„Leben in einer Welt ohne Waffen“

von Dietrich Gaede

"Der Traum vom besten Bunker" Linnich liegt· im Niederrheingebiet zwischen Aachen und Köln und wurde in den Denkfabriken der NATO als Standort für die zunkünftige Kommandozentrale auserkoren. Wenn der Bunkerbau beendet wird, sollen hier 300 hohe NATO-Militärs einziehen, um ihre Planspiele für den Ernstfall zu trainieren. Im Kriegsfall sollen aus dem 40 Meter tiefen Schacht - von dem man sich einbildet, er sei atomkriegstauglich - die Einsatzbefehle an die NATO-Streitkräfte ausgegeben werden.

"Alternative Denkfabrik"
Am Freitag vor der Herbstdemonstration der Friedensbewegung in Linnich hatten wir es uns auf dem Friedensakker gemütlich gemacht, den die. örtlichen Friedensgruppen erworben haben, um die Bauarbeiten am Bunker zu. behindern. Ein paar Holztische und Stühle, die· wärmende Sonne am Himmel - das reichte als Grundausstattung für unsere Zukunftswerkstatt, denn für den Sprung der Phantasie in eine Welt, in der die Menschen ihre Konflikte ohne Waffen regeln, lieferte das Umfeld genügend Denkanstöße: Die turmhohen Baukräne, die an der Baugrube für den Bunker stehen, davor patroullierendes Wachpersonal, daneben die Wiese mit friedlich grasenden Kühen und im Hintergrund die Schnellstraße, auf der gerade die Bauern ihre Rübenernte abtransportierten und so 'zur Verkehrsberuhigung beitrugen.

2016 - Die vollständige Abrüstung hat stattgefunden!
30 Jahre nach dem UN-Friedensjahr 1986 ist es den Menschen gelungen, die Abrüstung vollständig zu· Ende· zu bringen. Vieles hat . sich im Verlauf· dieser Jahrzehnte verändert, schließlich sind die endlich verschrotteten Waffen nicht Ursache, sondern sichtbarer Ausdruck herrschender Macht-verhältnisse und zahlloser Konflikte gewesen. Es ist nicht leicht, zu Sagen, auf welche Weise im Oktober 2016 Interessensgegensätze gelöst werden, welche Schlichtungsformen und instanzen existieren. Gibt es noch Regierungen oder Gerichte? Wie wird &erlebt und gearbeitet in einer. Welt, in der die Menschen auf Waffen verzichten können?
Der workshop begann mit dem Versuch der Teilnehmerinnen, die eigene Vorstellungskraft (wieder} zu entdecken und mit Skizzen auszumalen, welche Folgen sich in einem vertrauten Bereich aus dem Verschwinden der Waffen ergeben. Für eine Welt ohne Waffen gibt-es keine Vorlage, nur eigene, : persönliche Vorstellungen. Diese Ideen waren das Rohmaterial für den' workshop: Ein Berliner zeichnete das Bild · einer autofreien Stadt, unser Lehrer entwarf die Utopie einer zensurenfreien Schule mit den Hauptfächern Friedenserziehung und · Fremdsprachen und die kühlen Hamburger dachten über neue zwischenmenschliche Lebens- und Umgangsformen nach. Kurz, es sprudelten die Ideen und der Sinn des workshops war es; diese Zukunftsvisionen zuzulassen: Sie zu präzisieren und nach unbedachten Folgen zu befragen, Gearbeitet wurde allein, in Gruppen und im Plenum.

Zukunftsgeschichte
Der Brückenschlag von der Vision zur Realität erfolgte im Rückblick: Wie ist die Utopie der totalen Abrüstung Realität geworden? Ereignisse von globaler Bedeutung, regionale Veränderungen und persönliche Erlebnisse verbanden sich zu einer Geschichtserzählung die im Krebsgang rückwärts ausdem Jahr 2016 in das Jahr 1988 führte. So kam erst am Schluß die Frage an die Reihe, die herkömmliche Strategen gleich zu Beginn beantworten wollen: Wie können wir in diese Zukunftsgeschichte einsteigen, was sind erste denkbare Schritte? Dieser letzte Arbeitsschritt ist der wichtigste des ganzen Programms - leider kam er in Linnich deutlich zu kurz.

Die Linnicher Werkstatt
Fünf Männer und drei Frauen haben an dem' workshop teilgenommen. Bei der abschließenden Auswertung wurde vor allem der Zeitmangel bedauert:
Der workshop ist für eine Woche konzipiert, man braucht daher mindestens ein Wochenende, um die einzelnen Schritte des Programms richtig kennenzulernen, So fehlte uns eile Zeit, uni die Visionen ausführlicher zu entwickeln, durch die Auswertung von Materialien zu vertiefen und · neue, verbindliche Handlungspersektiven zu entwerfen.
Was bleibt ist die Vorstellung, wie eine Zukunftswerkstatt funktioniert und was sie leisten könnte.

"Luxus" oder Notwendigkeit?
Ist es nicht ein Luxus, angesichts einer bedrohlichen Gegenwart ein rosiges Bild von der Zukunft zu entwerfen?
Tatsächlich haben die Zukunftswerkstätten einen anderen Sinn: Sie können und wollen den politischen Kampf für eine bessere Zukunft nicht ersetzen sondern besser vorbereiten. Sie sind zunächst nichts anderes als eine Sammlung von Techniken, die auch in den Denkfabriken der Herrschenden angewandt werden - allerdings sollen die Zukunftswerkstätten . die . Exper-tengläubigkeit erschüttern und die Bürgerinnen ermutigen, selbst eine andere. Zukunft zu erfinden und realistische Wege dorthin zu erkunden:
Zukunftswerkstätten sind Zellformen einer zukünftigen demokratischen Infrastruktur und zugleich ein Mittel gegen lähmenden Pessimismus und den "Luxus der Verzweiflung" (R. Jungk), der auch in der Friedensbewegung nicht unbekannt ist.

Ausblick
Die Zukunftswerkstatt in Linnich war ein erster kleiner Anfang. Im Frühjahr '89 sollen ein oder zwei Seminare für Multiplikatoren organisiert werden. Wer sich dafür interessiert, sollte sich wenden an:
Peter Südhoff, Grädener Str .15, 2000 Hamburg 20,Tel. 040-850 0354
 

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt