Krisen und Kriege Eine Straßenkarte ins Nirgendwo. Oder: Viel Lärm um nichts

von Uri Avnery
Der bekannte israelische Publizist und Friedensbewegte Uri Avnery kommentiert hier den neuesten Friedensplan, der gegen Ende 2002 unter dem Titel "Road Map" (Straßenkarte) bekannt wurde und der von den USA zusammen mit den Vereinten Nationen, Großbritannien und Russland entwickelt aber bislang nicht offiziell publiziert wurde. Mit Beginn des Irak-Krieges hatte Bush diesen Plan wieder ins Gespräch gebracht. Ihm zufolge sollen ein Quartett dieser vier Staaten und Organisationen gemeinsam einen Prozess moderieren, der schließlich zu Verhandlungen über eine permanente Regelung führen soll. Sowohl die israelische Regierung wie die palästinensische Führung haben sich bereits negativ zu dem Plan geäußert.

Dies könnte ein wichtiges Dokument sein.

 
      Wenn alle Parteien wirklich einen fairen Kompromiss anzielten.
 
 
      Wenn Sharon und Co wirklich bereit wären, die besetzten Gebiete zurückzugeben und die Siedlungen aufzulösen.
 
 
      Wenn die Amerikaner bereit wären, ernstlichen Druck auf Israel auszuüben.
 
 
      Wenn es in Washington einen Präsidenten wie Dwight Eisenhower gäbe, der sich nicht um Wählerstimmen und Spenden der Juden in Amerika kümmern würde.
 
 
      Wenn George Bush überzeugt wäre, dass die Straßenkarte seinen Interessen dienlich wäre, anstatt ein Knochen zu sein, den er seinem britischen Pudel hinwirft.
 
 
      Wenn Tony Blair denken würde, dass sie seinen Interessen dienlich wäre, anstatt ein Krumen, den er seinen Rivalen zu Hause hinwerfen würde.
 
 
      Wenn die Vereinten Nationen irgendwelche reale Macht besäßen.
 
 
      Wenn Europa irgendwelche reale Macht besäße.
 
 
      Wenn Russland irgendwelche reale Macht besäße.
 
 
      Wenn meine Großmutter Räder hätte.  
    Alle diese Wenns gehören zu einer fiktiven Welt. Deshalb wird aus all dem Gerede über dieses Dokument nichts herauskommen. Der Embryo ist schon tot im Leib seiner Mutter, dem Quartett.

Trotz alledem, lasst uns die Sache ernst angehen: Ist dies ein gutes Dokument? Könnte es hilfreich sein, wenn all die Wenns realistisch wären?

Um diese Frage ernsthaft zu beantworten, muss man zwischen den erklärten Zielen und dem Weg, der dorthin führen soll, unterscheiden.

Die Ziele sind sehr positiv. Sie sind identisch mit den Zielen der israelischen Friedensbegung: ein Ende der Besatzung, die Errichtung eines unabhängigen palästinensischen Staates Seite an Seite mit Israel, Friede zwischen Israelis und Palästinensern und zwischen Israel und Syrien, die Integration Israels in die Region.

In dieser Beziehung geht die Straßenkarte weiter als die Osloer Verträge. In der Osloer "Prinzipienerklärung" gab es ein gewaltiges Loch: Sie formulierte nicht, was nach den langen Zwischenstadien kommen sollte. Ohne ein klares letztes Ende hatten die Zwischenstadien keinen klaren Zweck. Deshalb starb der Oslo-Prozess mit Yitzhaq Rabin.

Die Straßenkarte bestätigt, dass es jetzt einen weltweiten Konsens über diese Ziele gibt. Diese Tatsache wird bleiben, selbst wenn nichts daraus wird. Jene von uns, die sich erinnern, dass vor nur 35 Jahren es kaum eine Handvoll Leute in der Welt gab, die an diese Vision glaubten, können tiefe Befriedigung aus dieser Karte ziehen. Sie zeigt, dass wir den Kampf um die Weltmeinung gewonnen haben.

Aber wir sollten nicht übertreiben: Auch in diesem Dokument gibt es ein klaffendes Loch bei der Definierung der Ziele. Es sagt nicht, was die Grenzen des zukünftiges palästinensischen Staates sein sollen, weder explizit noch implizit. Die Grüne Linie wird nicht einmal erwähnt. Das alleine reicht aus, um die ganze Struktur zu entwerten. Ariel Sharon spricht über einen palästinenischen Staat in 40 % der "Territorien" - was weniger als 9 % Palästinas zur Zeit der britischen Mandatsherrschaft entspricht. Glaubt irgend jemand, dass dies Frieden bringen wird?

Wenn wir von der Dichtung zur Prosa übergehen, von dem Berggipfel der Ziele zu der Straße, die uns dorthin bringen soll, dann werden die Warnzeichen immer häufiger. Dies ist eine gefährliche Straße mit vielen Kurven und Hindernissen. Selbst ein sehr tapferer Athlet würde es bei dem Gedanken schaudern, diese Bahn laufen zu müssen.

Die Straße ist in Phasen eingeteilt. In jeder Phase müssen die Parteien bestimmte Verpflichtungen erfüllen. An dem Ende jeder Phase muss das Quartett entscheiden, ob die Verpflichtungen erfüllt wurden, bevor die nächste Phase in Angriff genommen wird. Am Ende, der erhoffte Frieden wird kommen - so Gott will.

Selbst wenn alle Parteien guten Willens wären, würde es extrem schwierig sein. Als David Lloyd George als britischer Premier beschloss, die britische Besatzung Irlands zu beenden, stellte er fest, dass man keinen Abgrund in zwei Sprüngen überqueren kann. Die Initiatoren der Straßenkarte schlagen aber vor, den israelisch-palästinensischen Abgrund in vielen kleinen Hüpfern zu überqueren.

Erste Frage: Wer ist dieses "Quartett", das an jedem Punkt entscheiden soll, ob die Parteien ihre Verpflichtungen erfüllt haben und eine neue Phase begonnen werden kann?

Auf den ersten Blick gibt es ein Gleichgewicht zwischen den vier Spielern: den Vereinten Nationen, den Vereinigten Staaten, Europa und Russland. Es ist beinahe wie ein Schiedsgericht im wirtschaftlichen Sektor: Jede Seite benennt einen Vermittler, und die beiden Schiedsrichter wählen gemeinsam einen dritten. Das Urteil wird durch Mehrheitsentscheidung gefällt und bindet beide Parteien.

Das könnte funktionieren: Die USA sind nah bei Israel, Europa und Russland sind akzeptabel für die Palästinenser. Der UN-Vertreter würde den Ausschlag geben.

Aber so ist es nicht: Gemäß dem Dokument muss das Quartett alle Entscheidungen einstimmig fällen. Die Amerikaner haben ein Veto, was heißt, dass Sharon ein Veto hat. Ohne seine Zustimmung kann nichts entschieden werden. Muss noch mehr gesagt werden?

Zweite Frage: Wann wird es zu Ende sein?

Nun, es gibt keinen klaren Zeitplan für die einzelnen Phasen. Das Dokument erwähnt vage mehrere vage Daten, aber es ist schwierig, sie ernst zu nehmen. Die erste Phase sollte im Oktober 2002 beginnen und im Mai 2003 abgeschlossen sein. In der wirklichen Welt wird die Karte den Israelis und Palästinensern das erste Mal im Mai gezeigt werden, und erst dann wird das ernstliche Feilschen losgehen. Niemand kann vorhersehen, wann die Umsetzung der ersten Phase wirklich beginnen wird. Und in der Zwischenzeit ...

Man möge sich erinnern: In den Osloer Abkommen waren viele Daten festgelegt, und fast alle von ihnen wurden überschritten (gewöhnlich durch die Israelis). Wie der gute Rabin erklärte: "Es gibt keine heiligen Daten".

Dritte Frage: Gibt es irgendeine Form von Gleichgewicht zwischen den Verpflichtungen beider Seiten?

Die Antwort muss "nein" heißen.

In der ersten Phase müssen die Palästinenser die bewaffnete Intifada beenden, eine enge Sicherheits-Kooperation mit den Israelis eingehen und Israels Recht anerkennen, in Frieden und Sicherheit zu leben. Sie müssen auch einen "ermächtigten" Premierminister ernennen (was die Neutralisierung des gewählten Präsidenten Yassir Arafat bedeutet) und mit dem Entwurf einer Verfassung beginnen, die die Zustimmung des Quartetts findet.

Was sollen die Israelis zur gleichen Zeit tun? Sie müssen den "palästinensischen Vertretern" (man bemerke: "Vertreter". Dies gilt nicht für den Rest der Bevölkerung) Bewegungsfreiheit geben, die humanitäre Situation verbessern, die Angriffe auf Zivilisten und die Zerstörung von Häusern beenden und den Palästinensern das Geld zahlen, das ihnen zusteht. Auch soll Israel "Siedlungsköpfe" abbauen, die, entgegen den Richtlinien der Regierung errichtet wurden, seit Sharon an die Macht kam. Wer wird entscheiden, auf welche das zutrifft? Es gibt auch keine Erwähnung eines Einfrierens der Siedlungstätigkeit in dieser Phase.

Glaubt irgendjemand, dass Premierminister Abu Mazen die Angriffe von Hamas und Jihad beenden kann, ohne ein wirkliches politisches quid pro quo und während sich die Siedlungen weiter ausdehnen?

Nach dieser Phase sollen die Palästinenser ihre Institutionen reformieren, eine Verfassung schaffen, die auf "starker parlamentarischer Demokratie" beruht. (Ihnen wird nicht erlaubt werden, ein Präsidentschaftssystem wie in den USA zu haben, aus Angst, dass Arafat Macht behalten könnte). Nur dann, "wenn umfassende Sicherheitsmaßnahmen zunehmend greifen", wird die israelische Armee "sich schrittweise von den Gebieten zurückziehen, die sie seit dem 28. September 2000 besetzt hält". Nicht sofort, nicht in einem Rückzug, sondern "schrittweise". Nicht aus den B- und C-Gebieten, sondern nur aus Gebiet A. Sie werden dort sein, wo sie vor Beginn der jetzigen Intifada waren. (Es gibt einen alten jüdischen Witz über eine Familie, die sich beklagt, zusammen in einen Raum eingepfercht zu sein. Der Rabbi rät ihnen, auch die Ziege ins Haus zu bringen. Später, wenn die Familie sich beklagt, dass das Leben unerträglich geworden sei, rät ihnen der Rabbi, die Ziege wieder rauszubringen. Plötzlich haben sie das Gefühl, viel Platz zu haben. Dieses Mal hat die israelische Armee die Anweisung bekommen, die Ziege zu entfernen, aber die Palästinenser sollen Vater und Mutter aus dem Weg räumen.)

Nach all diesem wird die nächste Phase beginnen. Die Palästinenser werden ihre Verfassung annehmen und freie Wahlen abhalten, die Ägypter und Jordanier werden ihre Botschafter nach Israel zurückschicken, und die israelische Regierung wird, jetzt endlich, ihre Siedlungstätigkeit einfrieren.

Die nächste Phase konzentriert sich auf die "mögliche" Schaffung eines unabhängigen palästinensischen Staates mit "vorläufigen Grenzen". Das heißt, lang nachdem alle Angriffe beendet wurden, wird es eine "Option" geben, einen palästinensischen Staat in Gebiet A zu schaffen, einem winzigen Teil von dem, was einmal Palästina war. Nach der Straßenkarte soll dies Ende 2003 geschehen, aber es ist klar, dass, wenn überhaupt, dies erst viel später geschehen wird. Es wird auch festgehalten, dass "weitere Maßnahmen bezüglich der Siedlungen" einen Teil des Prozesses darstellen werden. Was heißt das? Nicht die Auflösung einer einzigen Siedlung, nicht einmal der entferntesten und isoliertesten.

Nachdem all das umgesetzt wurde, wird das Quartett (wiederum einstimmig, also nur mit Zustimmung der Amerikaner) entscheiden, dass die Zeit für Verhandlungen gekommen ist, die ein Abkommen über einen "permanenten Status" zum Ziel haben - hoffentlich 2005.

Themen sollen u.a. sein: Grenzen, Jerusalem, Flüchtlinge und Siedlungen. Falls Sharon oder sein Nachfolger es will, dann wird es ein Abkommen geben. Wenn nicht, dann nicht.

Die Wahrheit ist, dass sich in diesem ganzen Dokument nicht ein Wort findet, das Sharon nicht akzeptieren könnte. Denn schließlich kann er mit der Hilfe von Bush jeden Schritt jederzeit torpedieren.

Um zusammenzufassen: Viel Lärm um nichts. Was man daraus ersehen kann, dass weder Sharon noch die Siedler sich aufregen.

Übersetzung aus dem Englischen: Christine Schweitzer.

Uri Avnery ist israelischer Friedensforscher und Mitbegründer von "The Other Israel".

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Krisen und Kriege