Macht und Moral - Über die Zerstörung kritischer Öffentlichkeit

von Joachim Hirsch
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Der Gutmensch hat einen eigentümlichen Gestaltwandel erfahren. Heute tritt er als politischer Realist auf, der - humanitäre Bombardements als unvermeidlich zur Beseitigung von Mördern und Tyrannen mit einigem Bedauern in Kauf nehmend - den naiven Pazifisten als Komplizen ebenderselben denunziert. Der "verantwortungsethische" Diskurs beherrscht das Feld und gerät doch unter der Hand zum bloßen Moralgeschwätz, weil er das ausblendet, was seine Grundlage sein müsste: die Wahrnehmung realer Machtverhältnisse.

Der Bankrott kritischer Öffentlichkeit hierzulande zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die politische Debatte, sofern es eine solche jenseits nackter Kriegspropaganda noch gibt, von der Frage nach dem Sinn und Zweck "humanitärer" Militäraktionen beherrscht wird. Nun mögen viele wirklich geglaubt haben, es handle sich beim Angriff auf Jugoslawien um eine solche. Den eigentlich Verantwortlichen geht es freilich im Kern um etwas ganz anderes, wie ein Blick auf die "neue Weltordnung" nach 1989 zeigt. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben wir es mit einem internationalen System zu tun, das von einer kleinen Gruppe kapitalistischer Metropolen unter Führung der USA ökonomisch und militärisch uneingeschränkt beherrscht wird. Ein konventioneller Krieg kann gegen die USA überhaupt nicht und ohne sie kaum noch geführt werden. Die Metropolen vereint das gemeinsame Interesse an der Aufrechterhaltung der bestehenden ökonomischen und politischen Weltordnung. Dazu gehört die militärische Demonstration ihrer Fähigkeit, "antiwestliche" Regimes und Bewegungen - wie immer sie auch aussehen mögen - nicht mehr zu dulden. Dies bekräftigt die neue NATO-Militärstrategie, die auf eine feinmaschige Kontrolle der Welt bis hin zur Bekämpfung punktueller Aufstände zielt. Zugleich stehen die dominierenden Staaten in einem sich verschärfenden Konkurrenzkampf untereinander. Dieser Konflikt kann allerdings angesichts der militärischen Übermacht der USA nicht unmittelbar, sondern nur stellvertretend kriegerisch ausgetragen werden. Die Militärintervention auf dem Balkan gewinnt von daher eine doppelte Bedeutung: sie demonstriert den Willen und die Fähigkeit der vereinten Metropolen, jeden Teil der Welt entsprechend ihrer geostrategischen Kalküle ihrer Kontrolle zu unterwerfen und sie demonstriert den europäischen Staaten zugleich die Grenzen ihres politischen und ökonomischen Spielraums. Sie bestätigt und zementiert den Sachverhalt, dass auch in Europa ohne die USA nichts geht. Die, wenn man so will, "Tragik" der europäischen Regierungen liegt darin, dass sie sich aus eigenem Interesse gezwungen sehen, ihre Subalternität mittels Bündnistreue zu demonstrieren und zu untermauern. Das ist es, was die Regierungsmann- und -frauschaft der wieder einmal im Krieg geborenen "Berliner Republik" im wahrsten Sinne des Wortes alt aussehen lässt und vielleicht einen Teil der staatlicherseits inszenierten öffentlichen Hysterien erklärt.

Dass es beim Balkankrieg zumindest nicht vorrangig um das Wohl von Menschen ging, lässt sich schon an der desaströsen Wirkung der NATO-Bombardements erkennen, die ja nun nicht überraschend kamen, sondern von vorneherein einkalkuliert sein mussten. Ihre Folge wird sein, dass zumindest diese Region auf unabsehbare Zeit ökonomisch und gesellschaftlich verwüstet und von latenten oder offenen Kriegen durchzogen bleibt. Das, was Konflikte wesentlich erzeugt, nämlich ökonomische Zerrüttung, gesellschaftliche Marginalisierung und Ausgrenzung werden noch weiter verstärkt.

Dennoch und gerade deshalb bleibt die Frage ernst zu nehmen, mit welchen Mitteln den im Zuge des sogenannten Globalisierungsprozesses ja nun nicht nur auf dem Balkan ausufernden Massakern und Menschenrechtsverletzungen nun eigentlich begegnet werden sollte. Dies ist eine zu Recht gestellte moralische Frage und ihre Beantwortung hat sich mit den NATO-Bombardements offensichtlich überhaupt nicht erübrigt.

Die Antwort darauf kann nicht in einem "realpolitischen" Habitus gefunden werden, der die Wahrung von Recht und Moral an den Staat delegiert, sondern erfordert zuallererst politischen Realismus. Dazu gehört die Erkenntnis, dass Morde, Vertreibungen oder der - als Begriff inzwischen zum propagandistischen Passepartout verkommene - "Völkermord" in einer "Weltordnung", die Ausbeutung und Unterdrückung zu ihrem Grundprinzip hat, nicht einfach beseitigt werden können. Gewalt gehört schon immer untrennbar zu dem, was gerne als "westliche Zivilisation" bezeichnet wird. Schon deshalb ist das herrschende Menschenrechtsgerede zynisch. Zum politischen Realismus gehört auch die Erkenntnis, dass die existierenden Staaten und das zur "Staatengemeinschaft" verniedlichte Staatensystem, seien seine Bestandteile nun zivilisierter oder barbarischer (was, wohlgemerkt, kein unbedeutender Unterschied ist), ebenso grundsätzlich auf Ausbeutung, Unterdrückung und Ausgrenzung beruhen. Staaten sind Herrschaftsorganisationen, die gesellschaftliche Ungleichheiten und Machtverhältnisse ausdrücken und sie zugleich befestigen. Dies gilt auch dann, wenn sie einigermaßen demokratisch legitimiert sind, wie der aktuelle Fall zeigt, wo die Entscheidung zum Kriegseintritt nicht aus demokratischer Willensbildung, sondern aus einer von öffentlich nicht einmal diskutierten Machtinteressen bestimmten Bündnisverpflichtung hervorging. Deshalb ist es kein Wunder, dass Staaten, ihrer Herrschaftsräson gehorchend und von ökonomischen Machtstrukturen abhängig, mit Demokratie und Menschenrechten in der Regel vorwiegend taktisch umgehen und sie entsprechend definieren. Die einschlägigen Beispiele, von Pinotchets Chile bis zu den vom NATO-Partner Türkei in Kurdistan andauernd verübten Gewalttaten, sprechen für sich.
 

Die Sorge um Humanität und Menschenrechte ist naiv oder zynisch, wenn über diesen Zusammenhang hinweggesehen wird. Politisch folgt daraus, dass es darum geht, nicht erst dann in nothilfepolizeilicher Manier zu reagieren, wenn die staatliche Machtpolitik die Katastrophe erzeugt hat. Es geht darum, unabhängig vom und im Konflikt mit dem herrschenden Staatensystem Verhältnisse und Strukturen zu schaffen, in denen zumindest die Chance zu einer allmählichen Durchsetzung von Menschenrechten und zur Entwicklung entsprechender rechtlicher Normen und Übereinkommen besteht. Dies bedeutet zum Beispiel die Kritik an den ökonomisch und sozial verheerenden Folgen neoliberaler "Globalisierungs"-Politik und das Aufzeigen von Alternativen dazu. Es bedeutet, praktische materielle und politische Unterstützung zu leisten, die den Menschen hilft, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen und sich aus Not und Elend zu befreien. Und es bedeutet vor allem den Versuch, eine unabhängige internationale Öffentlichkeit zu entwickeln und zu institutionalisieren, die imstande ist, menschenrechtliche Forderungen gegen das Machtinteresse der Staaten und die damit verwobenen Interessen des internationalen - nicht nur Rüstungs- - Kapitals zur Geltung zu bringen. Es kommt darauf an, einen Politikbegriff praktisch werden zu lassen, der staatliche Herrschafts- und Machtlogik überschreitet. Wenn man den ziemlich heruntergewirtschafteten Begriff verwenden will, geht es um die Entwicklung einer artikulationsfähigen internationalen "Zivilgesellschaft", wie sie sich in den letzten Jahren etwa in dem sich allmählich konsolidierenden Geflecht menschenrechts-, umwelt-, entwicklungs- oder frauenpolitischer "Nichtregierungsorganisationen" zumindest ansatzweise gezeigt hat. Diese verfügen weder über bürokratische Zwangsapparate noch über Armeen, sind aber in der Lage, von den Staaten systematisch vernachlässigte Probleme zu thematisieren, die katastrophalen Folgewirkungen staatlicher Politiken zu skandalisieren und damit die Regierungen selbst der "starken" Staaten einem nicht zu unterschätzenden Legitimationsdruck auszusetzen. Mit dieser "internationalen Zivilgesellschaft" haben sich politische Strukturen herausgebildet, die auf der internationalen Ebene, wo von demokratischen Verhältnissen überhaupt nicht die Rede sein kann, so etwas wie eine unabhängige Öffentlichkeit und Chancen zur politischen Artikulation systematisch unterdrückter Interessen haben entstehen lassen.
 

Die Militärintervention auf dem Balkan ist nicht zuletzt darauf angelegt, solche Ansätze zu zerstören. Sie macht deutlich, dass die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen immer mehr zum integralen Bestandteil von Militärstrategien wird, darauf ausgerichtet, "Kollateralschäden" bei der betroffenen Bevölkerung zu reparieren und damit die militärische Intervention selbst noch einmal zu legitimieren. Der mit dem Balkankrieg verbundene Bruch des Völkerrechts ist nicht nur der Not der "handlungsunfähigen", weil von divergierenden Großmachtinteressen blockierten Vereinten Nationen geschuldet, sondern zielt darauf, Politik und Öffentlichkeit wieder auf die Logik staatlicher Herrschaftsinteressen zurückzustutzen. Indem sie internationales Recht wieder klar zur Disposition der herrschenden Metropolen stellt, verhindert sie zugleich seine Weiterentwicklung zu einem überstaatlichen Normensystem. Internationale Institutionen werden nicht nur politisch diskreditiert, sondern als Ansatzpunkte konsensueller Regelungen ausgeschaltet. Es wäre zweifellos verfehlt, den UN, die nichts weiter als eine Staatenorganisation und damit ein Verband von Herrschafts- und Machtapparaten darstellen, die Fähigkeit zur Durchsetzung menschenrechtlicher und demokratischer Prinzipien zuzuschreiben. Dennoch konnten sie sich ansatzweise zu einem in sich durchaus widersprüchlichen und heterogenen instititionellen Forum entwickeln, auf dem gerade unter Ausnutzung von konfligierenden Interessen innerhalb der "Staatengemeinschaft" eine internationale Öffentlichkeit anknüpfen konnte. Ein Beispiel dafür sind die großen UN-Konferenzen der letzten Jahre, die sich zu einem wichtigen Bezugspunkt einer unabhängigen politischen Öffentlichkeit entwickelt haben, die die Umwelt-, Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik wesentlich geprägt hat. Ein weiteres Beispiel sind die Anstrengungen zur Etablierung einer unabhängigen internationalen Strafgerichtsbarkeit, deren Wirkungsgmöglichkeit nicht vom Interesse der von Menschenrechtsverletzungen ja nun keineswegs freien Großmächte beschränkt wird. Der Arbeit von Nichtregierungsorganisationen im Zusammenhang des "Kurdistan Human Rights Project" und nicht den Bemühungen der NATO-Partner ist es zu verdanken, dass die Türkei in mehreren Fällen vom Europäischen Gerichtshof wegen Verletzungen der europäischen Menschrechtscharta verurteilt worden ist. Zu nennen ist schließlich das internationale Abkommen über das Verbot von Landminen, das von einem weltweiten Zusammenschluss unabhängiger Menschenrechtsorganisationen initiiert und vorangetrieben, dann von "mittleren" Staaten wie vor allem Kanada unterstützt und schließlich von den Vereinten Nationen formell anerkannt wurde. Dieses Abkommen wurde freilich von den USA nicht unterschrieben, genauso wie sie die Einrichtung einer unabhängigen internationalen Strafgerichtsbarkeit verhindert haben. Die Aushebelung des Völkerrechts und die Schwächung der internationalen Institutionen, die von den herrschenden Mächten nicht umstandslos kontrollierbar sind, ist nicht nur dem Pragmatismus einer zynischen Machtpolitik zuzuschreiben. Sie hat auch den Zweck, sich dieser Art von öffentlichem Druck und der staatsunabhängig vorangetriebenen Schaffung internationaler Normen zu entziehen. Auch die NATO-Allierten setzen in Jugoslawien inzwischen wieder - wenn auch technisch perfektionierte und aus der Luft abgeworfene - Minen ein.

Kriege sind im allgemeinen nicht eben förderlich für den Bestand demokratischer Verhältnisse und ebensowenig gedeihlich für eine unabhängige und kritische Öffentlichkeit. Dieser Krieg zielt direkt darauf ab, beides zu untergraben. Es entsteht ein Gemenge von staatlicher Legitimationspropaganda, die systematisch verschleiert, um was es wirklich geht, von Normalisierungsdiskursen bezüglich der deutschen Nazi-Vergangenheit (so z.B. Scharpings "Konzentrationslager"-Sprüche und die nicht mehr nur leichtfertigen Holocaustvergleiche), von Lügen und Desinformationen, von politischer Naivität und Kriterienlosigkeit. Die allseits propagierte "neue Unübersichtlichkeit", die nüchterne Analyse und Kritik stillegen soll, resultiert nicht zuletzt einem Wohlstandschauvinismus, der die Sicherung der eigenen "Zivilisationsfestung" vor dem von dieser selbst angerichteten Chaos in den Vorhöfen und Peripherien der "Weltgesellschaft" zum obersten Prinzip erhebt und gelegentliche Schuldanmutungen mittels Spenden beschwichtigt. Damit droht sich ein zivilgesellschaftlicher Totalitarismus zu entwickeln, der für die Zukunft der Demokratie hierzulande ebensowenig Gutes verheißt wie für eine friedlichere und humanere Weltordnung. Was nicht nur der Krieg selbst, sondern auch seine ideologische Begleitmusik an Verwüstungen anrichtet, zeigt sich nicht nur in menschlichen Opfern und materiellen Zerstörungen, sondern auch an den politischen Folgen in den kriegführenden Staaten selbst. Die globale Machtergreifung der NATO erzeugt genau das, was sie zu bekämpfen vorgibt: ein internationales Chaos, das den Boden für das Wirken von Diktatoren, Warlords, Banden und "Terroristen" bereitet. Das Ausmaß dieser "Kollateralschäden" der Militärintervention sind überhaupt noch nicht abzuschätzen. In einigen Teilen der Welt, wo der politische Verstand nicht vollkommen abgedankt hat und wo große Hoffnungen in die Herausbildung eines etwas zivilisierteren, sozialeren und demokratischeren Kapitalismus im europäischen Zusammenhang gesetzt wurden, wird heute von einem "Krieg gegen Europa" gesprochen. Dies ist so falsch nicht. Die Pointe ist allerdings, dass er von den europäischen - im übrigen mehrheitlich sozialdemokratisch bestimmten - Regierungen selbst geführt wird.
 

Gefordert werden muss eine sofortige Einstellung des Kriegs und die Rückkehr zu Verhandlungen, deren Scheitern nicht von vorneherein beabsichtigt ist. Die skizzierten Ansätze einer alternativen Politik versprechen keine kurzfristige Lösung und verlangen einen langen Atem. Und sie bleiben wirkungslos, wenn sie nicht die herrschenden ökonomisch-sozialen Strukturen des globalisierten Kapitalismus ins Visier nehmen. Dass eine Politik der Militärschläge die Probleme nur verschärft, die sie zu lösen vorgibt, ist freilich nicht erst seit dem jüngsten Krieg bekannt. Realisiert werden müsste, dass staatliche Macht nicht durch staatliche Macht, staatliche Gewalt nicht durch staatliche Gewalt bekämpft werden kann, sondern nur durch eine Politik, die sich dieser Logik systematisch entzieht.

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Prof. Dr. Joachim Hirsch ist Hochschullehrer für Politikwissenschaften an der Johann-Wolgang-Goethe-Universität Frankfurt und Bundesvorsitzender von "medico international".