Asylpolitische Halbzeit-Bilanz der Rot-Grünen Bundesregierung

Kontinuität der Flüchtlingsabwehr

von Heiko Kauffmann
Schwerpunkt
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Ginge es nur nach den Stichworten in der medialen Berichterstattung und nach den Schlagzeilen in den Printmedien, so könnte der ungeübte Betrachter des politischen Diskurses in Deutschland tatsächlich auf die Idee kommen, die Themen Migration und Asyl erlebten eine Konjunktur: "Einwanderungskommission", "Asyl-Beirat", "Green-Card" oder "Blue-Card", "Bündnis für Demokratie und Toleranz" - all diese Stichworte und Leitbegriffe lassen bisher jedoch nicht einmal im Ansatz Bemühungen um eine neue menschenrechtlich orientierte Asylpolitik erkennen.

Dies auch deshalb, weil einer der Haupt-Stichwortgeber, Innenminister Otto Schily, die Hoffnungen auf einen rationalen konstruktiven gesellschaftlichen Diskurs immer wieder durch seriös verbrämten Populismus untergräbt, wenn er - etwa durch falsche Zahlen, durch aus der Luft gegriffene Behauptungen von den angeblichen "Grenzen der Belastbarkeit", durch seine Einlassung, das deutsche Asylrecht sei nicht Europa-kompatibel etc. etc. - unterschwellige Ressentiments anspricht und gefährliche Stimmungen schürt.

Die Halbzeit der Legislaturperiode ist daher Anlass für eine kritische Zwischenbilanz der bisherigen Rot-Grünen Regierungsarbeit. (...)

Altfallregelung:
Schon bei der letzten Altfallregelung der Regierung Kohl/Kanther im März 1996 waren die Kriterien so eng gesetzt, dass zwar bis Ende 1997 diese Regelung von rund 7.800 Menschen in Anspruch genommen werden konnte. Die Zahl war jedoch weit entfernt selbst von den Erwartungen der damaligen Bundesregierung, die von 20.000 bis 30.000 Menschen gesprochen hatte, denen diese Regelung zugute kommen würde.

Bei der auf der Innenministerkonferenz in Görlitz am 19. November 1999 verabschiedeten Altfallregelung, für die die Innenminister wiederum cirka 20.000 "Begünstigte" prognostiziert haben, ist davon auszugehen, dass von dieser Altfallregelung aufgrund der restriktiven Ausschlussklauseln noch weniger Menschen als 1996/1997 begünstigt sein werden und ein Bleiberecht erhalten. Besonders problematisch ist der "Doppelbeschluss" bei den Stichtagen - neben dem langjährigen Aufenthalt Sozialhilfe-Unabhängigkeit durch legale Erwerbstätigkeit zum 19. November 1999 -, die grundsätzliche Herausnahme von Flüchtlingen mit langem Aufenthalt aus dem ehemaligen Jugoslawien (Bosnien und Kosovo) und die unterschiedlichen Interpretationen und Auslegungen durch entsprechende Anwendungshinweise in den einzelnen Bundesländern. Einige Bundesländer versuchen, mit ihrem Erlass die Anwendung der ohnehin restriktiven Altfallregelung der Innenminister sogar noch zu unterlaufen. (...)
 

Härtefallregelungen im Ausländergesetz
Schon vor den Bundestagswahlen 1998 hat PRO ASYL zusammen mit Kirchen, Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften eine Härtefallregelung im Ausländergesetz gefordert, um Spielräume für humanitäre Entscheidungen in Einzelfällen herbeizuführen. Härtefallkommissionen, wie sie in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein existieren, können ohne eine solche Härtefallklausel im Gesetz aufgrund der restriktiven rechtlichen Vorgaben den Betroffenen in vielen Härtefällen nicht wirklich helfen. So gewährt das geltende Ausländer- und Asylrecht zum Beispiel keinen umfassenden Schutz bei nicht-staatlicher Verfolgung, bei geschlechtsspezifischer Verfolgung oder bei Bürgerkriegsflüchtlingen. (...)

Geschlechtsspezifische Verfolgung:
(...) Selbst wenn frauenspezifische Fluchtgründe durch die Änderungen der Verwaltungsvorschriften zu § 53 Ausländergesetz stärker als bisher berücksichtigt würden, bliebe davon die besonders restriktive deutsche Interpretation des Flüchtlingsbegriffs bezüglich der Anerkennung nicht-staatlicher (und hier insbesondere: geschlechtsspezifischer) Verfolgung unberührt. Dass die Bundesregierung sich hier weitergehenden Forderungen nach Gesetzesänderungen verschließt, entspringt keineswegs der Sorge um einen adäquaten Schutz für verfolgte Frauen, sondern vielmehr ihrer Sorge über die Folgen der Rücknahme eines ideologischen Axioms der Flüchtlingsabwehr: So erklärt sie in ihrer Stellungnahme für die Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Bläss und anderer (BT-Drs. 14/1083) vom 23. Juni 2000: "Im Ergebnis ist das Thema frauenspezifische Verfolgung eine besondere Ausprägung der Diskussion um die generelle Anerkennung nicht-staatlicher Verfolgung. Der Wegfall des Erfordernisses der Staatlichkeit oder staatlichen Zurechenbarkeit der Verfolgungsmaßnahmen bzw. drohenden Menschenrechtsverletzungen durch Gesetzesänderungen ließe erheblichen Zuwanderungsdruck erwarten, und zwar nur teilweise durch die betroffenen Frauen. Ein Wegfall des Erfordernisses der Staatlichkeit würde alle Asylverfahren betreffen müssen."! (...)

Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention und Rücknahme der deutschen Vorbehalte
Die öffentliche "offizielle" Rücknahme der "Vorbehaltserklärung" der Vorgängerregierung und die Ankündigung einer vollständigen Umsetzung der Kinderrechtskonvention in Deutschland wären wichtige Signale der neuen Bundesregierung zum 10. Jahrestag der Verabschiedung der Un-Kinderrechtskonvention durch die Vereinten Nationen am 20. November 1999 gewesen. Dies war aufgrund vieler Versprechungen von Politikern der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen vor dem Regierungswechsel sowie aufgrund des Entschließungsantrages des Bundestages vom 30. September 1999 (der die Bundesregierung erneut auffordert, die Vorbehalte ihrer Vorgängerregierung zurückzunehmen) allgemein erwartet worden. Auch hier ist es der Bundesinnenminister, der Signale der Härte setzt (Beispiel: Beibehaltung des Flughafenverfahrens für Kinder). Auch unter Rot-Grün bleibt das geltende Asyl- und Ausländerrecht, das der besonderen Schutzbedürftigkeit der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge und den gesetzlichen Erfordernissen des Kinderschutzes nicht gerecht wird, bisher unangetastet. (...)

Abschiebepraxis, Abschiebungshaft:
Trotz der im Rot-Grünen Koalitionsvertrag angekündigten Überprüfung der Abschiebungshaft im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird auch hier die Politik der Vorgängerregierung nahtlos fortgesetzt. Abschiebungshaft bleibt auch unter Rot-Grün der Regelfall für viele Flüchtlinge und wird zu ihrer Endstation in Deutschland.

Suizide, Selbstmordversuche, der Tod von Aamir Ageeb Ende Mai 1999, der auf dem Flug von Frankfurt nach München durch "Ruhigstellung" erstickte und der Tod einer algerischen Asylbewerberin, die sich am 8. Mai 2000 in der Flüchtlingsunterkunft im Transitbereich des Rhein-Main-Flughafens das Leben nahm, werfen ein gleißendes Licht auf die Kontinuität einer Politik der Abwehr und der skandalösen Untätigkeit der verantwortlichen Politiker.

Flughafenverfahren:
Die Flüchtlingstragödie der Algerierin Naimah H., die sich am 8. Mai im Transit des Flughafens das Leben nahm, ist ein Lehrstück über die Mängel und die Unmenschlichkeit dieses Verfahrens, dessen Abschaffung von Kirchen, Menschenrechtsorganisationen, Verbänden und PRO ASYL seit langem gefordert wird, und das im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu überprüfen, die Rot-Grüne Bundesregierung sich im Koalitionsvertrag zur Aufgabe gemacht hat. Der zuständige Bundesinnenminister jedoch hat schon nach den ersten Inspektionen am Flughafen im Dezember 1998 - gegen den Willen des Koalitionspartners - verkündet, dass das Flughafenverfahren unverzichtbar sei, dass er aber der Kritik an den Bedingungen des Verfahrens für Flüchtlinge mit baulichen Verbesserungen begegnen wolle. Der Tod von Naimah H. weist einmal mehr auf das Risiko der tödlichen Folgen dieses Verfahrens hin; das Flughafenverfahren bleibt ein Eilverfahren, das auf Fehler angelegt ist, weil unter dem Druck der Fristen, in der verlangten Eilgeschwindigkeit nicht mit der notwendige Sorgfalt und einer umfassenden Sachverhaltsaufklärung verantwortlich über Menschenleben entschieden werden kann und weil der physische und psychische Druck auf Flüchtlinge unter den Bedingungen hermetischer Abriegelung und Kontrollen ständig wächst und unerträglich wird. Scharf zu kritisieren ist, dass unter Rot-Grün die Zahl derer, die sich nach rechtskräftiger Ablehnung ihres Asylverfahrens noch viele Monate lang als de-facto-Internierte aufhalten müssen oder ebenso lang in Abschiebungshaft sitzen noch drastisch gestiegen ist. (...)
 

Soziale Situation / Asylbewerberleistungsgesetz
(...) Eingeschränkte Sozialleistungen, Ausbildungs- und Arbeitsverbote, eingeschränkte Bewegungsfreiheit, Angst vor Abschiebung und oft monatelange Abschiebungshaft: Beispiele für die alltägliche Verletzung der Menschenwürde in Deutschland. PRO ASYL hat mit vielen Verbänden, den Kirchen, Gewerkschaften und anderen in den "Mindeststandards für ein neues Asylrecht" eine Gesetzesinitiative zur Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes gefordert, da dieses gegen das Gleichheits- und Menschenwürdegebot des Grundgesetzes verstößt. Auch wenn die Regierungskoalition bezüglich des Asylbewerberleistungsgesetzes in der Koalitionsvereinbarung nichts festgelegt hat, muss dieses Thema - gerade angesichts der Bemühungen der Koalition gegen Rechtsradikalismus und für Toleranz immer wieder skandalisiert werden; denn gerade das - die Sozialpolitik der Ära Kohl kennzeichnende - Prinzip der Spaltung und Entsolidarisierung der Gesellschaft hat dazu geführt, dass vor allem Flüchtlinge zu Menschen zweiter Klasse degradiert wurden. Dadurch ist es die verantwortliche Politik, der Staat selbst, der durch Ungleichbehandlung und Diskriminierung von Flüchtlingen erhebliche Mitverantwortung am Entstehen von fremdenfeindlichen und rassistischen Stimmungen trägt. (...)

Bündnis für Demokratie und Toleranz
PRO ASYL hat zusammen mit anderen Menschenrechtsorganisationen scharfe Kritik an Form und Inhalt des von Innenminister Schily inszenierten und der Öffentlichkeit am 23. Mai vorgestellten "Bündnis für Demokratie und Toleranz" geübt, das mit dem unverbindlichen Slogan "Hinschauen - Helfen - Handeln" zwar den Rechtsextremismus am Rande der Gesellschaft anprangern, aber den notwendigen Diskurs über Ursachen und Konzepte sowie - dieser Eindruck muss entstehen - über die staatlichen Anteile von Rassismus durch systematische Ausgrenzung und Rechtspopulismus eher vermeiden will.

Dilettantische Planung des BMI, mangelnde Einbindung von Menschenrechtsorganisationen und NGOs bei der inhaltlichen Planung sowie fehlende Konzepte führten auch zur gemeinsamen Absage von amnesty international, Aktion Courage und PRO ASYL. (...)

Ein Bündnis, das, "von oben kontrolliert", zivilgesellschaftliches Engagement vorantreiben soll - dabei aber wesentliche Ursachen für die Entstehung von Rechtsradikalismus wie diskriminierende Gesetze oder den Rechtspopulismus aus der Mitte der Politik ignoriert, ist wenig glaubwürdig. Eine glaubwürdige Alternative für ein breites gesellschaftliches Bündnis ist das von ca. 100 Nichtregierungsorganisationen getragene, nach dem Europäischen Jahr gegen Rassismus 1997 ins Leben gerufene "Netz gegen Rassismus", das einen Aktionsplan gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus erarbeitet und am 15. Juni der Öffentlichkeit vorgestellt hat.
 

Europäische Flüchtlingspolitik
Auch im europäischen Zusammenhang geben die Äußerungen des deutschen Innenministers zur Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und seine Abwehrhaltung gegenüber den Verfolgten Anlass zu großer Besorgnis.

Demgegenüber hatten die europäischen Regierungschefs auf dem EU-Gipfel in Tampere, Oktober 1999, feierlich ihren Willen bekräftigt, die GFK weiterhin als Grundlage einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik unangetastet zu lassen und uneingeschränkt zur Geltung zu bringen. Dies musste auch als klare Absage gegenüber Versuchen verstanden werden, die GFK als überholt zu betrachten und anstelle eines einklagbaren Rechtes auf Asyl ein Gnadenrecht des Staates zur Basis der Asylgewährung zu machen. Die Beschlüsse von Tampere müsste eigentlich auch Bundesinnenminister Schily als Vorgabe für eine Harmonisierung des europäischen Asylrechts verstehen, nämlich: Die Ausrichtung der Asylpolitik an der GFK und den darin festgelegten Definitionen, wer als Flüchtling zu gelten hat und Anspruch auf staatlichen Schutz genießt.

Die enge deutsche Interpretation des Flüchtlingsbegriffs bezüglich der Anerkennung nicht-staatlicher Verfolgung, die im Widerspruch zur Praxis fast aller europäischen Staaten steht und viele nach der GFK Schutzberechtigte in Deutschland in eine "Schutzlücke" fallen lässt, ist ein Haupthindernis bei der "uneingeschränkten und allumfassenden Anwendung der GFK", wie sie der Europäische Rat in Tampere beschlossen hat.

Solange aber die europäische Asylpolitik vornehmlich aus dem Blickwinkel militärischen Sicherheits- und ordnungspolitischen Abwehrdenkens der Innenminister "gestaltet" wird und gleichzeitig eine "hochrangige Arbeitsgruppe" auf EU-Ebene Aktionspläne und Maßnahmen vorantreibt, die vornehmlich einer besseren Abwehr, denn eines besseren Schutzes schutzsuchender Menschen dienen, bleiben auch die Erklärungen von Tampere und das Bekenntnis zur GFK in der Koalitionsvereinbarung unglaubwürdig.

Asyl im Spannungsfeld der Einwanderungsdiskussion
Die Green-Card-Initiative von Bundeskanzler Schröder für ausländische Computer-Experten hat die Debatte um Zuwanderung neu entfacht. Die CDU/CSU verknüpfte ihr "Angebot" an die Bundesregierung, über Einwanderungsregelungen zu diskutieren, "reflexhaft" mit der Forderung nach Abschaffung des Asyl-Grundrechts - und Bundesinnenminister Schily "katzbuckelte" eilfertig vor seinem bayerischen Amtsbruder Beckstein mit der Überlegung, im Zuge der Einwanderungsdebatte auch das individuelle Grundrecht auf Asyl ändern zu wollen, weil es angeblich nicht "Europa-kompatibel" sei. Auch wenn ihm die Koalitionspolitiker deutlich widersprachen und sich auch der Bundeskanzler und der Bundespräsident klar für den Erhalt des Grundrechts auf Asyl aussprachen, lässt Schily kaum eine Gelegenheit aus, die Themen Einwanderung und Asyl zu vermischen. (...)
 

Asylpolitische Negativ-Halbzeit-Bilanz
(...) Nach wie vor scheint der zuständige Innenminister Otto Schily entschlossen, in der Flüchtlingspolitik bruchlos die Arbeit seines Amtsvorgängers Manfred Kanther fortzusetzen. Erschreckend deutlich wurde dies insbesondere bei der Rückführung der bosnischen Kriegsflüchtlinge. Im laufenden Jahr werden, etwa zur "Halbzeit" der Bundesregierung mehr bosnische Kriegsflüchtlinge aus Deutschland in die USA weiter gewandert sein als sich hier noch aufhalten - ca. 30.000 von einst 350.000 Menschen. Dies ist das Ergebnis der bundesdeutschen Strategie eines seit nunmehr über vier Jahren andauernden fortgesetzten Ausreisedrucks auf bosnische Flüchtlinge, der in dieser Härte und Konsequenz im europäischen Vergleich - und leider muss hinzugefügt werden: auch unter der Rot-Grünen Bundesregierung - singulär geblieben ist. (...)

Eine neue und humane Asylpolitik erfordert auch von der Bundesregierung und dem zuständigen Innenminister die Fähigkeit und die Bereitschaft, alten Vorurteilen neue Orientierungen entgegenzusetzen, die einen angemessenen und sensiblen Umgang des Staates mit Flüchtlingen und Minderheiten erkennen lassen.

Gerade wenn man der Gefahr eines schleichenden Rassismus und der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit konsequent begegnen will, darf man nicht länger die Kontinuität zur Politik der Vorgängerregierung suchen. Dies steht dem eigenen Anspruch der Koalitionspartner an eine Politik der Zukunftsfähigkeit entgegen. Nach 16 verlorenen Jahren eines als "Fremdenabwehrrecht" instrumentalisierten Ausländer- und Asylrechts dürfen nicht weitere Restriktionen die Politik bestimmen. Gefragt und gefordert sind Mut, Dialogbereitschaft, Perspektiven und humane Visionen für eine menschenrechtsorientierte Asylpolitik!

Der Text wurde von der Redaktion gekürzt.

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