Ostukraine

Tagsüber ist es ruhig

von Bernhard Clasen
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege
( c ) Netzwerk Friedenskooperative

Die Dörfer an der Front in der Ostukraine wirken wie ausgestorben. Wer konnte, hat diese Gegend verlassen, in der es tagsüber totenstill ist und man nachts nicht schlafen kann, aus Angst vor Schüssen oder wegen der Explosionen – in der Ferne oder auch in der Nachbarschaft.

Mit Juristen der „Menschenrechtsgruppe Charkiw“ besuchte der Autor im Herbst 2017 einige von der ukrainischen Regierung in Kiew kontrollierte Ortschaften in der Nähe von Lugansk in der Ostukraine.
 
Im Dorf Verchnja Vilchova
Im Hof der 83-jährigen Antonina Grigorjewna, wo die Großfamilie Petuchow wohnt, hat der Herbst zum letzten Mal seine Wärme ausgebreitet. Hier braucht man sich nur ein wenig zu strecken und schon hat man die dunkelblauen reifen Trauben der Weinlaube in der Hand, die sich wie ein Dach über eine Hälfte des Hofes spannt. Ein paar Familien wohnen in dem Dorf ohne asphaltierte Straßen, ohne Geschäfte und ohne Kirche. Arbeit gibt es kaum. Man baut Gemüse an, hält sich ein paar Hühner oder Kühe, und wer Mut hat, schmuggelt Waren in die „Volksrepublik Lugansk“.

Gerade einmal fünf Kilometer sind es von hier in die nächste Stadt. Doch die heißt Lugansk und ist Hauptstadt der sog. „Volksrepublik Lugansk“. Und deswegen dauert die Fahrt dorthin Stunden. Verzweifelt sitzt Antonina Grigorjewna auf der Holztreppe ihres kleinen Bauernhauses in der Kirowa-Straße 23 und weint.

Die Zigarettenkippen am Boden sind von ihren beiden Enkeln, Alexander und Nikolaj. Doch am 31. August ist Nikolaj Petuchow, sie nennt ihn zärtlich nur „Kolja“, nicht mehr nach Hause gekommen. „Kolja ist verschwunden“ stammelt sie durch ihre Tränen. Er habe doch nur einer Frau geholfen, ein paar Sachen über den Checkpoint zu tragen, der bereits in der „Volksrepublik Lugansk“ liegt. Und außerdem müsse er doch seine beiden Kinder irgendwie ernähren. Und dort sei er verhaftet worden. Man habe ihm noch zugerufen, aber auf der anderen Seite des Checkpoints hatten sie ihn einfach abgeführt. Seitdem gibt es von ihrem Kolja kein Lebenszeichen mehr.

Der heute 22 Jahre alte Kolja sei ihr sehr ans Herz gewachsen. Nachdem Koljas Vater ermordet war, als Kolja gerade einmal ein Jahr alt war, habe sie mit ihrer Schwiegertochter Ljubow Borodina den Jungen groß gezogen.
Sofort nach Koljas Verschwinden ist seine Mutter auf die andere Seite, nach Lugansk, gefahren. Doch niemand konnte ihr sagen, wo Kolja wäre.

Valentina Chutrenko im Dorf Zolotoe 1
Valentinas Hof, umzäunt von einem hohen Holzzaun, der keinen Blick in das Innere freigibt, liegt direkt an der Dorfstraße. Bis zum 25.7.2014 noch hatte sich ihr 42-jähriger Sohn Igor, ein Bergarbeiter, häufig in diesem Haus aufgehalten.

Doch am 25.7.2014 hatte sich dieser zu Fuß auf den Weg nach Sewerodonezk gemacht, zu seiner Frau. Und er ist nie bei ihr angekommen. Sein Weg nach Sewerodonezk hatte ihn durch ein Gebiet geführt, das damals von den rechtsradikalen Freiwilligeneinheiten „Tornado“ und „Aidar“ kontrolliert worden war. Valentina macht diese Freiwilligenbataillone für das Verschwinden ihres Sohnes verantwortlich. Irgendwann danach hatte Valentina einen Anruf von einem Beerdigungsinstitut erhalten. Man habe die Leiche ihres Sohnes gefunden, diese jedoch sofort ins Leichenschauhaus von Pervomaisk geschickt, hatte die Anruferin ihr lapidar mitgeteilt. Pervomaisk liegt in der sog. „Volksrepublik Lugansk“. Valentina hatte sich auch an die Miliz und andere Behörden gewandt. Doch niemand konnte ihr sagen, wo sich der Leichnam von Igor befinde. Allerdings händigte man ihr auf der Miliz ein Foto ihres toten Sohnes aus. Auf diesem Foto ist unter dem offenen starren linken Auge des toten Igor eine blutunterlaufene Stelle zu sehen. Auch an anderen Stellen des Körpers finden sich Spuren von Misshandlungen.

Alles verloren
Verloren sieht Sergej Schewtschenko vom Markt des Dorfes Zolotoe 1 hinunter in die Ferne. Dort ist die andere Seite, die „Volksrepublik Lugansk“. Es ist ruhig hier im Dorf. Auf dem Markt sind zwei Dutzend Menschen, decken sich mit Kartoffeln, Zwiebeln, Gurken, Tomaten, Paprika, und wer es sich leisten kann, einem Stück Fleisch, ein. Hier zwei Kilometer weiter liegt Perwomaisk. Und dort hat er 30 Jahre als Dreher in einem Betrieb gearbeitet. Doch heute kann er dort nicht mehr hin. Zwischen Zolotoe 1 und Perwomaisk liegt die Front. Einige Arbeitskollegen und Freunde leben noch drüben. Ab und zu mal spreche er mit ihnen am Telefon.

Vor drei Jahren hat ein Geschoss seine Mutter getötet. Sie hatten zusammengelebt, im gleichen Haus. Er hatte sie noch ins Krankenhaus gebracht. Aus welcher Richtung das Feuer gekommen ist, kann er nicht sagen.

Der ukrainische Staat hat ihm Geld für Baumaterial gegeben. Das war auch die einzige Hilfe vom Staat.
 
Menschenrechtsarbeit
Eine der wenigen, die den Betroffenen vor Ort hilft, ist die “Menschenrechtsgruppe Charkiw“.
„Die Ukraine hat ein Gesetz zum Kampf gegen den Terror“, erklärt der Jurist der Menschenrechtsgruppe, Igor Sosonskiy. „Hierin heißt es, dass der Staat verpflichtet ist, Opfern von Terror Schadensersatz zu bezahlen. Gleichzeitig heißt es auch, dass alles weitere in einem eigenen Gesetz geregelt werde.“ Doch bisher gebe es keine Ausführungsbestimmungen. Gleichzeitig sei der Staat verantwortlich für die Opfer von Terror, werde doch dieser bewaffnete Konflikt als „Anti-Terror-Kampf“ bezeichnet. Doch die Opfer dieses Krieges erhalten keinen Schadensersatz, können allenfalls hoffen, als Behinderte oder Versehrte anerkannt zu werden, womit sie dann Anspruch auf eine etwas höhere Rente haben. Bei Militärs sei dies anders, so Sosonskiy. Familien von Militärs, die in diesem bewaffneten Konflikt gefallen seien, können bis zu 20.000 Euro Schmerzensgeld erhalten.
„Die Ukraine ist nicht nur verpflichtet, den Opfern ein Schmerzensgeld zu bezahlen. Sie muss auch in jedem Fall, in dem die körperliche Unversehrtheit eines Menschen in der Ukraine verletzt worden ist, Ermittlungen einleiten. Das wird jedoch in der Regel nicht, oder nicht ausreichend geleistet“, so der Jurist Fjodor Daniltschenko von der Menschenrechtsgruppe Charkiw.

Die meisten Angriffe gegen Objekte auf Gebieten, die von der Ukraine kontrolliert werden, gehen von der sog. „DNR“ und „LNR“ aus. Da diese von Russland kontrolliert werden, sei Russland hierfür mitverantwortlich, so Daniltschenko.

Deswegen werde man in Straßburg Klage einreichen gegen die Ukraine und Russland. Es gebe bereits Präzedenzfälle. So hätten Opfer des Tschetschenien-Krieges und des Konfliktes um Nagornij Karabach Schmerzensgeld durch eine Entscheidung des Europäischen Menschengerichtshofes erhalten.
 
Am „Checkpoint Null“
Checkpoint Null heißt der letzte Checkpoint der von Kiew kontrollierten Seite. Von hier aus sind es nur einige hundert Meter zum Checkpoint der anderen Seite. Hinter dem Stacheldraht ist Niemandsland. Und in diesem leben in den Dörfern Katerinowka und Schachta Rodina 400 Menschen. Zu ihnen kommt man nur mit einer Sondergenehmigung.

Im Niemandsland warten Dutzende von Bewohnerinnen auf die Gruppe. Sie alle wollen, dass die Juristen ihr Mandat übernehmen, für sie einen Schadensersatz herausschlagen, ihren Fall bis nach Straßburg tragen. Und sie wollen auch einfach mal mit Leuten reden, die dort leben, jenseits von „Checkpoint Null“.
Doch die Soldaten lassen sich Zeit beim Überprüfen der Papiere. Die telefonische Anfrage nach Kiew dauert 30 Minuten.
Es ist absolut ruhig hier. Irgendwo in der Ferne kräht ein Hahn. Die Soldaten, die unter dem olivgrünen Vordach des Checkpoints sitzen und rauchen, sind erfreut über die unerwartete Abwechslung. Sie haben Zeit, viel Zeit, und freuen sich, dass sie mit den unerwarteten Zaungästen etwas quatschen können.
„Separ“ heißt der Schäferhund, spricht der Soldat weiter und streichelt einen Schäferhund, der zu seinen Füßen liegt. Man nenne den Hund „Separ“, weil er sich immer auch bei der anderen Seite bei den Separatisten durchfüttern lasse. Und so scheint der Schäferhund zu den Füßen des ukrainischen Soldaten das einzige zu sein, was diese beiden Checkpoints miteinander verbindet.
Ein Mann kommt mit seinem Wagen zum Checkpoint NULL. Was ist das nur für ein Mann, der sich beeilt, rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit im Niemandsland zu sein? Er muss doch wissen, dass dort in der Dunkelheit geschossen wird. Hier wäre er noch in relativer Sicherheit. Warum seine Eile?
Die Soldaten lassen ihn durch. Den Menschenrechtlern aber verbieten sie die Weiterreise.
Die Stimmung ist gedrückt, als sich die Menschenrechtler auf den Rückweg machen. In der Stille der Nacht, als das Auto mit 30 km/h über Stock und Stein durch die „ATO-Zone“ fährt, denken sie alle an die Frauen im Niemandsland, die so sehr auf ihr Kommen gehofft hatten.

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