"Land unter" auf der Insel der Kriegs­dienstflüchtinge

von Hermann-Josef Tenhagen

Westberlin war eine Insel - bis vor wenigen Monaten das rettende Eiland für zehntausende junger Westdeutscher, die vor dem Kriegsdienst dorthin flohen. Doch mit dem Fall der Mauer ist auch das antimilitaristische Refu­gium bedroht. Mit der Vereinigung beider deutscher Staaten droht die Einführung der Wehrpflicht in Westberlin.

Ganz antimilitaristisch war die "Insel" nie. Rund 12.000 alliierte Soldaten sind "auf" der "selbstständigen militärischen Einheit" Westberlin stationiert, davon rund die Hälfte Amerikaner. Pro Kopf der Bevölkerung oder pro Quadrat­meter übertrifft Westberlin damit loc­ker jede westdeutsche Großstadt an militärischer Präsenz. (Während die Britische Rheinarmee in einer künstli­chen Kleinstadt in Berlin-Gatow den Häuserkampf für Nordirland übt, trai­nieren die Amerikaner derweil das Weit- und Zielschießen zwischen den markbrandenburgischen Sanddünen des Grunewalds. Eine besondere Be­deutung hatte Westberlin zudem als vorgeschobenster Horchposten der Westalliierten.)

Konflikte um Lärm und Umweltzer­störung durch Manöver und Alltags­präsenz gab es in Berlin mit schöner Regelmäßigkeit. Im Großen und Gan­zen aber hatte die Inselbewohner sich mit der Unvermeidlichkeit alliierter Kriegspieler arrangiert. Die Stadt war für die alliierten Truppen "Fighting City" und für die Bewohner kriegs­dienstfreie Zone. Nicht ohne Bedeu­tung: Auch in Berlin hängen 11.600 Arbeitsplätzen an der Alliierten Prä­senz. Und die möchte man ungern missen.

Doch das Arrangement hält dem deutsch-deutschen Vereinigungstau­mel nicht stand. Mit der Vereinigung kommt das Ende der allierten Ober­aufsicht, wenn auch nicht der allierten Präsenz. Und damit verliert der Westteil der Stadt seinen entmilitari­sierten Status: Seine Männer werden für die Militärstrategen zu ganz nor­malem Kriegermaterial. Den ersten Schritt haben Kohl und Gorbatschow in ihrer gemeinsamen Erklärung schon vereinbart. "Nicht integrierte Ver­bände der Bundeswehr ... können so­fort nach der Einigung Deutschlands ... in Berlin stationiert werden."

Zwar werden bei einer auf 370.000 Mann reduzierten gesamtdeutschen Armee nur relativ wenige Rekruten einzogen werden, aber eine Extrawurst wird für die vielleicht zwei Prozent Westberliner eines gesamtdeutschen Jahrgangs wohl genausowenig gebra­ten werden, wie für die gleichaltrigen Ostberliner, die schon seit 1969 in der NVA Kriegsdienst leisten mußten.

Sturmflutwarnung ist vor allem für die auf rund 50.000 geschätzte Zahl der Wehrflüchtlinge ausgegeben. Zwar ist nicht damit zu rechnen, daß die Mil­tärs ältere Jahrgänge (1960er) nach­träglich massiv zu rekrutieren versu­chen, aber die Jüngeren werden sich mit dem säbelrasselnden Barras neu auseinandersetzen müssen.

Einen ersten Vorgeschmack auf die Neumilitarisierung der Stadt hatte der Rot-Grünen Senat schon Anfang März geliefert. War es in den vergangenen 20 Jahren üblich gewesen, mit Hinweis auf alliierte Statuten, Totalverweigerer nicht zur Aburteilung an bundesrepu­blikanische Justizbehörden auszulie­fern, so brach der rot-grüne Senat mit dieser sogar von CDU-Innensenatoren fortgeführten Tradition und lieferte den Totalverweigerer Gerhard Scherer aus.

Es droht also "Land unter" auf der bis­her einzigen kriegsdienstfreien "Insel" Deutschlands. Vielleicht wird es einige weiße kriegsdienstfreie Jahrgänge ge­ben, aber im Moment sieht es so aus, als ob die Musterung unerbittlich auch das letzte berlinische Dorf Kreuzberg SO 36 erreichen würde. Dort bastelt "man" derweil an einer Kampagne: "Kein Kriegsdienst für Berlin".

Weiter Information über Militär und Kriegsdienst in Berlin bieten:

  •  Jugendmagazin "Blickpunkt" 398/99, Juli/August 1990: Themen­heft. Streit-Kräfte, Münchner Straße 24, 1000 Berlin 30.
  •  "Fighting City" (1989), eine von der AL herausgegebene Broschüre zu Funktion und Wirkung der alliierten Militärpräsenz in Westberlin, zu be­ziehen über AL, Badensche Straße 29, 1000 Berlin 62, 030/363041-0

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Hermann-Josef Tenhagen, Pressesprecher des Kvu, arbeitet als Journalist in Berlin.