Flucht und Migration

Krieg gegen Schlepper – Krieg gegen Flüchtlinge?

von Judith Kopp

Die EU zieht in den Krieg gegen Schlepper. Mit dem europäischen Militäreinsatz „EUNAVFOR Med“ sollen Schleuserboote identifiziert, aufgegriffen und zerstört werden. Doch Schleuserboote sind Flüchtlingsboote. Der 'Verlust von Menschenleben' wird bei dem EU-Einsatz in Kauf genommen – die Rede ist von „Kollateralschäden“. Was mit den Flüchtlingen passieren soll, wenn ihnen auch der letzte Fluchtweg über das Mittelmeer versperrt wird, davor verschließt man in Brüssel die Augen. Europa führt Krieg gegen Flüchtlinge und der Aufschrei hält sich in Grenzen.

Keine Wende nach Lampedusa
Vor eineinhalb Jahren kamen bei einer Bootskatastrophe vor der italienischen Insel Lampedusa über 360 Menschen ums Leben. Die Meldung erschütterte die europäische Öffentlichkeit, Politikerinnen und Politiker trauerten vor den aufgebarten Särgen, EU-Parlamentspräsident Martin Schulz forderte eine „Wende der europäischen Flüchtlingspolitik“. Seither sind weitere 7.000 Menschen an Europas Außengrenzen ums Leben gekommen. Von einer Wende in der europäischen Flüchtlingspolitik kann keine Rede sein.

Während die italienische Regierung Ende Oktober 2013 die längst überfällige Rettungsoperation „Mare Nostrum“ lancierte, weigerten sich die EU-InnenministerInnen, eine europäische zivile Seenotrettung zu beschließen. Schließlich sei Italien zuständig. Doch damit nicht genug: Zunehmend wurde die Kritik lauter, das Seenotrettungsprogramm habe sich als Anreiz für Flüchtlinge erwiesen, die riskante Überfahrt nach Europa zu wagen – in den Worten des deutschen Innenministers de Maizière: Mare Nostrum habe sich als „Brücke nach Europa“ herausgestellt. Für sich genommen eine Aussage, die aus flüchtlingsrechtlicher Sicht hätte aufatmen lassen können. Für de Maizière jedoch das Argument, Mare Nostrum zu beenden. Eine Forderung, die in mehreren Mitgliedstaaten Anklang fand. Ein Zynismus sondergleichen angesichts der über 150.000 Menschen, die mit Mare Nostrum im zentralen Mittelmeer während eines Jahres gerettet wurden. Zynisch vor allem im Wissen darum, dass im gleichen Zeitraum trotzdem über 3.500 Menschen ums Leben gekommen waren. 

Anstatt Mare Nostrum durch eine europäische zivile Seenotrettung zu ersetzen, startete die EU die Frontex-Operation Triton. Mit dreimal weniger Mitteln und einem enorm verkleinerten Einsatzgebiet sollte ausgerechnet diejenige Agentur die europäischen Seenotrettungspflichten erfüllen, die für die Bekämpfung 'irregulärer Einwanderung' und die Abschottung der europäischen Außengrenzen geschaffen wurde. Das Mandat der europäischen Grenzagentur Frontex sieht keine proaktive Seenotrettung vor – der Einsatz der Agentur ab November 2014 im zentralen Mittelmeer war von Beginn an Augenwischerei mit tödlichen Folgen: Die Todeszahlen stiegen im Frühjahr in bisher unbekannte Höhe. Allein im April 2015 kamen innerhalb einer Woche über 1.000 Menschen bei Bootskatastrophen ums Leben. Bei Rettungsoperationen, die von November 2014 bis Ende April 2015 erfolgten, wurden rund 19.000 Flüchtlinge von Handelsschiffen aus Seenot gerettet und nur 1.700 von Schiffen im Frontex-Einsatz. (1)

Bereits nach der Bootskatastrophe vor Lampedusa im Oktober 2013 fühlten sich die politischen VerantwortungsträgerInnen Europas argumentativ in die Enge gedrängt. Die Schande des Massensterbens an den eigenen Grenzen verlangte nach politischen Antworten. Schnell wurden die Verantwortlichkeiten geklärt: Skrupellose Schlepper und Schleuser hätten all jene auf dem Gewissen, die in seeuntauglichen Booten auf See ums Leben kommen. Alles müsse daran gesetzt werden, den Schleusern das Handwerk zu legen: Dazu sollte die Kooperation mit den Transitstaaten insbesondere in Nordafrika intensiviert und Frontex als Agentur mit der notwendigen Expertise gestärkt werden. Auch im Frühjahr 2015 wurde der Schlepperbekämpfungs-Diskurs nach den tödlichen Katastrophen neu mobilisiert. Die daraufhin beschlossenen Maßnahmen sind aus flüchtlingsrechtlicher Sicht fatal.

EUNAVFOR Med – Kriegsschiffe gegen Schleppernetzwerke
Mit einem Militäreinsatz sollen nun im zentralen Mittelmeer und an den libyschen Küsten Schlepperboote zerstört werden. Am 22. Juni 2015 beschlossen die EU-AußenministerInnen den Beginn der ersten Phase der Militäroperation EUNAVFOR Med – EU Naval Force Mediterranean (2): Zunächst sollen Informationen über Netzwerke und Routen der Schleuser gesammelt werden, um auf dieser Grundlage in Phase zwei, drei und vier Schlepperboote zu identifizieren, zu beschlagnahmen und zu zerstören – auf hoher See, in libyschen Gewässern oder gar auf libyschem Territorium. Kriegsschiffe, Hubschrauber, Aufklärungsflugzeuge, U-Boote, Drohnen und eine Truppe von 1.000 Personen sollen zum Einsatz kommen – für die ersten zwei Monate lässt sich die EU das Kriegsszenario im Mittelmeer 11,8 Millionen Euro kosten.

Wann die Phasen zwei bis vier zur Umsetzung gelangen könnten, ist bislang unklar. Notwendig dafür wäre die Zustimmung der international anerkannten libyschen Regierung in Tobruk oder ein Mandat des UN-Sicherheitsrates. Während die unmissverständliche Ablehnung aus Libyen nicht lange auf sich warten ließ, scheitert das Mandat des Sicherheitsrates am Widerstand Russlands. Das Drängen auf ein UN-Mandat, das  federführend durch die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini forciert wird, ist abwegig: Voraussetzung für ein UN-Mandat wären eine „Bedrohung oder ein Bruch des Friedens“ (Artikel 39 UN-Charta), der in diesem Fall durch die hohen Flüchtlingszahlen vorliegen müsste. Das Völkerrecht lässt hier jedoch wenig Interpretationsspielraum: Die Aufnahme von Flüchtlingen ist eine völkerrechtliche Pflicht. Schutzsuchende fliehen vor Notlagen, in denen ein Leben in Frieden und Würde durch Gewalt und Verfolgung zerstört wurde. Ihre Suche nach Schutz als Gefährdung des Friedens in Europa darzustellen, ist menschenverachtend und unterminiert die humanitären Grundlagen, zu denen sich Europa öffentlich bekennt. Der von der EU geplante Militäreinsatz ist jedoch nicht nur völkerrechtswidrig. (3) Sowohl internationale Abkommen als auch das deutsche Grundgesetz sehen nur strafrechtliche Maßnahmen gegen die Schleusung von MigrantInnen vor. Die Beteiligung deutscher SoldatInnen an EUNAVFOR ist somit verfassungswidrig. Dennoch verkündete die Bundeswehr am 1. Juli 2015, die Fregatte Schleswig-Holstein und das Versorgungsschiff Werra, die für die Bundeswehr 2015 im zentralen Mittelmeer mit der Aufgabe der Seenotrettung im Einsatz waren, seien nun Teil der neuen EU-Militärmission. (4) Die Verschiebung der Prioritäten könnte deutlicher kaum sein: Seenotrettung wird zur Nebensache, um den Kampf gegen Schlepper weiter zu forcieren.

PR-Strategie soll Reputationsverlust verhindern
Die Risiken und Gefahren des Einsatzes werden in internen EU-Papieren (5) offen benannt: Der Verlust von Menschenleben wird als mögliche Folge des Einsatzes mehrfach erwähnt. Auch „die Bedrohung der Einsatzkräfte“ sollte anerkannt werden, so das Papier. Die geleakten Papiere zeigen, dass für die EU jedoch nicht die Tatsache problematisch ist, dass die hochriskante Militäroperation mit hoher Wahrscheinlichkeit Menschenleben kosten wird. Sorgen bereitet vielmehr der drohende Reputationsverlust: „Wahrgenommene Verstöße der EU-Einsatzkräfte“, „öffentliche Missverständnisse“ über die „Aufgaben und Ziele“ der Mission sowie über Verluste von Menschenleben, für die EU-Einsatzkräfte verantwortlich gemacht werden könnten, drohten dem Ruf der EU Schaden zuzufügen.

Um dem vorzubeugen, empfehlen die AutorInnen der internen Papiere eine „Informationsstrategie“, die „den Zweck der EU-Operation hervorheben“ und „Erwartungshaltungen handhabbar“ machen soll. (6) Die PR-Strategie solle der Annahme vorbeugen, dass „der Fokus die Rettung von MigrantInnen auf See“ sei und „unterstreichen, dass das Ziel der Operation die Zerstörung des Geschäftsmodells der Schleuser ist.“ Unverhohlen wird der Tod von Flüchtlingen in Kauf genommen, gleichzeitig sorgt sich die Friedensnobelpreisträgerin EU um ihre Reputation in der Öffentlichkeit.

Inzwischen wurden bereits Kriegsschiffe, U-Boote, Drohnen und Hubschrauber im zentralen Mittelmeer in Stellung gebracht – Phase eins hat begonnen. (7)

Krieg gegen Schlepper – Krieg gegen Flüchtlinge?
Die EU-Dokumente lassen keinen Zweifel daran, dass sich der angebliche Krieg gegen Schlepperorganisationen zu einem Krieg gegen Flüchtlinge auszuweiten droht. Doch nicht nur die Flüchtlinge wird der Einsatz treffen. Die EU gesteht in den geleakten Dokumenten ein, dass die Militäroperation den Bürgerkrieg in Libyen verschärfen und die Konflikte im Land befeuern könnte. Die EU würde außerdem in eine militärische Auseinandersetzung mit Libyen geraten, mit Eskalationspotential: Der libysche Luftwaffenkommandeur Saqr Al-Jaroushi machte Ende Juni unmissverständlich gegenüber Medien klar: „Jedes Schiff, das sich ohne vorherige Erlaubnis in libyschen Gewässern befindet, wird zum Ziel der Luftwaffe“.(8)

Das Szenario ist vollkommen absurd und heuchlerisch: Während die EU unbeirrt Abwehrstrategien selbst mit militärischen Mitteln vorantreibt und weitere Todesfälle in Kauf nimmt, ist längst klar: Flüchtlinge können durch Zäune, Mauern und Kriegsschiffe nicht daran gehindert werden, weiter nach Schutz zu suchen. Die Fluchtwege werden jedoch immer gefährlicher. Aktuelle Berichte dokumentieren, was mit Flüchtlingen in Libyen passiert, denen die EU nun auch mit militärischen Mitteln die letzte Chance zur Flucht nehmen will. Schutzsuchende werden regelmäßig zu Opfern von Entführungen, Folter, Misshandlungen, Vergewaltigungen und anderen Menschenrechtsverletzungen, so Amnesty International in einem kürzlich veröffentlichten Bericht. (9)

Der Aufschrei gegen die Militäroperation EUNAVFOR Med ist bisher verhalten – möglicherweise, weil das Sterben im Mittelmeer ab Mai zurückgegangen ist. Die Todesrate bei Überfahrten in den ersten vier Monaten in diesem Jahr war jedoch so hoch war wie noch nie. Von 1.000 Menschen, die zwischen Januar und April die Überfahrt wagten, verloren durchschnittlich 45 bei Bootsunglücken ihr Leben. (10) Nach den Katastrophen vom April 2015 hatten die EU-RegierungschefInnen eine Verdreifachung des Budgets der Frontex-Operation Triton beschlossen sowie die geographische Ausweitung des Einsatzes. Tatsächlich konnte die Seenotrettung damit verstärkt werden, doch die Grundproblematik bleibt: Frontex ist keine Seenotrettungsagentur und verfügt nicht über das notwendige Mandat, um eine umfassende Seenotrettung sicherzustellen. Die Abwehr an Europas Außengrenzen lässt sich mit der Rettung und dem Schutz von Flüchtlingen nicht vereinbaren. Außerdem werden zunehmend Schiffe in den Dienst von EUNAVFOR Med gestellt, wie im Falle der Bundeswehrschiffe – hier steht die Rettung aus Seenot hinter dem Ziel der Schleuserbekämpfung zurück.

Dass viele Rettungseinsätze allein über zivilgesellschaftliches Engagement und private Rettungsinitiativen sichergestellt werden, ist ein Armutszeugnis für Europa. Initiativen wie die 'Sea-Watch' (11), das 'Alarmphone' (12) für Bootsflüchtlinge in Seenot oder MOAS (Migrant Offshore Aid Station) leisten dort unschätzbare Hilfe, wo europäische Staaten ihren humanitären Verpflichtungen nicht nachkommen.

Anstatt immer neue Abwehrszenarien zu bemühen, muss endlich eine tatsächliche Wende Europas Flüchtlingspolitik von Grund auf erneuern. Mit Blick auf das zentrale Mittelmeer würde das bedeuten, in Libyen festsitzende Flüchtlinge zu evakuieren, eine zivile europäische Seenotrettung einzurichten und Schutzsuchenden legale Wege nach Europa zu eröffnen, damit sie die lebensgefährliche Flucht über Libyen nicht mehr auf sich nehmen müssen. Nur so können weitere Todesfälle verhindert werden, nur so würde auch Schleppernetzwerken tatsächlich die Grundlage entzogen werden.

 

Anmerkungen
1 http://www.spiegel.de/politik/ausland/mittelmeer-handelsschiffe-retten-m...

2 http://www.consilium.europa.eu/en/press/press-releases/2015/06/22-fac-na...

3 http://www.forum-menschenrechte.de/cms/upload/PDF/2015/Auslagerung_der_G...

4 http://www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/!ut/p/c4/NYu7DoMwEAT_yIcbUNIFuUkX...

5 http://www.statewatch.org/news/2015/may/eu-military-refugee-plan-EUMC.pdf

6 http://www.statewatch.org/news/2015/may/eu-military-refugee-plan-PMG-882...

7 https://euobserver.com/foreign/129229

8 http://af.reuters.com/article/commoditiesNews/idAFL8N0Z94C720150623?page...

9 https://www.amnesty.org/en/articles/news/2015/05/libya-horrific-abuse-dr...

10 Philippe Fargues/ Anna Di Bartolomeo 2015: Drowned Europe. Migration Policy Center, EUI: 3: http://cadmus.eui.eu/bitstream/handle/1814/35557/MPC_2015_05_PB.pdf?sequ...

11 http://sea-watch.org/

12  http://www.watchthemed.net/index.php/page/index/12

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Krisen und Kriege