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"Land unter" auf der Insel der Kriegsdienstflüchtinge
vonWestberlin war eine Insel - bis vor wenigen Monaten das rettende Eiland für zehntausende junger Westdeutscher, die vor dem Kriegsdienst dorthin flohen. Doch mit dem Fall der Mauer ist auch das antimilitaristische Refugium bedroht. Mit der Vereinigung beider deutscher Staaten droht die Einführung der Wehrpflicht in Westberlin.
Ganz antimilitaristisch war die "Insel" nie. Rund 12.000 alliierte Soldaten sind "auf" der "selbstständigen militärischen Einheit" Westberlin stationiert, davon rund die Hälfte Amerikaner. Pro Kopf der Bevölkerung oder pro Quadratmeter übertrifft Westberlin damit locker jede westdeutsche Großstadt an militärischer Präsenz. (Während die Britische Rheinarmee in einer künstlichen Kleinstadt in Berlin-Gatow den Häuserkampf für Nordirland übt, trainieren die Amerikaner derweil das Weit- und Zielschießen zwischen den markbrandenburgischen Sanddünen des Grunewalds. Eine besondere Bedeutung hatte Westberlin zudem als vorgeschobenster Horchposten der Westalliierten.)
Konflikte um Lärm und Umweltzerstörung durch Manöver und Alltagspräsenz gab es in Berlin mit schöner Regelmäßigkeit. Im Großen und Ganzen aber hatte die Inselbewohner sich mit der Unvermeidlichkeit alliierter Kriegspieler arrangiert. Die Stadt war für die alliierten Truppen "Fighting City" und für die Bewohner kriegsdienstfreie Zone. Nicht ohne Bedeutung: Auch in Berlin hängen 11.600 Arbeitsplätzen an der Alliierten Präsenz. Und die möchte man ungern missen.
Doch das Arrangement hält dem deutsch-deutschen Vereinigungstaumel nicht stand. Mit der Vereinigung kommt das Ende der allierten Oberaufsicht, wenn auch nicht der allierten Präsenz. Und damit verliert der Westteil der Stadt seinen entmilitarisierten Status: Seine Männer werden für die Militärstrategen zu ganz normalem Kriegermaterial. Den ersten Schritt haben Kohl und Gorbatschow in ihrer gemeinsamen Erklärung schon vereinbart. "Nicht integrierte Verbände der Bundeswehr ... können sofort nach der Einigung Deutschlands ... in Berlin stationiert werden."
Zwar werden bei einer auf 370.000 Mann reduzierten gesamtdeutschen Armee nur relativ wenige Rekruten einzogen werden, aber eine Extrawurst wird für die vielleicht zwei Prozent Westberliner eines gesamtdeutschen Jahrgangs wohl genausowenig gebraten werden, wie für die gleichaltrigen Ostberliner, die schon seit 1969 in der NVA Kriegsdienst leisten mußten.
Sturmflutwarnung ist vor allem für die auf rund 50.000 geschätzte Zahl der Wehrflüchtlinge ausgegeben. Zwar ist nicht damit zu rechnen, daß die Miltärs ältere Jahrgänge (1960er) nachträglich massiv zu rekrutieren versuchen, aber die Jüngeren werden sich mit dem säbelrasselnden Barras neu auseinandersetzen müssen.
Einen ersten Vorgeschmack auf die Neumilitarisierung der Stadt hatte der Rot-Grünen Senat schon Anfang März geliefert. War es in den vergangenen 20 Jahren üblich gewesen, mit Hinweis auf alliierte Statuten, Totalverweigerer nicht zur Aburteilung an bundesrepublikanische Justizbehörden auszuliefern, so brach der rot-grüne Senat mit dieser sogar von CDU-Innensenatoren fortgeführten Tradition und lieferte den Totalverweigerer Gerhard Scherer aus.
Es droht also "Land unter" auf der bisher einzigen kriegsdienstfreien "Insel" Deutschlands. Vielleicht wird es einige weiße kriegsdienstfreie Jahrgänge geben, aber im Moment sieht es so aus, als ob die Musterung unerbittlich auch das letzte berlinische Dorf Kreuzberg SO 36 erreichen würde. Dort bastelt "man" derweil an einer Kampagne: "Kein Kriegsdienst für Berlin".
Weiter Information über Militär und Kriegsdienst in Berlin bieten:
- Jugendmagazin "Blickpunkt" 398/99, Juli/August 1990: Themenheft. Streit-Kräfte, Münchner Straße 24, 1000 Berlin 30.
- "Fighting City" (1989), eine von der AL herausgegebene Broschüre zu Funktion und Wirkung der alliierten Militärpräsenz in Westberlin, zu beziehen über AL, Badensche Straße 29, 1000 Berlin 62, 030/363041-0