Israel-Palästina: „Wie könnt Ihr schweigen?“

Krieg im Gazastreifen – Militäroperationen im Westjordanland – Hausabriss und Vertreibung

von Johannes Zang

Am 14. Tag des Waffenstillstands zwischen Israel und der Hamas wurde der palästinensische Friedensaktivist Tamam al-Saadi in Jenin im nördlichen Westjordanland getötet. Am 1. Februar kehrte der 27-jährige Krankenpfleger nicht nach Hause zurück. Auf dem Heimweg vom Krankenhaus verlor er durch Israels Militäroperation Iron Wall (Eiserner Vorhang) sein Leben. Über die Art der Tötung – israelisches Bombardement oder Drohnenangriff – gehen die Berichte auseinander.

Tamam war Mitglied der Young Ambassadors for Peace (YAP), einem Programm des Parents Circle – Family Forum, in dem sich seit genau 30 Jahren mittlerweile 800 Hinterbliebene beider Seiten für Verständigung und Versöhnung einsetzen. Tamar Shamir, Israelin und auch YAP-Aktivistin, beschrieb ihren palästinensischen Mitstreiter vier Tage nach seinem Tod als „Führungspersönlichkeit, als freundlich, intelligent und voller Leben.“ (1)

Schon am dritten Tage der Waffenruhe hatte die israelische Menschenrechtsorganisation B´Tselem die Presseerklärung „This is not what a ceasefire looks like“ (So sieht kein Waffenstillstand aus) herausgegeben und auf die seit Oktober 2023 stetig zunehmende Gewalt durch Armee und jüdische Siedler*innen im Westjordanland hingewiesen. „Seit über 15 Monaten führt Israel einen totalen Krieg gegen das gesamte palästinensische Volk“, erklärte die in West-Jerusalem ansässige Organisation. Seit Inkrafttreten der temporären Waffenruhe habe „Israel seine Gewalt gegen Palästinenser im Westjordanland intensiviert“. Durch die USA und Saudi-Arabien zum Schweigen der Waffen gezwungen, „nutzt die israelische Regierung diese Pause als Vorwand und Chance, die Unterdrückung der Palästinenser im Westjordanland zu verstärken“. (2)

Mittlerweile behindern (in vielen Fällen: verhindern) 898 Kontrollpunkte Straßensperren und Tore den Transport von Menschen und Waren im Westjordanland, das etwa so groß wie der Regierungsbezirk Unterfranken ist. (3) Für die circa 35 Kilometer lange Fahrt von Bethlehem in die heimliche Hauptstadt Ramallah muss man bis zu zehn Stunden einplanen. Selbst in der Hochphase der zweiten Intifada (2000-2005) waren es weniger Hindernisse. Ebenfalls kleiner war damals die Zahl der Administrativhäftlinge: Laut der palästinensischen Menschenrechtsorganisation Addameer sitzen 3.405 Palästinenser*innen in israelischer Administrativhaft – ohne Anklage oder Prozess; ingesamt sind es aktuell 9.500 „politische Gefangene“, darunter 350 Kinder und 21 Frauen.  Eine der Haftanstalten – Sde Teiman in der Negev-Wüste – wird Israels „Guantanamo“ genannt. (4)

Systematische Menschenrechtsverletzungen

Womit Palästinenser*innen dort zu rechnen haben, hat im letzten Sommer B´Tselem im 118-Seiten-Report „Welcome to hell“ (5) dargelegt, in dem offen von „Folterlagern“ die Rede ist. Zeugenaussagen von 55 Palästinenser*innen (30 aus dem Westjordanland/Ost-Jerusalem, 21 aus dem Gazastreifen, vier Palästinenser*innen mit israelischer Staatsbürgerschaft) offenbaren systematische Misshandlung und Folter. Das reicht von willkürlicher Gewalt, sexuellen Übergriffen, Beleidigung sowie Erniedrigung über das Vorenthalten adäquater Ernährung, Körperhygiene und medizinischer Versorgung, Überbelegung (20 statt sieben Häftlinge pro Zelle), Schlafentzug, Verbot der Religionsausübung, Beschlagnahme persönlicher Gegenstände (z.B. Koran), Verbot des Hofgangs (in einem Fall: 191 Tage), Kommunikationsverbot mit der Familie, Abstellen des Stroms, Dauerbeleuchtung bis zum Salutierzwang beim Hissen der israelischen Flagge oder Hundeangriffen. Seit Oktober 2023 starben dabei mindestens 59 Palästinenser*innen, darunter 38 aus dem Gazastreifen; seit Beginn der Besatzung 1967 bis Ende Februar 2025 sind es 296 Tote „infolge systematischer Folter“. (6)

Bewegungsunfreiheit, Siedlergewalt, (oft tödliche) Razzien mit Festnahmen, Vertreibung von allein 40.000 Menschen aus drei Flüchtlingslagern im Norden des Westjordanlands, wo es erstmals seit der zweiten Intifada Luftangriffe der israelischen Armee gab, dazu Hausabrisse fast überall. Kein Wunder, dass Menschen zwischen Jenin und Hebron der Meinung sind: Nun sind wir dran. Dazu kommen Landenteignung und beschleunigter Siedlungsbau. Regelmäßig veröffentlicht die Settlement Watch-Abteilung der Friedensorganisation Schalom Achshav (Frieden Jetzt/Peace Now) Presseerklärungen zu Siedlergewalt, der Errichtung neuer Außenposten oder der Zwangsräumung von Häusern. Zwei Beispiele: „Höchster Gerichtshof ordnet die Zwangsräumung der Familie Gheith aus Batan al-Hawa (7) zugunsten von Siedlern an“ (11.9.24) und: „Seit der Wahl von Trump: Beispielloser Anstieg bei Genehmigungen im Siedlungsplan“ (24.3.25) (8). Peace Now hat kürzlich mit Kerem Navot (Nabots Weinberg) den 62 Seiten umfassenden Bericht „Der Böse Samariter. Landnahme mittels Beweidung durch israelische Siedler im besetzten Westjordanland“(9)vorgelegt. Fazit: Siedler haben Weide-Außenposten errichtet und sich so 14 Prozent der Fläche des Westjordanlands angeeignet.

Einer, der davon ein trauriges Lied singen kann, ist der palästinensisch-christliche Friedensaktivist Daoud Nassar vom Projekt Zelt der Völker bei Bethlehem. Daoud Nassar, der seit über 30 Jahren vor israelischen Gerichten für sein Begegnungsprojekt kämpft und immer von „Glaube, Hoffnung, Liebe“ und „der Sonne der Gerechtigkeit“ gesprochen hat, sieht nur drei Optionen für seine Landsleute: „Gewalt; als Sklaven zu arbeiten oder das Land zu verlassen“. (10) Letzteres hätten seit dem 7. Oktober 2023 fast 150 Familien aus dem Raum Bethlehem getan; andere Quellen nennen doppelt so viele Familien.

Und Gaza?

Donald Trumps Plan von der „Riviera des Nahen Ostens“ samt Umsiedlung der Palästinenser*innen hat im Gazastreifen Angst, Empörung und Wut ausgelöst. Auf der israelisch-palästinensischen Plattform +972 mag nannte der aus Gaza stammende Journalist Mahmoud Mushtaha den Plan einen der „ethnischen Säuberung“. (11) Etwa ein Dutzend Menschen aus dem Gazastreifen lässt er zu Wort kommen, wie den Fischer Mahmoud Al-Shurafa, 43, der wegen israelischer Fischereibeschränkungen kaum von seinem Beruf leben kann. Israel kontrolliere doch schon alles, „unser Wasser, Land und unsere Luft. Was wollen sie noch mehr?“ Die 21 Jahre alte Studentin Lina Al-Safadi, die wegen des Krieges ihren Traum vom Studium im Ausland begraben musste, entgegnet Trumps Ankündigung: „Wir sind doch kein verlassenes Gebäude, vom dem jemand behaupten kann, er sei der Eigentümer. Wir sind Menschen.“ Ali Al-Hendi, ein Lokaljournalist, sieht in Trumps Vorschlag den „Kulminationspunkt von Israels Genozid“. Das alles sei „Teil einer Strategie: Gaza bombardieren, aushungern und unbewohnbar machen und dann als Akteur auftreten, der uns durch die Übernahme einen Gefallen tut“. Ähnlich sieht das der Historiker Mamdouh Jarada, für den die „Entvölkerung Gazas seit Jahren auf Israels Agenda steht“. Für jeden, der die palästinensische Geschichte kenne, sei das nichts Neues: „Es ist eine andere Version der Nakba.“

Hatte die Waffenruhe immer wieder durch kleinere Operationen des israelischen Militärs Schaden genommen, so wurde sie in der Nacht vom 17. auf den 18. März endgültig zerschossen. Über 400 Tote, fast die Hälfte Kinder. Stunden später erklärte B´Tselem: „Vergangene Nacht hat die israelische Regierung die Waffenruhe verletzt, das wahllose Töten und die Vertreibung von Zivilisten wiederaufgenommen und entschieden, das Leben der israelischen Geiseln zu opfern um einen totalen Krieg, dem man dem palästinensischen Volk erklärt hat, voranzubringen – das alles mit Rückendeckung der US-Regierung und um des politischen Überlebens von Netanyahu willen.“ (12)

Die UNO-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese meinte, „wir können nicht einfach dabei zusehen, wie die führenden Politiker der Welt NICHTS TUN. Dies ist eine Beschleunigung des Völkermordes, den Israel am gesamten palästinensischen Volk begeht. Wir haben es bereits versäumt, diesen zu verhindern, und unsere Regierungen haben jetzt eine noch größere Verpflichtung, ihn sofort zu stoppen.“ (13) Und der seit 15 Jahren in Berlin lebende israelische Schriftsteller Tomer Dotan Dreyfus fragt in seinem Gedicht: „Wie könnt ihr schweigen?! Wie? Wie? Wie? Wie? Wie? Erklärt mir bitte AutorInnen, KünstlerInnen, KolumnistInnen, wie könnt ihr schweigen? Wie? Ich verliere noch den Verstand.“

Anmerkungen:

Johannes Zang (Jg. 1964) aus Goldbach bei Aschaffenburg hat sich dreimal länger in Israel/Palästina aufgehalten (1985-87, 1999-03, 2005-08). Er arbeitete als Zitronenpflücker in einem Kibbuz in der Nähe des Gazastreifens, als Musiklehrer in Bethlehem während der 2. Intifada (Aufstand) und als freier Journalist in Jerusalem. Sein aktuelles, fünftes, Buch heißt Kein Land in Sicht? Gaza zwischen Besatzung, Blockade und Krieg und ist im Sommer 2024 bei PapyRossa in Köln erschienen. Zang hat über 350 Vorträge/Lesungen im deutschsprachigen Raum sowie in England zu Israel/Palästina gehalten und über 60 Gruppen auf Pilger-, Begegnungs- und politischen Studienreisen durch Israel, Palästina, Jordanien und im Sinai begleitet. Er spricht Arabisch und Hebräisch und betreibt seit 2021 den monatlichen Podcast Nahost Jeru-Salam. Seine Internetseite: https://jerusalam.info/

Rubrik

Krisen und Kriege
Johannes Zang (Jg. 1964) hat insgesamt fast 10 Jahre in Israel und den Besetzten Gebieten gelebt. Er arbeitet als Pilgerführer im Heiligen Land, freier Referent und Journalist und lebt bei Aschaffenburg. Aktuelles Buch: Begegnungen mit Christen im Heiligen Land, Echter, Würzburg.