Kriegsdienstverweigerung in Deutschland

von Ulrich Finckh

Seit Kaiser Konstantin wurden und werden Geistliche in Staaten christlicher Tradition vom Militärdienst befreit. Als in der Reformationszeit die Täuferischen verlangten, dass alle Christenmenschen wegen der Feindesliebe Jesu den Kriegsdienst ablehnen sollten, gab das nur allgemeinen Widerspruch, und sie wurden blutig verfolgt, wenn sie nicht rechtzeitig auswanderten. Nach und nach waren dann aber einzelne deutsche Fürsten bereit, Täuferische zu dulden, wenn sie sich das Privileg, von militärischen Aushebungen verschont zu bleiben, durch das Urbarmachen von bisher ungenutztem Land und höhere Steuern erkauften. In Norddeutschland endete diese Duldung mit dem Wehrgesetz des Norddeutschen Bundes 1868. Nach schwierigen Verhandlungen erhielten die Mennoniten die Zusage, nur zum Sanitätsdienst herangezogen zu werden. Aber „zur Ehre des Königs“ mussten sie in Preußen bewaffnet sein und wenigstens ein Seitengewehr tragen. Viele lehnten das ab, und wieder wanderten Tausende aus.

Im 1. Weltkrieg wurden Kriegsdienstverweigerer als kranke Psychopathen behandelt, die von den Militärärzten möglichst rasch wieder fronttauglich gemacht werden sollten. Dann folgte in der Weimarer Republik eine Zeit ohne Wehrpflicht, aber mit Diskriminierungen, die Leute wie den Mathematiker Gumbel zur Emigration brachten. Das bereitete die NS-Zeit in gewisser Weise vor, die sofort mit harten Angriffen auf alle Pazifisten begann. Ihre Bücher wurden schon 1933 als „undeutsch“ verbrannt, verboten und aus den öffentlichen Bibliotheken entfernt. Wer nicht rechtzeitig geflohen war, musste mit Verhaftung und Einlieferung in ein KZ rechnen. Besonders betroffen waren kommunistische Pazifisten wie Ossietzky und fromme wie die damals so genannten „Ernsten Bibelforscher“ (Zeugen Jehovahs). Pazifistische Exilanten wurden ausgebürgert und waren als Staatenlose wichtiger Schutzrechte beraubt.

Im 2. Weltkrieg wurden Kriegsdienstverweigerer nicht mehr als psychisch krank behandelt, sondern als politische Gegner. Befehlsverweigerer und Deserteure wurden zum Tode verurteilt, allenfalls zu langen Zuchthausstrafen und vorheriger Bewährung in Strafbataillonen „begnadigt“. Werbung für KDV wurde als „Wehrkraftzersetzung“ ebenso mit der Todesstrafe bedroht. Doch reichten dafür auch schon kritische Bemerkungen und Zweifel am deutschen Sieg. Allgemein wird heute angenommen, dass 30.000, eventuell sogar 50.000 Todesurteile vom Volksgerichtshof und den Wehrmachtgerichten verhängt und etwa 20.000 Menschen hingerichtet wurden.

Bundesrepublik Deutschland
Nach dem Krieg hat der Parlamentarische Rat nach massenhaften Eingaben von pazifistischen und Frauenorganisationen im Grundgesetz als Teil und Ausfluss der Gewissensfreiheit das Recht der Kriegsdienstverweigerung beschlossen. Aktuell wurde das Recht erst mit der Wehrverfassung und der Wiedereinführung der Wehrpflicht 1955. Das im Grundgesetz vorgesehene Ausführungsgesetz zur Regelung der KDV war dann aber kein Gesetz zum Schutz der Gewissen, sondern ausgerechnet das Wehrpflichtgesetz. Obwohl Artikel 19, 2 GG ausdrücklich vorschreibt, dass in keinem Fall ein Grundrecht im Wesensgehalt angetastet werden darf, wurde mit der Wehrpflicht mindestens das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2, 2 GG) nicht nur angetastet, sondern für Wehrpflichtige aufgehoben. Als das Bundesverfassungsgericht erstmals über KDV zu urteilen hatte, ist es auf die einzelnen Grundrechte überhaupt nicht eingegangen, sondern hat mit anderen demokratischen Staaten verglichen, die auch die Wehrpflicht haben, und hat einfach geurteilt, es könne nicht falsch sein, den Staatsbürger zur Verteidigung der Rechte zu verpflichten, die ihm das Grundgesetz sichert.

Wie wurde die KDV geregelt? Nach Verwaltungsrecht. Das bedeutet, der Verweigerer tritt als Antragsteller auf, der sein Recht begründen und beweisen muss. Aber wie kann man Gewissen beweisen? Das geht natürlich nicht, und diese fatale Regelung nach Verwaltungsrecht hat zu zigtausendfachen Unrechtsentscheidungen über solche Anträge geführt. Während jedem Verbrecher im Strafprozess seine Rechte nur eingeschränkt werden, wenn er eindeutig überführt ist, und er im Zweifel freigesprochen werden muss, konnten Verweigerer einfach abgewiesen werden mit der Begründung, man glaube ihnen nicht oder habe Zweifel an ihrem Vorbringen. Beim garantierten Grundrecht gingen Zweifel zu Lasten des Grundrechtsträgers! Das war in der Praxis deshalb katastrophal, weil in den Prüfungsgremien Leute saßen, die selbst im Krieg Soldat waren oder gar Wehrmachtsrichter. Für viele war KDV ein Angriff auf ihr bisheriges Leben. Außerdem waren die Gremien, die in den Vorinstanzen zu entscheiden hatten, Teil der für die Wehrpflicht zuständigen Wehrverwaltung. Die Vorsitzenden wurden von dieser ausgewählt, bezahlt, informiert, fortgebildet und befördert. Ihre Unabhängigkeit war reine Theorie.

Gleichzeitig lief eine heftige Kampagne gegen Verweigerer, die als „Ohne mich-el“, als winzige Minderheit merkwürdiger Sektierer oder gar als 5. Kolonne des Ostens diffamiert wurden. Um das Problem herunterzuspielen, wurden Verweigerer anfangs vielfach untauglich gemustert und dann auch nicht als KDV registriert. Als 1961 der Aufbau der Bundeswehrkader beendet war und große Einberufungen anstanden, wurde ein Ersatzdienst geschaffen, der die Diffamierung und Diskriminierung der Verweigerer deutlich machte, indem nach der Ersatzdienstzeit, die dem Grundwehrdienst entsprach, eine zusätzliche zweite Dienstzeit von 12 Monaten vorgesehen wurde.

Praktiziert wurde sie aber zunächst nicht, weil es auch nicht die vielen Wehrübungen gab, die sie angeblich ausgleichen sollte. Da der Ersatzdienst vor allem als „Ziviler Ersatzdienst“ in sozialen Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände abgeleistet wurde, hatte seine Einrichtung nicht den gewünschten Abschreckungseffekt, sondern machte die KDV bekannt und weckte Sympathien für die Ersatzdienstleistenden.

Anders als in der Bundesrepublik erlaubte die DDR keinen zivilen Ersatzdienst, sondern richtete nur einen waffenlosen Dienst in der NVA ein. Wer auch den verweigerte, musste mit Freiheitsstrafen rechnen.

Die guten Erfahrungen mit Ersatzdienstleistenden, die üblen Prüfungsverfahren und die drohende lange Zusatzdienstzeit führten dazu, dass die Proteste gegen die staatliche KDV-Praxis immer heftiger wurden. Vor allem in den Fraktionen von SPD und FDP gab es Bedenken, zumal die Zahlen der Verweigerer sprunghaft anstiegen, als sich Deutschland mit dem Lazarettschiff Helgoland am Vietnamkrieg beteiligte. Hinzu kamen die 68er, die die Proteste aufgriffen. So gab es in der Bundesrepublik zunehmend Versuche, den Verweigerern entgegenzukommen. Das führte 1972 zum Zivildienstgesetz, das 1974 in Kraft trat. Es brachte einen Bundesbeauftragten für den Zivildienst, wie der Dienst jetzt hieß, einen Beirat, eine Verkürzung der Dienstzeit auf je einen Zusatzmonat für jeden angefangenen Monat Wehrübungszeit der Wehrpflichtigen und damit eine erhebliche Verbesserung der Ersatzdienste, des Zivildienstes ebenso wie der anderen als Ersatzdienst anerkannten Dienste.

Die weitere Auseinandersetzung ging nun vor allem um die Prüfungsverfahren. Die sozial-liberale Koalition wollte die Prüfungsverfahren weitgehend abschaffen um den Preis einer Verlängerung des Zivildienstes um drei Monate. Das Gesetz, von den Unionsparteien als Postkartenverfahren diffamiert, wurde vor dem Bundesverfassungsgericht angegriffen und vom Gericht aufgehoben. Die Begründung war eine Verweigererflut, die das Verteidigungsministerium wider besseres Wissen durch eine Änderung der statistischen Basis heimlich vorgetäuscht hatte. Nach der Wende zur christlich-liberalen Koalition wurde erneut das Problem der Prüfungsverfahren angegangen, nur diesmal mit einer größeren Verlängerung der Dienstzeit um ein Drittel der Grundwehrdienstzeit und mit weiteren Verschlechterungen gegenüber dem Gesetz von 1977. Es kam wieder zum Prozess in Karlsruhe, diesmal auf Antrag der SPD, doch hatte das Gesetz Bestand, denn im Prozess von 1984/85 hat das Verteidigungsministerium wieder massiv statistisch betrogen, aber diesmal  für das Gesetz.

Im neuen Jahrtausend
Die weitere Entwicklung ist durch politische Entscheidungen bestimmt worden. Um von den fatalen Prüfungsverfahren wegzukommen, hat die rot-grüne Koalition die Anerkennungsverfahren von der Wehrverwaltung auf das Bundesamt für den Zivildienst mit seinen anderen Interessen übertragen, und im Zuge von Sparmaßnahmen wurden die Dienstzeiten gekürzt, schließlich der Dauer des Grundwehrdienstes angepasst. Heute ist die Anerkennung von KDV bei ordentlichem Antrag und Einhalten der Formalien kein Problem.

Schwierigkeiten gibt es nach wie vor bei den radikalen Verweigerern, die nicht bereit sind, einen  Ersatzdienst zu leisten. Wer überzeugt ist, dass jeder Militärdienst und jede Hilfestellung dafür ein Verbrechen ist, kann keinen Ersatzdienst leisten, um die Wehrpflicht aufrechtzuerhalten. Da der Ersatzdienst gesetzliche Pflicht ist, werden solche radikalen Verweigerer strafrechtlich verfolgt. Bisher sind die Gerichte nicht bereit, ihnen den Schutz des Artikels 4, 1 GG zuzubilligen. Mit dem Wegfall der Wehrpflicht dürfte sich das Problem aber erledigen.

Nicht erledigen wird sich das Problem der Antragstellung nach Verwaltungsrecht, wenn aus der Bundeswehr eine Freiwilligenarmee wird. Im Gegenteil ist zu befürchten, dass dann die Verfahren zur Anerkennung als KDV für die, die sich zunächst freiwillig gemeldet haben, schwieriger werden, weil es ja keinen Ersatzdienst zum Beweis der ehrlichen Gewissensentscheidung mehr geben wird. Deshalb ist jeder Stolz auf die großzügige deutsche KDV-Regelung verfrüht. Die derzeitige Praxis ist schließlich nicht Ausdruck der Achtung vor den Gewissensentscheidungen, sondern vor allem ein Ausnützen von Arbeitskraft im sozialen Bereich, sogar für Privatkliniken, die mit Hilfe der Zivis ihre Gewinne vergrößern. Die KDV im Grundgesetz hat dazu geführt, dass heute viele Staaten ebenfalls das Recht, das Töten zu verweigern, in ihre Verfassung aufgenommen.

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Pfarrer i. R. Ulrich Finckh war von 1971 - 2003 Vorsitzender der Zentralstelle KDV und von 1974 - 2004 Mitglied im Beirat für den Zivildienst. Er ist Gründungs- und Vorstandsmitglied im Sozialen Friedensdienst Bremen.