört. Sie trugen dazu bei, dass die Präsidenten Reagan (USA) und Gorbatschow (Sowjetunion) 1987 in Reykjavik mit dem INF-Vertrag (Intermediate Nuclear Forces) die Vernichtung und das Produktionsverbot ihrer atomar bestückbaren, landgestützten Flugkörper mit Reichweiten von 500 bis 5500 km und ihrer Trägersysteme beschlossen. Das war ein Abrüstungsvertrag von großer Tragweite. Er wurde zum weltweiten Schaden am 20.10.2018 von den USA gekündigt.  

Leitbild des gerechten Friedens
Das von der ökumenischen Bewegung entwickelte Leitbild des gerechten Friedens wirkte sich auch auf die evangelischen Kirchen in Deutschland aus. Die Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ (2007) widerrief die Position der EKD von 1981. Unter dem Eindruck der drastischen Verringerung der Atom-Sprengköpfe nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes erklärte der Rat der EKD,  die „Tauglichkeit der Strategie der nuklearen Abschreckung ist jedoch in der Gegenwart überhaupt fraglich geworden. Aus der Sicht evangelischer Friedensethik kann die Drohung mit Nuklearwaffen heute nicht mehr als Mittel legitimer Selbstverteidigung betrachtet werden.“ Umstritten aber blieb, „welche politischen und strategischen Folgerungen aus dieser gemeinsam getragenen friedensethischen Einsicht“ zu ziehen seien. Eine Argumentation hielt die „vollständige nukleare Abrüstung“ für friedensethisch geboten. Denn die „politische Funktion von Nuklearwaffen“ führe in einen „Teufelskreis wechselseitiger Bedrohungsvorstellungen“. Das gefährde die Abrüstungsverpflichtungen aus dem NPT-Regelwerk. Die GegnerInnen dieser Position meinten dagegen, Atomwaffen könnten nicht „wegerfunden“ werden. Die Abschreckung müsse also im Sinne einer „Abhaltung“ durch nukleare Waffen als „politische und nicht als Kriegsführungswaffen“ weiter gelten.

Ökumene-weit ist nach der X. Vollversammlung des ÖRK in Busan 2013 eine Diskussion um das Ziel entstanden, „Kirche des gerechten Friedens“ zu werden. Dazu gehört inhaltlich die Ansprache von Papst Franziskus am 10.11.2017 bei einem Symposium zum Thema Abrüstung. Er erklärte in Aufnahme der Impulse aus der Enzyklika „Pacem in terris“ (1963) und dem II. Vatikanischen Konzil (Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 7.12.1965), nicht nur die Anwendung von Atomwaffen, sondern bereits die Androhung sowie ihr Besitz seien entschieden zu verurteilen. Damit ist auch die Frist zur Abrüstung, die frühere katholische Lehrschreiben (siehe oben) einräumten, aus Sicht des Papstes abgelaufen. Die Deutsche Kommission Justitia et Pax fordert in ihrem Positionspapier „Die Ächtung der Atomwaffen als Beginn nuklearer Abrüstung“ (Juli 2019) im Anschluss an Papst Franziskus die Ächtung der Atomwaffen. Die bedingte Zustimmung zum Besitz von Atomwaffen sei ethisch nicht mehr zu rechtfertigen. Neues kommt auch von der russisch-orthodoxen Kirche aus Russland: Sie will nach dem Bericht der britischen Zeitung „Telegraph“ über eine Mitteilung des Vizekanzlers des Moskauer Patriarchats Savva Tutunov zwar noch Soldaten und die von ihnen getragenen Waffen, aber keine Waffen alleine und keine Massenvernichtungswaffen mehr segnen (2).

In der EKD lebt der in der Friedensdenkschrift 2007 dokumentierte Streit um die nukleare Abschreckung wieder auf. Bei der Synode der EKD im November 2019 in Dresden zum Thema „Frieden“ müssen sich die Synodalen zur Frage „Nukleare Abschreckung – 'eine heute noch mögliche' ethische Option?“ zwischen zwei Positionen entscheiden. Eine Position unterscheidet zur nuklearen Abrüstung zwischen Glaubenshoffnung und realpolitischer Umsetzung: Weil Frieden ein Prozess ist, müsse das weitere „Noch“ der VIII. Heidelberger These an Fortschritte bei der Rüstungskontrolle und Abrüstung rückgebunden sein. Ohne Fortschritt dort gälte die nukleare Abschreckung weiter. Die Gegenposition verurteilt den Besitz von Atomwaffen und die Drohung mit ihrem Einsatz aus realpolitischen und ethischen Gründen. Der Einsatz von Atomwaffen sei wie der Einsatz von biologischen und chemischen Waffen nicht mit dem humanitären Völkerrecht vereinbar. Der Atomwaffenverbotsvertrag von 2017 sei deshalb gerechtfertigt. Nach 12 Jahren friedensethischer Diskussion droht die Debatte in der EKD zu den Atomwaffen also bedauerlicherweise stillzustehen.

Anmerkungen
1 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bischöfe zum Frieden, Stimmen der Weltkirche 19, 2. Auflage 1983, Bonn, S. 9, 71
2 https://katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/russisch-ort, 28.6.2019

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Ulrich Frey ist Mitglied im SprecherInnenrat der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung.