Kommunale Volksdiplomatie - der friedenspolitische Arm der Friedensbewegung?

von Georg Gerdes

Am 6. August '89 segelten 18 Stuhrer "Volksdiplomaten" mit der alten Zweimast-Bark "Fortuna" nach Sigulda an der Rigaer Bucht. Erst kurz vorher hatten die Behörden der UdSSR das Durchsegeln der militärischen Sperrbezirke vor der Rigaer Bucht, die Einfahrt in die Hoheitsgewässer der UdSSR und einen Liegeplatz im Rigaer Hafen bestätigt. Der Laderaum der "Fortuna" war gut ge­staut, um in der Partnergemeinde Bäume zu pflanzen, Friedensbrieftau­ben und Luftballons mit volksdiplomatischen Botschaften zu starten, Fahrräder zu überreichen und mit einer Flaschenpostaktion die Ostsee symbolisch zur atomwaf­fenfreien Zone zu erklären.

Der Segeltörn galt dem Besuch einer Partnergemeinde. Anfang Mai '89 war in der lettischen Klainstadt Sigulda (15.000 Einwohner) feinerlich ein Partnerschaftsvertrag mit der niederländischen Gemeinde Stuhr (27.000 Einwohner) unterzeichnet worden. Vorausgegangen waren jeweils einstimmige Beschlüsse des Exekutivkomitees bzw. des Rates.

Wie alles anfing
Im Zusammenhang mit den Wider­standsaktionen gegen atomare Mittelstreckenraketen, Militärdepots und Manöver tauchten bereits 1984 bei den Diskusssionen im kommunale Abrü­stungsforum Stuhr die Fragen auf, was sollen wir tun, um wesentliche Legiti­mationsgrundlagen von Militarismus und Wettrüsten - außenpolitische Feindbilder und Vorurteile, Fehl- und Desinformation langfristig und dauer­haft zu untergraben und zu beseitigen? Was können konkrete friedenspolitische Beiträge unserer Gemeinde sein? und Wie können wir neben unserer Aufklärungs- und Verhinde­rungskraft Gestaltungskraft aufbauen, - langfristig, dauerhaft und strukturell? Liegt die Antwort in einer Art friedenspolitischer Doppelstrategie, die Aktionen gegen alles Militärische, wann und wo immer dies machbar ist, verbindet mit kommunaler Frie­densdiplomatie, d.h. volksdiplomati­schen Vereinbarungen mit Kleinstädten und Gemeinden der Sowjetunion, dem Haupt-Feindbildobjekt und zentralem Ziel der westlichen Rüstung?

Entscheidende Impulse für das Zu­standekommen der kommunalpolit­schen Mehrheiten lieferten parteiunabhängige Reiseaktivitäten in die Sowjetunion, verbunden mit der Suche nach einer Partnergemeinde und der Gründung des gemeinnützigen Ver­eins "Förderkreis für deutsch-sowjeti­sche Kommunalpartnerschaft e.V." Hiermit wurden die entscheidenden bewußtseinsbildenden Pflöcke in den beiden Gemeinden gesetzt. In den vier Jahren seit der ersten Diskussion bis zur jetzigen Vertragsunterzeichnung, haben sich rund 200 Bürgerinnen und Bürger beider Gebietskörperschaften und Regionen gegenseitig besucht.

Ein volksdiplomatischer Durchbruch?
Die wesentlichen Vertragsfestlegun­gen zwischen beiden Gemeinden lau­ten: "Geleitet von dem Bestreben, zwi­schen der Stadt Sigulda und der Ge­meinde Stuhr partnerschaftliche Be­ziehungen zu entwickeln und einen kulturellen Austausch zu ermöglichen, um damit einen Beitrag zum Frieden und zur gegenseitigen Verständigung zu leisten, ... Die Partnerstädte werden die partnerschaftliche und freund­schaftliche Zusammenarbeit ... durch den Austausch von ... Jugendgruppen, Sportvereinen und -organisationen, Lehrern, Schülern, Vertretern anderer gesellschaftlicher Organisationen wie Gewerkschaften, Kirchen usw. ... för­dern. Die Partnerstädte werden außerdem gegenseitig über das Leben in ihren Städten sowie über die Tätig­keit der kommunalen Organe infor­mieren, damit eine Grundlage für den Erfahrungsaustausch über städtische Strukturen im Bereich der Wirtschaft, des Bildungswesens, der sozialen Dienstleistung sowie der Kultur und des Sports gegeben ist. Die Vereinba­rung ist unbefristet".

Kommunale Partnerschaften sind nicht neu. Seit den 60er Jahren sind bundesweit 1.515 Partnerschaften, Kontakte und freundschaftliche Verbindungen (Stand 1.1.1987)* insbe­sondere mit Städten und Gemeinden der ehemaligen Kriegsgegner und jet­zigen NATO-Verbündeten entstan­den. Nur 69 dieser Kontakte - also noch unter 5% - werden mit Gebiets­körperschaften der WVO-Staaten durchgeführt. Nur rund 20 kommunale Verbindungen gibt es mit Kommunen der UdSSR, und zwar ausschließlich zwischen Großstädten oder Teilen von ihnen. Vorwiegend wirtschaftliche Ko­operationsinteressen standen hierbei im Vordergrund.
Mit dem Partnerschaftsvertrag Stuhr-Sigulda ist erstmalig die Möglichkeit eröffnet, auch zwischen Kleinstädten und Gemeinden ländlicher Regionen Partnerschaften abzuschließen.

Kritik und Ausblick
Ich teile im wesentliche die (vorläu­fige) Bestimmung des Begriffs Volksdiplomatie von L.G. Istjagin (siehe Rundbrief 2/89) und seine geschichts­bezogenen Warnungen vor unange­messener Euphorie. In der Tat, es ist zu fragen, was kommunale Volksdiplomatie für konkrete Abrü­stung und langfristige Friedenssiche­rung leisten kann.

Volksdiplomatie ist ein interessanter Begriff, aber ist sie in der Praxis nicht doch eher eine Art Edeltourismus auf Ko­sten der kommunalen Haushalte? Wie muß kommunale Volksdiplomatie in­haltlich strukturiert sein, damit nicht jene Banalitäten Überhand gewinnen, die beispielsweise die Praxis der deutsch-französischen Partnerschaften bestimmen? Die Aufarbeitung der gemeinsamen (Kriegs-)Geschichte bis hin zur Gründung der deutsch-franzö­sischen Brigade in Böblingen, die Be­drohung durch atomare französische Kurzstreckenraketen und Atom­waffentechnologie oder das Erstarken des deutschen Rassismus und Neofa­schismus - um nur einige gemeinsame Bedrohungsfelder zu nennen - spielen bei diesen Kontakten kaum eine Rolle.

Wie muß in diesem Zusammenhang ein Konzept für friedens- und abrüstungspolitische Bildung für kommu­nale Volksdiplomatie aussehen? Wie wird Volksdiplomatie eine konkrete abrüstungspolitsche Kraft? Viele Fragen sind noch offen. Volksdiplomatie als friedenspolitische Methode - auch hier stimme ich mit L. G. Istjagin überein - bedarf einer gründlichen wis­senschaftlichen Analyse.

Dennoch, unbestritten ist, daß Bedro­hungsängste, Informationsdefizite, außenpolitische Feindbilder und Vor­urteile zwischen den Menschen un­seres Landes und denen der UdSSR abgebaut werden müssen. Denn die Verbesserung des allgemeinen politi­schen Klimas macht durchgreifende Abrüstung erst möglich. Zweifelsohne sind hierfür massenweise kommunale Partnerschaften am besten geeignet, da sie dauerhafte, breit angelegte und kostengünstige Kontakte ermöglichen und öffentlichkeitswirksam präsentiert werden können. Nicht nur Kommunen und Landkreise sind hier gefordert, sondern auch die Länder.

Konsequenzen

  1. Erarbeitung von länderspezifischen Förderungskonzepten für kommu­nale Partnerschaften unter beson­derer Berücksichtigung von Part­nerschaften mit Gemeinden und Kleinstädten der UdSSR. Im Zu­sammenhang mit Landtagswahlen sollten solche Konzepte Gegenstand von Koalitionsvereinbarungen wer­den.
  2. Formulierung eines wissenschaftli­chen Analyseansatzes "kommunale Volksdiplomatie, Völkerfreund­schaft und Abrüstung".
  3. Aufnahme der Arbeitsgemeinschaft der deutsch-sowjetischen Förderungsgesellschaften der BRD in den Koordinierungsausschuß (KA).
  4. Markt der kommunalen voklsdiplo­matischen Möglichkeiten anläßlich der nächsten deutsch-sowjetischen Friedenswochen.

*Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände, Die Partnerschaften der Städte, Gemeinden und Kreise, Köln 1987.

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Georg Gerdes ist Sozialwissenschaftler und arbeitet bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Er ist Mitglied im Rat der Gemeinde Stuhr und im Förderkreis für deutsch-sowjetische Kommunalpartnerschaft e. V. Stuhr.