Nach dem Abzug

Konsequenzen des militärischen Abzugs für die afghanische Zivilgesellschaft

von Carlo Ungaro

Der Autor, ein ehemaliger italienischer Diplomat, schätzt die Zukunft Afghanistans nach dem Abzug der NATO-Truppen pessimistisch ein. Er erwartet, dass es entweder zum Bürgerkrieg kommen oder die Taliban wieder an die Macht kommen werden und dass es die Zivilbevölkerung sein wird, die den Preis für die Besatzung zahlen wird.

Kassandra, so wird uns gesagt, hatte keine Freude bei der Vorhersage von Unglück. Die Realität in Afghanistan zeigt sich als schlimmer als die pessimistischten Vorhersagen, und dies ist kein Grund für Befriedigung für jene, die das Desaster vorhersagten.

Es war im Winter 2006 als viele Beobachter, manche so wie ich in Afghanistan, realisierten, dass das Blatt sich wendete und dass der ultimate militärische ‚Sieg‘ sich den gegenwärtigen Besatzern genauso entzog, wie er in der Vergangenheit sich anderen entzogen hat.

Selbst so spät wie im Sommer 2007 hätte es vielleicht noch Raum für erfolgreiche Verhandlungen mit den Taliban gegeben, die damals noch keine so starke und weitreichende Organisation zu besitzen schienen, wie sie es jetzt tun. Die NATO-Alliierten entschieden sich jedoch für verstärktes – und letztlich erfolgloses – militärisches Handeln, ohne ein klares und glaubhaftes Set von realistischen Kriegszielen, jenseits von der Zerstörung des Feindes, zu verkünden.

Jetzt, wo es zu einer Politik eines mehr oder weniger ehrenhaften Abzugs keine Alternativen zu geben scheint, kommt die immense Größe der Tragödie, die für Afghanistan verursacht wurde, ans Licht. Die reale Gefahr ist, dass das afghanische Volk in einer Situation zurückbleibt, die viel schlimmer als zum Zeitpunkt der Invasion ist.

Es ist eine unangreifbare Tatsache, dass eine große Zahl von Afghaninnen und Afghanen, vor allem aber nicht nur Frauen, angesichts des scheinbaren Endes des Talibanregimes erleichtert waren. Ein Regime, das zuerst begrüßt worden war, aber letztlich die Zivilgesellschaft in die Knie gezwungen und den unzweifelhaften Fortschritt rückgängig gemacht hatte, der in den Jahren des Niedergangs der Monarchie, in der kurzen Zeit der „Sozialistischen Republik“ und sogar, mit angemessenen Einschränkungen, während der sowjetischen Besatzungszeit erreicht worden war.

Eine große Zahl von AfghanInnen entschied sich deshalb, zumeist durch ein echtes Gefühl der Hoffnung motiviert, freiwillig dafür, mit den Besatzungsmächten zu kooperieren und aktiv, besonders im Norden und Westen des Landes und in der Hauptstadt Kabul, am Wiederaufbau ihrer Gesellschaft teilzuhaben.

Es war damals ermutigend zu sehen, wie erwachsene Frauen von ihrer neu erzielten Freiheit Gebrauch machten, um die Jahre der Entbehrung auszugleichen, indem sie den Bildungsprozess wiederaufnahmen, wie auch der Anblick von Schulmädchen, schick in ihren Schuluniformen, wie sie zu ihrem Unterricht gingen, von dem sie das vorherige Regime ausgeschlossen hatte.

Es war auch angenehm informativ, im Herbst 2005 als Beobachter den Regionalwahlen zu folgen, in einem weit entfernten und isolierten Posten im Westen des Landes nahe der iranischen Grenze. Keine Militärpräsenz wurde verlangt und keine war benötigt, denn der Wahlprozess fand in einer Atmosphäre stiller Entschlossenheit statt und unter Beteiligung einer hohen Anzahl von WählerInnen, Männern und Frauen.

Zu fragen, was falsch gelaufen ist, oder wo wir die Möglichkeit verpassten, eine Katastrophe zu verhindern, ist so albern, wie es die Frage „Wer verlor China“ in den USA der 1950er und 1960er Jahre gewesen ist. Es ist viel nützlicher, zu versuchen zu analysieren, ob irgendwelche Optionen übriggeblieben sind, um eine massive Rache nach dem Abzug der letzten NATO-Truppen zu verhindern, für den nur späte und alles andere als ermutigende Vorbereitungen gemacht werden.

Die afghanische Zivilgesellschaft – das nächste unvermeidliche Opfer
Es wird eine große Zahl von Afghaninnen und Afghanen – vor allem, aber nicht nur, Frauen – geben, die einen hohen Preis für ihre „Kollaboration mit dem Feind“ werden zahlen müssen. Dies vor allem wird das unvermeidliche Erbe sein, die von der gehetzten, unklugen und schlecht geplanten Invasion von 2001 hinterlassen wird.

Die Militärmission in Afghanistan ist jenseits jeder Chance auf Erholung, und jede letzte Anstrengung durch die NATO-Streitkräfte muss sich auf die Sicherheit der ZivilistInnen richten, die zurückgelassen werden.

Die Sowjetunion sah sich einem gleichen Problem gegenüber, als sie ging, und war eine Zeit lang in der Lage, die Najibullah-Regierung zu schützen, indem sie den Luftraum von benachbarten zentralasiatischen Basen aus kontrollierte. Dieser Schutz endete mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, und Bürgerkrieg folgte.

Zu diesem Zeitpunkt erscheinen Verhandlungen mit den Taliban sogar noch zweckloser als vorher, und jegliches Versprechen, das von ihnen in Bezug auf die Garantie von Menschenrechten gegeben werden sollte, wird fast sicher gebrochen werden, sobald sie die volle Kontrolle über das Land zurückerhalten. Die Lösung, die von der Sowjetunion gefunden wurde, würde schwierig sein, da es keinen verlässlichen Raum in der Nachbarschaft gibt, von dem aus die Aktivitäten der Taliban kontrolliert werden könnten. Auf der anderen Seite wäre es auch eine sehr kurzlebige Option, eine „befreundete“ Regierung – sei es Karzai oder eine andere politische Figur – zurückzulassen. Es ist deshalb schwierig, ein positives Ergebnis des unvermeidbaren Abzugs der NATO vorherzusagen.

Die Alternative, so bitter wie sie aussieht, scheint zwischen einer starken Taliban-kontrollierten Regierung, hoffentlich moderater als die vorherige, und der Wiederaufnahme des Bürgerkrieges zu liegen, der dem Abzug der Sowjets folgte und zu einem unsicheren Ende nur mit der Machtübernahme der Taliban kam.

Die afghanische Zivilgesellschaft sieht sich deshalb enormen Härten gegenüber. Es ist zum Beispiel schwierig, sich vorzustellen, was aus den zahlreichen NROs von Frauen wird, die in den letzten Jahren gegründet wurden, und die eine gewaltige Anstrengung im Bereich der Rehabilitation und Wiederaufbau unternommen haben. Noch ist es leicht, an all jene afghanischen Männer und Frauen zu denken, die im ganzen Land verteilt fest und loyal mit den zivilmilitärischen Organisationen der ISAF (Provincial Reconstruction Teams) gearbeitet haben. Ihre Zukunft sieht düster aus, und es ist wenig außer Hoffen übrig. Aber Hoffnung allein ist gewöhnlich nicht kreativ.

Der Artikel wurde mit Erlaubnis folgender Website entnommen: http://www.opendemocracy.net/carlo-ungaro/consequences-of-military-withd...

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Carlo Ungaro ist ein ehemaliger italienischer Diplomat. Er verbrachte 16 Jahre in Afghanistan. Zwischen 2000 und 2007 diente er als politischer Berater der italienischen ISAF-Truppen in Herat.