Krieg ist keine Frage der Moral, sondern der Interessen

von Werner Rätz

Der hier zur Verfügung stehende Platz erlaubt es nicht, das Thema auch nur annähernd präzise darzustellen. Ich kann nur Argumentationsschritte thesenartig antippen, ohne sie im Einzelnen zu entwickeln.

  1. Eine ausführliche Auseinandersetzung um das Thema fand 1983 - 85 anhand der Forderung "BRD raus aus der NATO" statt. In dieser Debatte war es Konsens aller Strömungen der Friedensbewegung, daß die NATO dabei sei, mehr und mehr ein Kriegsführungsbündnis zu werden. In der Kampagne gegen Pershing II und Cruises Missiles wurden der NATO von der gesamten Bewegung aggressive Absichten unterstellt. Fast alle - bis auf Teile des linken Flügels - gin¬gen vom Szenario eines beabsichtigten "Enthauptungsschlages" gegen die SU aus. Wer heute von Friedensfähigkeit der NATO redet, müßte das als Fehleinschätzung von gestern abtun oder sagen, was denn inzwischen an der NATO-Politik anders geworden ist.
  2. Mit der Abrüstung von Pershing und Cruises verbindet sich bei der NATO kein Aufgeben militärischer Optionen. Sie werden durch See- und Luftstationierungen, britische und französische Aufrüstungen. und geplante Modernisierungen voll kompensiert. Alle Aufrüstungsprogramme der NATO laufen weiter, gebremst nur ab und an durch finanzielle Engpässe. Sowjetische Vorleistungen finden keine Entsprechung bei der NATO.
  3. Alle realen Kriege, bei denen der Ost-West-Konflikt tatsächlich oder vorgeblich eine Rolle spielt, finden weiterhin statt. Der Golfkrieg als einzige Ausnahme paßte nie so ganz in das Ost-West-Schema. In Afghanistan, Kampuchea, Angola geht es lediglich darum, daß die Großmächte ihr direktes Engagement zurücknehmen. Ein wirkliches Ende der Kriege ist so wenig in Sicht wie in Mittelamerika oder in Palästina.
  4. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß die Beziehungen der westlichen Länder zur "3. Welt" friedlicher würden. Im Gegenteil, imperiale Ansprüche werden nach wie vor offen formuliert. So heißt es in einem Text des "Aktionskomitees für Europa" von 1988 (an dem u. a. A. Dregger, K. Carstens, E. Bahr und O. Lafontaine mitgearbeitet haben), die "europäischen Sicherheitsinteressen" gingen mehr und mehr über den Warschauer Pakt hinaus, sie seien "global". Deshalb müsse Europa "zu jedem Zeitpunkt sowohl politisch wie strategisch handlungsfähig sein".
  5. Die Drohung mit dem Krieg bleibt also stabiles Element der westlichen Politik, ebenso wie der reale Krieg überall dort, wo er nicht in Gefahr steht, zum ganz großen Konflikt zu eskalieren. Diesen scheut auch die NATO offensichtlich. Es spricht nichts dafür, daß dies einen anderen Grund hätte als den, daß er auch ihre eigene Vernichtung bedeuten würden, solange die UdSSR als Weltmacht mit den entsprechenden Möglichkeiten existiert.
  6. Folgerichtig setzt die NATO alles daran, diese Rolle der UdSSR zu untergraben. Das stillschweigende Arrangement der letzten Jahrzehnte, keine allzu weitgehenden Einmischungsversuche und Destabilisierungspolitik in den Kernländern des jeweils anderen Bündnissystems zu unternehmen, gilt offensichtlich westlicherseits nicht mehr. Das Eindringen von IWF und Weltbank in die östlichen Volkswirtschaften entspricht ihrem Agieren in der "3. Welt". Die sowjetische Formel vom "gemeinsamen Haus Europa" umfaßt keine ähnlichen Einwirkungsmöglichkeiten auf politische, gesellschaftliche oder gar ökonomische Prozesse in Westeuropa. Tendenziell wird beiderseitige relative Nichteinmischung ersetzt durch ein¬seitige Abhängigkeit auf der Basis extrem ungleicher und ungerechter Wirtschaftsbeziehungen.
  7. Die weitere Ausgestaltung dieser Beziehungen ist nicht ins Belieben der beteiligten Regierungen gestellt. Keine westliche Regierung ist in der Lage oder wäre auch nur zu dem Versuch bereit, Politik gegen die Interessen ihrer großen Kapitale zu gestalten. Kapital aber steht bei Strafe seines Untergangs vor dem Zwang, sich zu vermehren. Das ist keine Frage des Wollens seiner Besitzer, sondern eine ökonomische Notwendigkeit. Ein Kapital, daß auf längere Sicht unfähig ist, Profite zu realisieren, ist nicht überlebensfähig.  So sind imperialistische Wirtschaftsbeziehungen immer auf Ausbeutung angelegt. Ausbeutungsbeziehungen aber enthalten ein unerschöpfliches Konfliktpotential: die Benachteiligten wehren sich irgendwann, die Bevorteilten versuchen, das zu verhindern – mit allen Mitteln, wie das Beispiel der „3. Welt“ zeigt.
  8. Worum es also letztendlich geht, sind die Profite des westlichen Kapitals. Aus diesem Interesse resultierte der militärische Bereich als sein materieller Ausdruck. Diese Konstellation schließt immer die Möglichkeit des Einsatzes militärischer Mittel zur Sicherung wirtschaftlicher Interessen ein. Ob dies tatsächlich geschieht, ist lediglich eine Frage davon, wie die Erfolgsaussichten stehen. Und die werden um so besser, je abhängiger die Länder Osteuropas und je blauäugiger und ignoranter vor der Kriegsgefahr die Friedensbewegungen im Westen werden.

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Werner Rätz ist aktiv bei der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn und für diese im Koordinierungskreis von Attac Deutschland, ebenfalls im Blockupy-Kokreis. Webseite: www.werner-raetz.de