Krieg und Frieden in Jugoslawien

von Christine Schweitzer

Entmilitarisierung und Bürgerkrieg, Entstehung von Ländern ohne Armee oder erster Einsatzort einer europäischen Schnellen Eingreiftruppe, selbst die Möglichkeit, daß die Konflikte in Jugoslawien später einmal als Beginn des 3. Weltkriegs angesehen werden, ausgelöst durch Nationalitätenkonflikte in ganz Mittel- und Osteuropa, alles ist möglich in dem Land, das 45 Jahre der Bundesstaat Jugoslawien war. Jugoslawien im alten Sinne besteht nicht mehr. Die bundesstaatlichen Institutionen haben aufgehört zu funktionieren; daß es kaum noch möglich ist, Jugoslawien von West nach Ost zu durchreisen, ist nur das sichtbarste Symbol hiervon. Die derzeitige Situation muß sehr differenziert betrachtet werden. Verallgemeinerungen der unterschiedlichen politischen Entwicklungen und Konflikte in den sechs Republiken anzustreben, würde nichts zum Verständnis beitragen. Hier soll nur auf zwei der Probleme eingegangen werden: Slowenien und der kroatisch-serbische Konflikt.

Slowenien ohne Armee?

Slowenien war die erste jugoslawische Republik, die sich - übrigens in einer völlig gewaltfreien Bewegung - demokratisierte. Im April 1990 fanden freie Wahlen statt; im Dezember 1990 entschieden sich über 90 % der Bevölkerung für die Unabhängigkeit. Als die slowenische Regierung nach erfolglosen Versuchen, in Verhandlungen über die Zukunft Jugoslawiens mit den anderen Republiken einzutreten, im Juni die Loslösung von Jugoslawien proklamierte und die Übernahme der Grenzsicherung beanspruchte, intervenierte bekanntlich die jugoslawische Bundesarmee. Daß dieser bewaffnete Konflikt nach kurzer Zeit beendet werden konnte, ist zum wesentlichen Teil Zivilem Widerstand und internationaler Vermittlung zu verdanken.

Ende 1989 entstand die Initiative für ein „Slowenien ohne Armee“. Begründet von der „Bewegung für eine Kultur des Friedens und Gewaltfreiheit“ wurde sie 1990 von über achtzig Gruppen und mehreren slowenischen Parteien übernommen und mitgetragen. Ansatzpunkte der Initiative waren die Konversion von Kasernen in Ljubljana in zivile Einrichtungen, der Abzug der jugoslawischen Bundesarmee und die Diskussion um eine neue Verfassung, in der verankert werden soll: „Slowenien hat keine Armee und keine Rüstungsindustrie. Die Übergangsperiode zur Abschaffung der Armee wird gesetzlich geregelt.“

Unter einer „Friedenserklärung“, die ein „Slowenien ohne Armee“ fordert, wurden mehr als 20.000 Unterschriften gesammelt und im Mai 1991 ein Plan für ein alternatives gewaltfreies Sicherheits­system vorgelegt. Die Kampagne konnte einige kleinere Erfolge verzeichnen, so die Einführung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung, die Reduzierung der Wehrpflicht auf sechs Monate und die Senkung des Militärhaushaltes. Einer Meinungsumfrage im Februar zufolge unterstützten zu diesem Zeitpunkt ca. 38 % der Bevölkerung die Option eines Sloweniens ohne Armee und nur 30 % sprachen sich für den Aufbau eines slowenischen Militärs aus.

Doch noch während Unterschriften für ein „Slowenien ohne Armee“ gesammelt wurden, begannen einige der prominentesten Unterzeichner (u.a. Präsident Kucan) damit, die Territorialverteidigung zu einer slowenischen Armee auszubauen und die Option eines armee­freien Landes auf die spätere Zukunft zu verweisen.

Heute ist die überwiegende Zahl der Slowenen überzeugt, daß der Territorialverteidigung ein Sieg über die jugoslawische Armee gelungen ist; eine Meinung, in der sie von Regierungsseite in zahlreichen Verlautbarungen unterstützt wird. Trotzdem sind die Chancen für eine Entmilitarisierung noch nicht völlig verbaut. Eine denkbare Perspektive, die derzeit im Land viel diskutiert wird, ist, daß Slowenien sich in den Verhandlungen mit der jugoslawischen Bundesregierung und mit Westeuropa, das Interesse an einem „Puffer“ zwischen sich und den gewaltsamen Konflikten in den anderen Republiken Jugoslawiens haben dürfte, bereit erklärt, zu einer entmilitarisierten Zone zu werden. Die Friedensbe­wegungen Westeuropas könnten viel da­zu beitragen, daß diese Möglichkeit realisiert wird: Nämlich indem sie die Poli­tiker ihrer Länder dazu bewegen, Slowenien aktiv auf dem Weg zur Entmilitarisierung zu unterstützen.

Der Feind kommt immer von außen: Kroatien und Serbien

Während der Abfassung dieses Artikels spitzt sich der Konflikt zwischen Kroatien, der serbischen Minderheit in Kroatien und Serbien ständig zu und es ist zu fürchten, daß er zu einem offenen Krieg zwischen den beiden Ländern eskaliert. In der westlichen Öffentlichkeit werden weitgehend serbische Terroristen (Tschetniks) für die Kämpfe verantwortlich gemacht. Weniger bekannt ist, daß es in der Vergangenheit zahlreiche Übergriffe von kroatischer Seite auf Angehörige der serbischen Minderheit gegeben hat. In Kroatien gibt es eine sehr starke extrem nationalistische Strömung, der ebenso wie in Serbien Einheiten bewaffneter Terroristen angehören. Ein oppositioneller kroatischer Journalist berichtete, er habe Beweise für ungefähr fünfhundert Fälle, in denen Serben von Kroaten angegriffen, mißhandelt und in zahlreichen Fällen ihre Häuser zerstört wurden. Es ist sicher richtig, daß Tschetniks die Unruhen für ihre In­teressen ausnutzen und aufständische serbische Dörfer unterstützen. Doch zumindest eine der Wurzeln des Konfliktes muß in Kroatien selbst gesucht werden.

Aufstand für den Frieden

Sehr viele Menschen in Jugoslawien haben die bewaffneten Auseinandersetzungen, die Kriegsgefahr und die Atmosphäre ständiger Angst, die erzeugt worden ist, satt. In den letzten Wochen haben sich in allen Republiken zahlreiche Antikriegsgruppen getroffen, die sich zum Teil erst in jüngster Zeit gegründet haben: unabhängige Frauengruppen, „Elternkomitees für den Schutz von Soldaten in der jugoslawischen Armee“, „Organisationen zum Schutz von Kindern vor dem Krieg“, außerparlamentarische Gruppen und Friedensinitiativen. Sie sind geeint durch den Wunsch, in Frieden zu leben und keinen Krieg zuzulassen. Über weitergehende Perspektiven wie Entmilitarisierung, die Zukunft Jugoslawiens oder auch über die Verantwortlichkeit für die aktuellen Konflikte sind sie höchst geteilter Meinung.

Seit dem 20. Juli haben in fast allen größeren Städten Jugoslawiens Friedensdemonstrationen und Schweigeminuten stattgefunden, an denen insgesamt mehrere hunderttausend Menschen teilge­nommen haben. Es gibt verschiedene Deklarationen und Unterschriftensammlungen, die auch zu Zivilem Ungehor­sam gegen „jede Maßnahme oder Entscheidung durch die Behörden, die die Konflikte verschärfen oder zu Krieg führen könnten“ (aus dem „Appell für einen friedlichen Aufstand“ von Sara­jevo) aufrufen. In Skopje unterzeichneten Ende Juli während einer Demonstration zehntausend Menschen einen „Friedensvertrag“, den die oben erwähnte Ljubljaner „Bewegung für eine Kultur des Friedens und Gewaltfreiheit“ seit 1989 verbreitet. Er enthält fünf Punkte, u.a. die Verpflichtung, an keiner gewaltsamen Aktivität oder ihrer Vorbereitung gegen Mitglieder anderer Nationalitöten oder Einwohner Jugoslawiens teilzunehmen und im Alltag alles zu vermeiden, was Haß gegenüber Mitgliedern anderer Nationalitäten schaffen oder unterstützen könnte.

Der Konflikt in Jugoslawien und die „neue Weltordnung“

Die Krise in Jugoslawien, weniger als ein halbes Jahr nach Ende des Golfkrieges und der Verkündung der „neuen Weltordnung“ durch Präsident Bush akut geworden, hat direkte und verhängnisvolle Auswirkungen auf die sicherheitspolitische Debatte in Europa.

Lange Zeit haben sich Westeuropa und die USA allein auf den Erhalt des territorialen Status Quo in Europa konzentriert. Noch wenige Tage vor Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen in Slowenien warnte US-Außenminister Baker vor dem „Zerfall Jugoslawiens“ und die EG genehmigte einen Kredit in Milliardenhöhe an die Föderation. Erst durch die Intervention der Bundesarmee kam es zu einer gewissen Umorientierung und zu diplomatischen Aktivitäten mit dem Ziel, zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln. Derzeit wird der Einsatz westeuropäischer Truppen („Blauhelme“) zur „Befriedung“ des kroatisch-serbischen Konfliktes diskutiert. Dies wäre für die Europäische Gemeinschaft die erste Gelegenheit, ihr seit längerer Zeit in Vorbereitung befindliches militärisches Standbein auszuprobieren. Die Militarisierung Westeuropas würde - auch wenn es sich diesmal noch um „Blauhelme“ handelt - beschleunigt vorangetrieben.

Tragisch an der Angelegenheit ist, daß viele Menschen in Jugoslawien den Einsatz begrüßen dürften. Schon jetzt ist die Meinung weit verbreitet, daß dies die einzige Chance sei, die Kämpfe zu beenden, weil nur solche neutralen Truppen von allen Konfliktparteien respektiert würden. Es ist gut möglich, daß diese Einschätzung richtig ist. Aber wie wird es das „nächste Mal“ sein? Wenn Westeuropa einmal eine militärische Struktur mit „Blauhelmen“ und „Schneller Eingreiftruppe“ geschaffen hat, wird es dann, wenn in der Sowjetunion, Ungarn oder Rumänien nationale Minderheiten Selbstbestimmung fordern, nicht schnell auf sie zurückgreifen, um den Status Quo zu erhalten?

Dieser Artikel entstand in Anschluß an eine Reise, die die Autorin im Juli 91 im Auftrag des Bundes für Soziale Verteidigung nach Slowenien unternommen hat.

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Hintergrund
Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.