"Ländlicher Nazismus" kommt nach Sarajewo

Krieg in Bosnien-Herzegowina:

von Tihomir Loza

Der langerwartete Krieg um Bosnien-Herzegowina hat begonnen. Es ist der Krieg, von dem viele fürchten, daß er nie enden wird. Es ist auch der Krieg, der nationalistische Konflikte im ganzen Balkan auslösen könnte. Und es ist ein Krieg von besonderer Härte, der die lange Geschichte von Toleranz und Koexistenz in dieser Republik beenden könnte.

Ein prominenter serbischer Kommentator einer Sarajever Tageszeitung hat die Aktionen von Radovan Karadzic und der Serbischen Demokratischen Partei (SDS) in Bosnien-Herzegowina als "ländlichen Nazismus" bezeichnet. Wenn man bedenkt, daß Karadjic den Sarajever Vorort Pale als seinen Stützpunkt gewählt hat und daß serbische Kämpfer unter Unterstützung der Jugo-slawischen Volksarmee aus ländlichen Gebieten her angreifen, wird es klar, daß die SDS das Land als ihre natürliche Heimat und die Städte als feindliches Territorium ansieht.

Auf dem Land klingt die Idee einer Aufteilung des Landes nicht so verrückt wie in der Stadt. Der Grund ist: Wenn man in Sarajevo (oder Banja Luka, Mostar, Travnik, Tuzla) ist, würde die Vor-stellung, die Stadt nach ethnischen Grenzen aufzuteilen, bestenfalls als ein mißlungener Witz aufgenommen werden, denn es gibt einfach keine friedliche Methode, nach der entschieden wer-den könnte, welches eine serbische, moslemische oder kroatische Region ist, wem diese oder jene Straßenbahnlinie gehört, welches Krankenhaus wem gehört und so weiter. Dörfer sind in der Regel ethnisch uniform, und daher erscheinen ethnische Regionen ihren Einwohnern nicht fremd.

Dies erklärt, warum Karadzic es für unbedingt notwendig hält, Sarajevo zu besiegen. Sarajevos Vielfältigkeit ruiniert sein Ziel. In den Monaten vor der Unabhängigkeit am 6. April begann die ju-goslawische Volksarmee, ihre Ausrüstung in die Berge rund um die Stadt zu bringen. Mitte Februar war Sarajevo eingekesselt. Die SDS mußte auch dafür sorgen, daß Bosniens multinationales Innenministerium zerschlagen wurde. Besonders wichtig war die Zerstörung der Spezialeinheit des Ministeriums, die in den vergangenen zehn Jahren Methoden der Terrorismusbekämpfung ent-wickelt hatte.

In der Nacht vom 4. zum 5. April schaffte eine serbische Gruppe aus dieser Spezialeinheit Ausrüstung aus der Basis und zerstörte alles, was sie nicht mitnehmen konnte. Unmittelbar danach fand ein Angriff auf die Polizeischule in der Nachbarschaft statt. Lehrer und Schüler, die meisten unter 18 Jahren, wurden als Geiseln genommen.

So begann der Krieg in Sarajevo. Das Serbische Innenministerium griff, zusammen mit Terroristen und einer Sammlung von Junkies und Psychopathen die Stadt an. Der Leiter dieser Spezialabteilung des Innenministeriums, Vikic, blieb, wie viele andere serbische Beamte, der legalen Regierung treu und leitet jetzt die Verteidigung von Sarajevo. Am 5. April führten Friedensdemonstrationen zu der Volksversammlung im nationalen Parlament. Vikic und seine Einheit eliminierten die Hecken-schützen in dem Holiday Inn Hotel, die auf die Demonstrierenden geschossen hatten, während Karadzic nach Pale floh. Zwei gefangengenommene Heckenschützen gaben an, daß sie für "jede Kugel, die traf", 500,- DM von der SDS versprochen bekommen hätten.

Die Bombardierung einzelner Teile Sarajevos ist von da an ein beinahe tägliches Vorkommnis geworden. Von zehn Uhr nachts bis fünf Uhr morgens herrscht Ausgangssperre. Trotzdem gelingt es Gruppen von Kriminellen, zu plündern, was geplündert werden kann, denn sie sind gut bewaffnet. Viele Plünderer infiltrieren die Ränge der Territorialverteidigungseinheiten und benutzen deren Uniformen als Deckmantel. In einem Stadtbezirk gaben verkleidete Kriminelle vor, durch wildes Umsichschießen einen "Heckenschützen" festzunehmen und befahlen den Anwohnern, von ihren Fenstern fernzubleiben. Zwanzig Minuten später fanden diese heraus, daß ihr örtlicher Lebensmittelmarkt geleert worden war.

"Dies ist eine Stadt. In jedem Sinne des Wortes. Im phantastischsten Sinne, den dieses Wort besitzt." So schrieb Ivo Andric, ein Nobelpreisträger aus dieser Gegend, der im tiefsten Inneren Bosniens im antiken Travnik geboren wurde. "Ruraler Nazismus" ist ein außergewöhnlich präziser Begriff. Jene, die auf die Stadt (besser: Städte) schießen, haben offensichtlich eine existentielle Angst vor der Stadt als solcher. Nicht weil diese oder jene Stadt muslimisch oder kroatisch ist, sondern einfach weil sie eine Stadt ist. Im Sarajevo von heute ist es sehr schwierig, einen Serben zu treffen, der unterstützen würde, was Karadjic tut, wenn auch vielleicht allein aus dem Grunde, weil dessen Granaten nicht zwischen Wohnungen unterscheiden, die von Serben, Moslems und Kroaten bewohnt werden. Und selbst auf dem Land entsteht allmählich eine Opposition gegen Karadjic' Aktionen.

Dieser Artikel wurde gekürzt aus "Yugofax" vom 7. Mai übernommen. Tihomir Loza lebt in Sarajevo. Übersetzung: cs

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