Kosovo/a*

von Frits ter Kuile
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Erstaunt war ich über meine Empörung, als ich die Nachricht hörte, dass Russland eine militärische Aktion gegen Serbien im Kosovo/a ablehnt. Ich war über mich selbst erstaunt, weil ich absolut nicht glaube, dass aus Kanonenläufen Friede hervorkommen kann. Aber jetzt, nachdem ich selbst für einige Zeit in Kosovo/a war mit dem Gedanken an meine Albanische und Serbische FreundenInnen, die immer noch dort sind, habe ich Angst, dass auch sie im Strom der Gewalt zermalmt werden können. Sollte ich nun instinktiv für noch mehr Gewalt seitens der NATO sein? Nein, wenn ich ruhig darüber nachdenke, erkenne ich, dass dieser instinktive Ruf nach NATO-Intervention doch nicht zur richtigen Entscheidung führen kann. Denn es stimmt nicht, dass die Serben die bösen Monster sind und die Albaner die traurigen, unschuldigen Lämmer.

Ich habe erfahren, dass Serben tatsächlich auf Albaner herunterschauen, als seien es schmutzige, unflätige, unzuverlässige "Untermenschen" und dementsprechend auch handeln. Die Albaner im Kosovo/a wählten etwa 1990 den gewaltfreien Weg, um die Unabhängigkeit des Kosovo/a zu erreichen. Sie errichteten eine eigene Gesundheitsversorgung, ein Schulsystem, Steuererhebung, Regierung und ein Parlament und haben dies alles jahrelang mit viel Blut, Schweiss und Tränen funktionsfähig gehalten. Obwohl sie von serbischer Seite sehr viel Unrecht erleiden mussten, haben die Albaner selbst nicht zu den Waffen gegriffen. Allerdings verstehe ich unter Gewaltlosigkeit auch, dass ich meinen Gegener wissen lasse, dass er selbst nicht um sein Leben fürchten muss, sondern er, wenn gemeinsam eine Lösung für unseren Konflikt errungen worden ist, selbstverständlich einen Platz unter der Sonne hat. Leider sind die Serben bei den Albaner verhasst und die "gewaltfreie" albanische Führung hat so gut wie nichts getan, um diesen Hass zu transformieren. In Kontakt mit Kindern konnte ich deutlich spüren, wie tief dieser Hass glüht, und darum ist es nicht verwunderlich, dass Serben, die auch schon lange in Kosovo/a leben, angstbesessen reagieren.

Wenn ich den Kampf um Unabhängigkeit des indischen Volkes betrachte oder den langen Kampf gegen Rassendiskriminierung und für gleiche Bürgerrechte in den USA, dann sehe ich, dass es dabei eine Strategie gab, die auf die Gedanken und die Seelen des Gegners gerichtet war und gleichzeitig auf Mobilisation der eigenen Kräfte beruhte. Eine internationale Solidarität war gerne gesehen, nicht aber der Kern der Strategie. Die Strategie der Albaner aber ruhte auf folgenden Säulen: Aufbau einer eigenen Gesellschaftsstruktur und das Erlangen von Sympathie der westlichen Staaten, in der Annahme, dass diese Sympathie zu einer NATO-Intervention führt. Also hatten die Albaner keine Strategie, um aus eigener Kraft für ihre Rechte zu kämpfen und ihr gewaltloses Leiden war nicht auf die Seelen des serbischen Volkes gerichtet, sondern auf die Herzen im Westen in Erwartung durch den mächtigen NATO-Knüppel vom serbischen Joch erlöst zu werden. Und jetzt, nachdem in dem Daytoner Abkommen kein Wort gesagt wurde über die schwierige Lage der Kosovo/a Albaner, haben die Albaner ihren gewaltfreien Widerstand grossenteils verlassen und selbst nach den Waffen gegriffen.

Werden wir je aus der Geschichte lernen, auch wenn dies eine knallharte und bittere Lektion ist, oder wiederholen wir die Geschichte bis zum geht-nicht-mehr? Wenn wir nämlich den NATO-Knüppel einsetzen, triumphiert wieder die Gewalt und der Glaube an die Gewalt, auf Kosten von Frieden, der nur mit den Waffen von gewaltfreier Gerechtigkeit zu schaffen ist.

Nur wenigen Menschen konnten die Albaner vermitteln, wie halbherzig der Westen handelt und wie die Politik dort nur darauf zielt, neue Flüchtlingswellen in ihre Länder zu verhindern; dass es sinnvoller wäre, sich auf die Herzen der Serben zu konzentrieren als auf die der Menschen in den westlichen Ländern und nach einer Strategie zu suchen, die wirklich gewaltfrei ist und nicht mit der übermächtigen Kraft der NATO rechnet. Auch ist zu wenig mit Albaner und Serben gesprochen worden, dass nur diese beiden zusammen den Schlüssel in der Hand haben für ein Kosovo/a, in dem man leben kann: Kosovo/a ist bettelarm und weder Albaner noch Serben haben dort eine gute Zukunft, denn niemand investiert in einen Vulkan, der von Vorurteilen, Hass und Ängsten glüht.

Ein militärisches Eingreifen der NATO könnte vielleicht kurzfristig eine Gewalteruption verhindern und die möglichen Flüchtlingsströme aufhalten, mehr auch nicht. Die Gefahr besteht, dass durch eine militärische Aktion, wobei sicherlich serbische Soldaten und auch serbische Bürger ermordet würden, die Reihen der serbischen Gesellschaft (die jetzt noch mehrfach geteilt ist) sich schliessen werden. Kurzum, meiner Meinung nach könnte ein NATO-Eingriff wie Öl auf das Feuer im Kosovo/a sein und keine Lösung für die Konflikte dort. Sollten wir nun den Albanern sagen, sie hätten sich an dem Hass gegen die Serben selbst verbrannt und müssten jetzt die peinlichen Folgen tragen? Und sollten wir die Serben jetzt weiter Übel tun lassen?

Natürlich nicht! Ich habe mehr Vertrauen in eine Strategie z.B. des Balkan Peace Team, mit dem ich selbst 1995 im Kosovo/a und Serbien gearbeitet habe, um die dort vorhandenen Friedensinitiativen zu unterstützen. Davon gibt es, Gott sei Dank, viele! In serbischen Städten protestieren Eltern vor den militärischen Hauptquartieren und fordern ihre Söhne aus den Kriegsgebieten im Kosovo/a zurück. Auch läuft eine Kampagne, womit Männer aufgerufen werden, den Kriegsdienst zu verweigern unter dem Motto: "Besser im Knast als im Krieg". Und es läuft auch eine Antikriegskampagne auf Hochtouren: in 160 Städten mit mehr als 10.000 Einwohnern werden Handzettel verteilt mit dem Aufruf an die Serben, "verantwortungsbewusste Patrioten" zu sein, indem sie "nein" sagen zu dem Krieg im Kosovo/a. Diese Kampagne bringt gleichzeitig Radiospots, Zeitungsanzeigen, Poster und Aufkleber. Sie werden von der kriegsmüden Bevölkerung überraschend gut angenommen, allerdings von den lokalen Autoritäten so viel wie möglich behindert. A propos Autoritäten, es gibt serbische Polizisten, die sich weigerten, in den Kosovo/a zu gehen und deswegen aus ihrem Dienst entlassen wurden. Grosse Teile der serbischen Bevölkerung wollen keinen Krieg im Kosovo/a. Zu dieser Haltung zu ermutigen und sie zu stärken, ist meines Erachtens dringendstes Anliegen. Auch gibt es an der Basis kleine Initiativen, die auf einen serbisch-albanischen Dialog ausgerichtet sind, u.a. von Pax Christi. Trotz aller Ereignisse machen die Teilnehmer weiter.

Wie gesagt, es muss mehr gesprochen werden, sowohl mit den Serben als auch mit den Albanern, dass nur sie allein und gemeinsam den Schlüssel in den Händen haben für ein Kosovo/a, indem man leben kann und es werden Vermittler gebraucht, um mit ihnen diesen Schlüssel zu finden. Ich bin der Meinung, dass wir unsere eigene Hoffnung und die der Albaner nicht auf das enorme Gewaltpotential der NATO setzen sollten und dass es noch nicht zu spät ist, um die vielen gewaltfreien Anstrengungen zu stärken.

Frits ter Kuile schrieb diesen Beitrag für "Kerk en Vrede" (dt: Kirche und Frieden) der Zeitschrift des niederländischen Zweiges des Internationalen Versöhnungsbundes.

* Die serbische Aussprache ist Kosovo, ein Teil von
  Serbien. Die albanische Aussprache ist Kosova, ein
  unabhängiges Land, das sich vielleicht mal
  Albanien anschliesst. Beim Gebrauch einer dieser
  Aussprachen wird eine Partei bevorzugt, darum
  schreibe ich Kosovo/a.

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Frits ter Kuile schrieb diesen Beitrag für "Kerk en Vrede" (dt: Kirche und Frieden) der Zeitschrift des niederländischen Zweiges des Internationalen Versöhnungsbundes.