USA

Kriegsdienstverweigerung und Desertion in den USA

von Rudi Friedrich

Es gibt keine umfassende Statistik über SoldatInnen der US-Armee, die sich unerlaubt von der Truppe entfernt haben oder desertiert sind. Wil S. Hylton, der 2015 für das New York Times Magazin recherchierte, kam auf eine Schätzung von etwa 50.000 Fällen zwischen 2001 und 2012. (1) Tausende verließen also jährlich ohne Erlaubnis die Armee während des Irakkrieges, auch nachdem die US-Regierung den Irakkrieg formal bereits im Mai 2003 für beendet erklärt hatte. Für die nachfolgenden Jahre wurden die Kampfhandlungen als „Krieg gegen den Terror“ deklariert, was völkerrechtlich nicht näher definiert ist.

In den USA wird SoldatInnen die Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung gewährt. Dies gilt, obwohl alle Militärangehörigen als Freiwillige gelten. Allerdings sind für die Anerkennung relativ hohe Hürden gesetzt worden.
Ein Antrag auf Kriegsdienstverweigerung kann nach der Army Regulation 600-43 gestellt werden. Die Anerkennung erfolgt nur, wenn ein/e KriegsdienstverweigerIn aus Gewissensgründen „jede Art, Waffen zur Teilnahme am Krieg zu tragen, verweigert“ und „seine Verweigerung, fest, endgültig und ernsthaft“ ist. Das gilt für beide vorgesehenen Kategorien, sowohl für 1-0, bei der eine Entlassung aus der Armee vorgesehen ist, wie auch für 1-A-0, bei der ein waffenloser Dienst vorgesehen ist.
Eine Kriegsdienstverweigerung aufgrund der Ablehnung bestimmter Kriege wird ausdrücklich ausgeschlossen: „Die individuelle Verweigerung muss alle Kriege betreffen statt einen bestimmten Krieg.“ Ein Antrag ist bei den jeweiligen Vorgesetzten einzureichen.
Das Verfahren sieht vor, dass der militärische Vorgesetzte, ein Militärgeistlicher und ein Militärpsychologe Stellungnahmen zur Glaubwürdigkeit des Antragstellers abgeben. Das Verfahren wird also faktisch in der Einheit selbst durchgeführt. Das bedeutet auch, dass ein/e KriegsdienstverweigerIn während der gesamten Zeit des Verfahrens in der Regel bei seiner/ihrer Einheit stationiert bleibt. Eine Entscheidung über den Antrag wird vom Hauptquartier des US-Militärs in Alexandria (Virginia) getroffen.
Im Falle eines Antrages zur Kriegsdienstverweigerung wird auch die Möglichkeit eingeräumt, sich vom bewaffneten Dienst befreien zu lassen. Eine Entscheidung darüber obliegt den Vorgesetzten des Antragstellers.Die Feststellung, ob ein Militärangehöriger als Kriegsdienstverweigerer anerkannt wird „muss in Übereinstimmung mit der Effektivität und Effizienz der Armee stehen“.
Bei einer positiven Entscheidung nach Kategorie 1-0 wird der/die VerweigerIn ehrenhaft aus der Armee entlassen, mit dem Verweis der Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung.
Im Falle einer negativen Entscheidung bleibt dem/r VerweigerIn die Möglichkeit, den Board of Corrections anzurufen, der Teil des Militärs ist, aber von ZivilistInnen besetzt wird. Eine Entscheidung des Board of Corrections unterliegt allerdings der Prüfung durch das Verteidigungsministerium. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, in den USA eine Habeas-Corpus-Klage vor einem Bundesgericht einzureichen. AnwältInnen aus den USA bestätigen, dass hier eine Anerkennung unwahrscheinlich ist, da die zivilen RichterInnen selten die Entscheidungen des Militärs kritisieren wollen. Zudem ist solch eine Klage mit erheblichen Kosten verbunden, die vom Betroffenen aufzubringen sind. (2)
Nach Informationen des US-Verteidigungsministeriums gibt es jährlich etwa 100 Anträge zur Kriegsdienstverweigerung von US-SoldatInnen. Etwa 50% werden abgelehnt. (3)

Fallbeispiele
Im Jahre 2003 ging Agustín Aguayo zum US-Militär. Nach der Grundausbildung kam er als Sanitäter mit seiner Einheit nach Schweinfurt. Anfang 2004 stellte er kurz vor seiner Verlegung in den Irak einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung. Er wurde dennoch mit seiner Einheit ins Kriegsgebiet verlegt und musste dort unter anderem als Wache außerhalb des Stützpunktes Dienst leisten. Um seinem Gewissen zu folgen, so berichtete er später, lud er keine Patronen in sein Gewehr.
Im August 2004 wurde sein Antrag vom Militär ohne Begründung abgelehnt, obwohl sich seine Vorgesetzten für eine Anerkennung ausgesprochen hatten. Nach längerem Rechtsstreit: Im September 2006 wurde seine Einheit erneut in den Irak verlegt. Agustín Aguayo entzog sich der Verlegung, weil er keine andere Möglichkeit mehr sah, dem Gewissenkonflikt zu entgehen. Wenige Wochen später stellte er sich in den USA den Militärbehörden. Er wurde wegen „Desertion zur Vermeidung eines gefährlichen Einsatzes“ und „Verpassen der Verlegung der Einheit“ angeklagt. Am 6. März 2007 wurde er zu unehrenhafter Entlassung und acht Monaten Haft verurteilt. Amnesty international adoptierte ihn daraufhin als Gewissensgefangenen.

Kevin Benderman war vom März bis September 2003 Im Irak. Im Dezember 2004 stellte er einen Antrag, um als Kriegsdienstverweigerer anerkannt zu werden. Dieser Antrag wurde abgelehnt. Er weigerte sich, einer erneuten Verlegung in den Irak im Januar 2005 nachzukommen und wurde wegen „Desertion“ und „Verpassen der Verlegung der Einheit“ angeklagt. Am 28. Juli 2005 wurde er vom Militärgericht zu unehrenhafter Entlassung und 15 Monaten Haft verurteilt.
James Burmeister  leistete Dienst im Irak, wo er aufgrund einer an einer Straße gezündeten Bombe schwere Verwundungen erlitt. Neben Verletzungen am Fuß und am Ohr litt er unter posttraumatischen Stresssyndromen (PTSD). Er wurde zur Behandlung zurück nach Deutschland geschickt. Obwohl die Behandlung unzureichend war, sollte er erneut in den Irak gehen. Burmeister floh darauf hin im Mai 2007 nach Kanada. Im März 2008 entschied er sich, in die USA zurückzukehren, mit der Hoffnung, aus dem Dienst entlassen zu werden und wegen PTSD behandelt zu werden. Stattdessen wurde er verhaftet und vor ein Militärgericht gestellt, da er sich unerlaubt von der Truppe entfernt habe. In dem Verfahren wurden seine öffentlichen Äußerungen zum Krieg, die er in Kanada abgegeben hatte, als Beweis gegen ihn verwandt. Am 16. Juli wurde James Burmeister zu 9 Monaten Haft und unehrenhafter Entlassung verurteilt. Seiner Familie wurde mitgeteilt, dass er in der Haft keine Briefe, Anrufe oder E-Mails erhalten dürfe.10
US-Soldatin Kimberly Rivera war im Oktober 2006 mit ihrer Reserveeinheit in den Irak versetzt worden. „Ich war als Wache am Tor eingesetzt. Wir durchsuchten Autos, Zivilpersonen und Militärkonvois, die ständig rein und rausfuhren. Mir wurde schlagartig klar, was Krieg wirklich bedeutet: Menschen verlieren ihr Leben aufgrund der Machtgier eines Staates, Soldaten kommen zurück mit völlig neuen Problemen wie Albträumen, Angstzuständen, Depressionen, Angst, Alkoholmissbrauch, fehlenden Gliedmaßen oder Narben durch Verbrennungen. Einige kommen nie mehr zurück.“ Während eines zweiwöchigen Heimaturlaubs im Januar 2007 beschloss sie, dass ihr nur das unerlaubte Entfernen von der Truppe blieb. Sie nahm aufgrund des schwierigen Verfahrens und der Ablehnung anderer Kriegsdienstverweigerer an, keine Anerkennung erreichen zu können. Zudem befürchtete sie, während des Verfahrens in den Irak zurückkehren zu müssen. Gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihren Kindern floh sie nach Kanada und beantragte dort Asyl. 2009 wurde der Asylantrag abgelehnt. Am 20. September 2012 stellte sie sich selbst an der Grenze den US-Militärbehörden. Sie wurde unverzüglich verhaftet und wenige Tage später nach Fort Carson, Colorado, überstellt. Am 29. April 2013 wurde sie zu einer Haftstrafe von 14 Monaten und unehrenhafter Entlassung verurteilt.

Beurteilung der Situation
Die Regelungen zur Kriegsdienstverweigerung in den USA stehen in Widerspruch zu den Empfehlungen, die zuletzt vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen ausgesprochen worden sind. In der Entschließung A/HRC/RES/24/17 vom 27. September 2013 werden „unabhängige und unparteiische Entscheidungsgremien“ bei Anträgen auf Kriegsdienstverweigerung eingefordert. Hier widerspricht die Regelung des US-Militärs den Empfehlungen, zumal die Erfordernisse der Armee einen höheren Stellenwert haben, als die Anerkennung eines Kriegsdienstverweigerers.
Die Praxis, dass Anträge zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer in der eigenen Einheit behandelt werden, die Verfahren in der Regel Monate dauern und der Kriegsdienstverweigerer dem Risiko unterliegt, in ein Kriegsgebiet geschickt zu werden, führt zu einer zusätzlichen Einschränkung der Rechte der AntragstellerInnen. Sie werden damit nicht nur unter Druck gesetzt, sondern auch in Situationen gebracht, die sie aufgrund ihrer Gewissensentscheidung gerade umgehen wollen (s. den Fall von Agustín Aguayo).
Angesichts dieser Situation sehen sich einige einem unlösbaren Gewissenskonflikt gegenüber und entscheiden sich daher, unerlaubt die Armee zu verlassen.
Es ist zusätzlich darauf aufmerksam zu machen, dass die Militärgerichte den Gewissenskonflikt der VerweigerInnen kaum berücksichtigen oder sogar gegen sie wenden. Die von den VerweigerInnen vorgebrachte Argumentation, dass sie sich einem illegalen Krieg entziehen oder dass sie KriegsdienstverweigerInnen sind oder sich an einem bestimmten Krieg nicht mehr beteiligen können, schlägt sich weder in Freisprüchen noch in einer deutlichen Reduzierung der vom Gericht festgelegten Strafe nieder. Damit entzieht sich das US-Militär einer juristischen Prüfung, ob im Falle bestimmter Kriegseinsätze oder im Falle eines nicht vom Sicherheitsrat legitimierten Krieges die Befehlsverweigerung möglich ist.
Rechtsanwälte aus den USA, wie Tod Ensign, weisen auch darauf hin, dass SoldatInnen mit abweichenden Positionen oft erheblichen Schikanen und Repressalien ausgesetzt sind. Wil S. Hylton kommt zu folgender Einschätzung: „Zur Hochzeit des Irakkrieges wurden weniger als 5% der DeserteurInnen vor Militärgerichten angeklagt, und weniger als ein Prozent wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. (...) Die einzigen DeserteurInnen, die grundsätzlich vom US-Militär strafrechtlich belangt wurden, sind diejenigen, die nach Kanada gingen. Alle kamen ins Militärgefängnis. (...) In den Verfahren gegen DeserteurInnen betonen die Staatsanwälte die öffentlichen Reden und Interviews der KriegsgegnerInnen in Kanada. (...) Angesichts des Kontrastes zwischen einer einprozentigen Chance der Bestrafung der Mehrzahl der Deserteure und einer nahezu hundertprozentigen Sicherheit bei denjenigen, die in Kanada Zuflucht gesucht haben, fällt es schwer, nicht den Schluss zu ziehen, dass das Militär ein Exempel an denjenigen statuiert, die aus dem Land nach Norden fliehen und sich öffentlich dazu bekennen.“ (4)

Fußnoten

  1. Wil S. Hylton: American Deserter. New York Times Magazin, 23. Februar 2015. Deutsche Fassung: Rundbrief „KDV im Krieg“, Offenbach/M., September 2015
  2. Rechtsanwälte Tod Ensign und James Klimaski, 21. Mai 2010
  3. The New York Times vom 18. März 2005
  4. Wil S. Hylton, ebd.

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Friedensbewegung international