Castor-Transport im März 2001:

Kontinuität undemokratischer Politik und systematischen Missbrauchs der Polizei

von Elke Steven
Hintergrund
Hintergrund

Ende März 2001 zwischen Lüneburg und Gorleben: Nach 5 jähriger Pause rollt zum ersten Mal wieder ein Transport von hochradioaktivem Müll in das Zwischenlager in Gorleben. Um dies durchzusetzen, hat die Polizei für eine Woche die Herrschaft über eine ganze Region übernommen. Mit übermächtiger Präsenz versuchte sie, jedweden Protestausdruck zu kontrollieren und den Zusammenschluss von Bürgern zu verhindern. Sie beherrschte die Region, verbot oder erlaubte ein Gutteil der Lebensäußerungen von Bürgern und Bürgerinnen. Das ist es, was Robert Jungk mit seiner Warnung vor dem Atomstaat im Auge hatte. Und trotzdem fanden die Bürger und Bürgerinnen Raum und Möglichkeiten, ihren Protest zum Ausdruck zu bringen. Sie gingen auf Schienen und Straßen und ließen sich nicht zu den Statisten geheimer und riskanter Einzelaktionen degradieren, zu denen das Polizeikonzept sie machen wollte.

Das Komitee für Grundrechte und Demokratie hat - wie bei allen vorangegangenen Castor-Transporten in die Zwischenlager seit 1995 - die Demonstrationen gegen diesen Transport zwischen Lüneburg, Dannenberg und Gorleben mit einer Gruppe von ca. 30 Beobachtern und Beobachterinnen begleitet. (Die alten Berichte sind ebenso wie ein erster ausführlicherer Bericht zum diesjährigen Transport beim Komitee zu bestellen.) Um zu verstehen, was in dieser Region zu beobachten war, um die Eigenart des demonstrativen Geschehens zu verstehen, ist es notwendig, den Konflikt um die Atomenergie im allgemeinen mit ins Blickfeld zu nehmen: Es war der erste Transport, nach einer vierjährigen Pause, unter einer rot-grünen Regierung. Diese hatte zuvor einen Atomkonsens mit der Atomindustrie und ohne Beteiligung der Bürger und Bürgerinnen ausgehandelt. Dieser Transport diente erkenntlich dem Einstieg in einen erneuten Atommülltourismus. So wurden nach diesem Transport sofort die Transporte in die sogenannte Wiederaufarbeitung nach La Hague und Sellafield aufgenommen.
 

Als unsinnig wurden die Proteste gegen diesen Transport von Politikern immer erneut dargestellt: Der Atomkonsens garantiere einen Ausstieg aus der Atomenergie; bis zu diesem Ausstieg sei der völkerrechtlichen Verpflichtung zur Rücknahme des Mülls nachzukommen. Abgesehen davon, dass diese Bundesregierung sich bei der Führung des Angriffskrieges gegen die Bundesrepublik Jugoslawien einen Dreck um Völkerrecht kümmerte, wurde mit diesen Hinweisen von den eigentlichen Problemen und den undemokratischen Vorgehensweisen abgelenkt: Der sogenannte Konsens ist ohne Beteiligung von Bürgern, ohne Beteiligung der Organisationen, die seit Jahrzehnten den Protest gegen die sogenannte friedliche Nutzung der Atomenergie tragen und sachlich-fachlich kompetent sind, allein nur mit Vertretern der Atomwirtschaft ausgehandelt worden. Dadurch ist der Kompromiss auch rechtsstaatlich fragwürdig. Darüber hinaus ist der Vertrag, der bisher noch nicht einmal von der Industrie unterzeichnet wurde, selbst in vielem unzulänglich und uneindeutig. Ein eindeutiger und absehbarer Ausstieg aus der Atomenergie wird hiermit nicht festgelegt.

Bürger, die beabsichtigten gegen diese ohne und gegen sie getroffene Entscheidung zu demonstrieren, wurden bereits im Vorhinein mit Gewalterwartungen diffamiert. Die Polizei, die verfassungsgemäß primär Grundrechte schützen soll und Staatssicherheit als Bürgersicherheit verstehen müsste, wurde gegen diese demonstrierenden Bürger eingesetzt. Notfalls sollte sie mit "aller Härte des Gesetzes", mit unmittelbarem Zwang und Inhaftierung die demokratisch unzulängliche Entscheidung gewaltaufwendig durchsetzen. Dass aber der massenhafte Polizeieinsatz dauernd legitimationspflichtige Gewalt darstellt, diese Einsicht geht dabei immer erneut verloren.

Verbot von Versammlungen und Verhinderung von Camps
Die ohnehin strukturell und aktuell in jeder Hinsicht benachteiligten Bürgerinnen und Bürger, die demonstrieren wollen, wurden vorweg mit zwei Allgemeinverfügungen überzogen. Die eine vom 10. März 2001, von der Bezirksregierung zu Lüneburg erlassen, hatte ein großflächiges Verbot aller Demonstrationen im Zeitgroßraum vom 24. bzw. 27.3. bis zum 8.4. dem vorgesehenen Castor-Transportweg entlang erlassen. Der Landrat des Landkreises Lüneburg hat analog dazu am 16.3.2001 präventiv auf die Fülle angeblich hier einschlägiger Gesetze hingewiesen, die ihn dazu veranlassen würden, gegen Camps im Rahmen des Demonstrationsgeschehens "bauaufsichtlich" einzuschreiten. In der Verhinderung und Auflösung von Camps mit Hilfe fadenscheinig pauschaler Behauptungen bestand zwischen dem 24. und 28. März auch ein Gutteil polizeilicher Tätigkeit. Zur allgemeinen Illegalisierung demonstrativen Verhaltens kamen pauschale Verdächtigungen des immer erneut geschaffenen "Subjekts" hinzu, das seit Jahrzehnten die hier allein phantasievolle offiziöse Bundesrepublik verunsichert: "Die Autonomen".

Der Aufbau von Camps wurde weit über den räumlichen Bereich hinaus verboten, in dem per Allgemeinverfügung jede Demonstration untersagt war. Am Freitag, dem 23. März 2001, wurde der Aufbau von Camps auf Privatgelände bei Tollendorf und Govelin verboten. Die Camps wurden geräumt aus Resignation angesichts einer Übermacht der Staatsgewalt. Letztere interpretierte das als freiwillige Räumung. Bei Schmessau und Köhling entstanden daraufhin zwar neue Camps. Die standen unter der Drohung, geräumt zu werden, wenn sie zu groß würden. Das Camp bei Nahrendorf wurde Montag abend, den 26.3.2001, geräumt. Auch bei Wendisch-Evern durfte lediglich eine mehrtägige Mahnwache stattfinden, nichts aber aufgebaut werden, was einer "Campstruktur" gedient hätte.

Vielfältiges Demonstrationsgeschehen
Während der ganzen Tage und entlang der gesamten Strecke fanden immer erneut kleine und große Aktionen statt. Und immer erneut kontrollierte die Polizei das Geschehen und ging dagegen vor. Aus der Fülle des von uns Beobachteten will ich hier nur einige Beispiele nennen.

  •   Unverhältnismäßig war es, dass die (friedfertigen) Demonstranten von Wendisch-Evern am 26.3.01 abends nicht nur per Zug nach Lüneburg gebracht wurden, sondern sogar noch mit Bussen nach Soltau, Munster und Schneverdingen, wo sie gegen 23.30 / 24.00 Uhr ausgesetzt wurden. Die Entfernung der Orte von Lüneburg und die Zeit sprechen eindeutig gegen eine Verhältnismäßigkeit der Maßnahme. Welche Gefahr wurde hier bekämpft? Die einer erneuten friedlichen Demonstration? Es handelte sich um eine Freiheitsentziehung (Art. 104 Abs. 2 GG) und es könnte sich um eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit handeln, wenn man bedenkt, dass diese Demonstranten bei Minustemperaturen in einer fremden Gegend ausgesetzt wurden.

 

  •   Das Versammlungsverbot wurde weitgehend als Betretungsverbot gehandhabt. Jeder Bürger stand ständig unter dem Verdacht (!) demonstrieren zu wollen und somit unter dem Verdacht der Begehung eines Rechtsbruchs. Wo zwei oder mehr Bürger zusammenkamen, galt dies schon als unzulässige Versammlung.

 

  •   Immer wieder ging die Polizei in unverhältnismäßiger Weise gegen friedliche Bürger vor. Hervorzuheben ist die Festnahme von Jochen Stay, dem Mitorganisator der explizit gewaltfreien Sitzblockade von X-tausendmal-quer. Wegen der "Hartnäckigkeit", mit der er seit Jahren dieses Ziel verfolgt (vgl. Presseerklärung von BGS und Polizei vom 26.3.2001) wurde er mit der Begründung, er sei der "Rädelsführer", überfallartig während eines Gesprächs mit dem Einsatzleiter vor Ort von einem Sondereinsatzkommando festgenommen. Bis zum Abschluss des Transportes, fast drei Tage, wurde er festgesetzt. Die Sitzblockaden fanden trotzdem statt.

 

  •   Die Sitzblockade bei Wendisch-Evern am Montag, 26.3.01, an der fast 600 Personen beteiligt waren, wurde mit zum Teil körperverletzenden Eingriffen geräumt. Am Dienstag, dem 27.3.2001, wurde eine Sitzblockade bei Wendisch-Evern von einer sächsischen Polizeieinheit mit Hilfe eines brutalen Schlagstockeinsatzes geräumt. Zuvor war nicht dazu aufgefordert worden, die Schienen zu räumen - wie vom NiedersächsischenGefahrenAbwehrGesetz vorgesehen. Auch das eingesetzte Zwangsmittel, also der Schlagstock, ist vorher nicht angekündigt worden. Sieben Demonstranten erlitten dadurch Platzwunden. Ein schwer Verletzter musste von Sanitätern mit Gehirnerschütterung ins Krankenhaus abtransportiert werden.

 

  •   Dienstag abend wurde der Spontandemonstration in "sicherer" Ferne vom Verladekran mit nicht begründbarer Härte begegnet. Obwohl der überwiegende Teil der Demonstrierenden sich friedlich verhielt und nur dorthin zog, wo der Transportzug zu erwarten war, wurden gegen die Demonstrierenden Wasserwerfer eingesetzt. Ein Teil dieser Versammlung wurde später eingekesselt. Von wenigen Demonstrierenden sind Leuchtraketen in die Luft geschossen worden, auch Gegenstände waren in Richtung Polizei geflogen. Auf der Wiese hinter dem Wall und südlich auf der Straße nach Nebenstedt kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrierenden. Mit Schlagstock ging die Polizei gegen diese Gruppe vor, dann flogen auch Feuerwerkskörper und andere Gegenstände in Richtung Polizei. Die Wasserwerfer wurden zunächst gegen diesen Teil der Versammlung eingesetzt, dann aber auch gegen diejenigen, die auf dem Wall standen. Auf der Straße wurde daraufhin ein Teil der Versammelten eingekesselt.

 

  •   Polizeiliche Maßnahmen sind zuweilen willkürlich unberechenbar. Sie werden mit "erfundenen" Taten und Zusammenhängen begründet. Zu den drastischsten Vorkommnissen zählt die Behauptung von Säureangriffen gegen die Polizei. Pünktlich kurz vor den Nachrichten am Abend des 27.3.2001 wurden Polizeibeamte per Lautsprecher in der Umgebung der Pressewagen vor möglichen Essigsäureangriffen gewarnt. Die Nachricht konnte nicht mehr überprüft werden und ging durch alle Medien. Später wurde diese Vermutung mit einem erhöhten Verkauf von Essigsäure im Kreis Lüchow-Dannenberg begründet. Ein Klärwerk hatte wohl tatsächlich aufgrund eines Bakterienproblems größeren Bedarf. Verletzte Polizeibeamte gab es nicht. Das Gerücht hielt sich aber einige Zeit.

 

  •   Eine Gruppe zumeist Jugendlicher brach Dienstag vormittag vom Camp bei Nahrendorf auf, um sich an der angemeldeten und bestätigten Mahnwache an einer Straßenkreuzung zu beteiligen. Auf diesem Weg hätten sie die Bahnlinie kreuzen müssen. Bevor sie dorthin kommen konnten, wurden sie gegen 11.30 Uhr von der Polizei gestoppt und eingekesselt. Einzeln wurden sie aus dem Kessel geführt und in einen Gefangenenbus gebracht. Gegen 17.25 Uhr war die bürokratisch euphemistisch genannte "Ingewahrsamnahme" abgeschlossen. Alle wurden in die Gefangenensammelstelle (GESA) in Neu Tramm gebracht. Was ihnen vorgeworfen wurde, war im einzelnen nicht zu erfahren. Der fassbarste Vorwurf bestand darin, einzelne in dieser Gruppe seien "vermummt" gewesen (wohlgemerkt: die Polizeileute sind dies, selbst wenn ihre Gesichter zu sehen sind, durchgehend). "Erfunden" wurde, dass sie die Gleise, die sie noch gar nicht erreicht hatten, beschädigt hätten, oder dass sie sich auf der Straße hingesetzt hätten. Interessant ist der Vorwurf, dass die Demonstrierenden, da sie zu mehreren auf dem Weg zu der genehmigten Mahnwache waren, gegen die Allgemeinverfügung verstoßen hätten. So schafft man Ordnungswidrigkeiten und Möglichkeiten zum polizeilichen Eingreifen.

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Elke Steven ist Soziologin und Referentin beim Komitee für Grundrechte und Demokratie in Köln.