Menschenrecht Kriegsdienstverweigerung

von Ullrich Hahn

Die neuzeitliche Entwicklung und Durchsetzung der Idee allgemeiner Menschenrechte wird zeitlich üblicherweise ins 18. Jahrhundert, der Epoche der Aufklärung, eingeordnet. Am Ende dieses Teiles der Aufklärung stehen die beiden ersten Menschenrechtserklärungen aus der nordamerikanischen Revolution 1776 einerseits und der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 andererseits.

Zu diesem Zeitpunkt war sowohl in Nordamerika als auch in Europa die Kriegsdienstverweigerung nicht unbekannt: Seit dem 16. Jahrhundert waren große Gruppen der Täuferbewegung unter anderem wegen ihrer Weigerung, Kriegsdienste zu leisten und gegenüber ihrer Obrigkeit Treueide zu schwören, verfolgt, abgeurteilt und vertrieben worden.

Ab dem 17. Jahrhundert hatte auch die neue Religionsgemeinschaft der Quäker Kriegsdienste abgelehnt. Viele Mitglieder dieser Gemeinschaften hatten sich in den englischen Kolonien Nordamerikas angesiedelt und dort auch einen Teil des gesellschaftlichen Klimas mitgeprägt.

Dennoch kamen die Verfasser der genannten Menschenrechtserklärungen nicht auf den Gedanken, die Kriegsdienstverweigerung in der Aufzählung der Menschenrechte auch nur zu erwähnen.

Eine ähnliche Beobachtung kann man in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts machen, in der Epoche, welche zur Formulierung internationaler Menschenrechtserklärungen geführt hat.

Sowohl im 1. als auch im 2. Weltkrieg hatten zumindest auf englischer und amerikanischer Seite viele tausend Wehrpflichtige den Kriegsdienst verweigert. Dennoch fand diese Haltung weder in der am 10.12.1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten  „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ noch kurz darauf in der am 04.11.1950 vom Europarat vereinbarten „Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ einen Niederschlag. In der letztgenannten Konvention wird die „Dienstverweigerung aus Gewissensgründen“ lediglich im Zusammenhang einer Ausnahme vom Verbot der Zwangsarbeit erwähnt:

„Nicht als Zwangs- oder Pflichtarbeit im Sinne dieses Artikels gilt …
b. eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist.“ (Art. 4 zum Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit)

Zu den in dieser Konvention erwähnten Ländern, „wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist“, gehörte zu diesem Zeitpunkt wohl allein Deutschland mit dem 1949 in den Katalog der Grundrechte aufgenommenen Art. 4 Abs. 3 GG:

„Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“

Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts findet die Kriegsdienstverweigerung dann nur noch einmal Erwähnung im „Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ vom 19.12.1966, wo es ganz ähnlich wie in der Europäischen Menschenrechtserklärung heißt:

„Niemand darf gezwungen werden, Zwangs- oder Pflichtarbeit zu verrichten; …
c. als „Zwangs- oder Pflichtarbeit“ im Sinne dieses Absatzes gilt nicht …

i. jede Dienstleistung militärischer Art sowie in Staaten, in denen die Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt wird, jede für Wehrdienstverweigerer gesetzlich vorgeschriebene nationale Dienstleistung; …“ Art. 8, Abs. 3 a)

Auch im beginnenden 21. Jahrhundert ist die Kriegsdienstverweigerung auf internationaler Ebene noch immer nicht als Menschenrecht anerkannt.

Lediglich in der „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ vom 07.12.2000, zwischenzeitlich in Kraft getreten als Teil des Vertrages von Lissabon, ist die Kriegsdienstverweigerung nunmehr im Katalog der Freiheiten aufgenommen:

„Art. 10 - Gewissens- und Religionsfreiheit

Abs. 2: Das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen wird nach den einzelstaatlichen Gesetzen anerkannt, welche die Ausübung dieses Rechts regeln.“

Wie sich schon aus dieser Formulierung ergibt, lässt sich aus diesem Artikel aber kein Anspruch eines Kriegsdienstverweigerers auf Befreiung vom Militärdienst (z.B. in Griechenland) begründen.

Zwar gab es in den vergangenen Jahren auf internationaler Ebene eine Reihe von Erklärungen, die sich für ein Recht der Kriegsdienstverweigerung einsetzen. Hierzu gehören etwa die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen in einer Entschließung vom 08.03.1989, wo es heißt:

“Die Menschenrechtskommission, … in der Erwägung, dass die Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen religiös oder ähnlich motivierten Grundsätzen und Gewissensgründen sowie auch tief empfundenen Überzeugungen entspringt,
1. anerkennt das Recht eines jeden Menschen, im Rahmen der legitimen Ausübung des Rechts auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, wie es in Art. 17 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie in Art. 18 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte niedergelegt ist, aus Gewissensgründen den Wehrdienst zu verweigern.“

Auch das Europaparlament der EU hat sich in Entschließungen vom 14.03.1983 und 13.10.1989 für einen Schutz von Kriegsdienstverweigerern eingesetzt.

Ähnlich beschloss auch die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) bei ihrem Treffen in Kopenhagen am 29.06.1990, ihre Teilnehmerstaaten aufzufordern, „die Einführung verschiedener Formen des Ersatzdienstes zu erwägen, die mit den für die Wehrdienstverweigerung geltend gemachten Gewissensgründen vereinbar sind …“.

Menschenrecht Kriegsdienstverweigerung
All diese Erklärungen und Beschlüsse schaffen jedoch kein verbindliches internationales Recht, sondern bleiben unverbindliche Erklärungen, selbst von Seiten derjenigen Staaten, die solchen Erklärungen durch ihre Delegierten zugestimmt haben.

Verbindliches internationales Recht, auf welches sich Kriegsdienstverweigerer berufen könnten, wird nur durch förmliche Völkerrechtsverträge begründet, die von den einzelnen Staaten ratifiziert, d.h. in ihre nationale Rechtsordnung übernommen werden, wie es etwa auf europäischer Ebene für die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950 und die Grundrechte Charta von 2000 zutrifft, im internationalen Bereich für den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 und das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshof vom 17.07.1998.

Bis auf die schon genannte EU-Grundrechte Charta enthalten diese verbindlichen internationalen Abkommen aber kein Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung.

Dieser völkerrechtliche Befund schließt aber nicht aus, von einem „Menschenrecht Kriegsdienstverweigerung“ zu sprechen.

Menschenrechte werden weder von nationalen Regierungen noch von internationalen Gremien verliehen; diese staatlichen und überstaatlichen Instanzen können lediglich darüber entscheiden, welche der vorhandenen Menschenrechte auch staatlicherseits oder international anerkannt werden. Die Menschenrechte als solche sind vorstaatlich, d.h. den Staaten vorgegebene Rechte. Sie sind das Ergebnis von Prozessen öffentlicher Meinungs- und Bewusstseinsbildung, die vor und außerhalb staatlicher Institutionen stattgefunden haben und noch stattfinden. Auch die gegenwärtig anerkannten Menschenrechte waren das Ergebnis langdauernder Kämpfe und Auseinandersetzungen, bis sie schließlich als individuelle, durchsetzbare Rechte innerhalb der staatlichen Rechtsordnungen anerkannt waren. Die Auseinandersetzung um die Freiheit der Person gegen die vielfältigen Formen von Leibeigenschaft dauerte in Europa etwa 800 Jahre vom Hochmittelalter bis zur Französischen Revolution und zum Teil noch darüber hinaus (in Russland bis 1861).

Nachdem der entsprechende Erkenntnisprozess abgeschlossen war und ist, wird man im Nachhinein z.B. die Leibeigenschaft oder die bis ins 20. Jahrhundert andauernde fehlende Gleichberechtigung der Frau auch für die frühere Zeit nicht mehr als Recht anerkennen, sondern sie als Unrecht bezeichnen müssen.

Es ist zu hoffen, dass Ähnliches auch in Bezug auf die Kriegsdienstverweigerung geschehen wird.

Ableitung aus anderen Menschenrechten
In der gegenwärtigen internationalen Diskussion um die Kriegsdienstverweigerung wird diese rechtlich zum Teil bereits als Konsequenz anderer, schon anerkannter Menschenrechte verstanden:

Dies gilt zum einen für das Recht auf Freiheit, insbesondere die Freiheit von Zwangsdiensten.

Wie bereits erwähnt, wird in den schon bestehenden Menschenrechtskonventionen, der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte ein Zwangsdienst in Form des Wehrdienstes oder von Ersatzdiensten für Kriegsdienstverweigerer ausdrücklich erlaubt.

Das Gleiche gilt auch für die vorhandenen Übereinkommen der ILO (International Labor Organization) von 1930 und 1957 über die Abschaffung der Zwangsarbeit. Auch hier werden jeweils Ausnahmen für die Militärdienstpflicht gemacht.

Für die an diesen Abkommen beteiligten Staaten war und ist es völlig selbstverständlich, dass das Militär und die damit verbundene Wehrpflicht zur Normalität einer Rechtsordnung gehört, und dass die damit zusammenhängenden Dienste von dem Verdikt der Zwangsarbeit ausgenommen sein müssen.

Eine bewusste Ausnahme von der Normalität des Militärs macht erst das „Übereinkommen über die Rechte des Kindes“ vom 20.11.1989, wo es in Art. 38 Abs. 3 heißt:

"Die Vertragsstaaten nehmen davon Abstand, Personen, die das 15. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, zu ihren Streitkräften einzuziehen. Werden Personen zu den Streitkräften eingezogen, die zwar das 15., nicht aber das 18. Lebensjahr vollendet haben, so bemühen sich die Vertragsstaaten, vorrangig die jeweils älteren einzuziehen."

In einem Fakultativprotokoll (welches nicht für alle Unterzeichnerstaaten der Kinderkonvention verbindlich ist) heißt es unter dem 25.05.2000 ergänzend:

"Art. 3 Abs. 1: Die Vertragsstaaten heben das in Art. 38 Abs. 3 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes festgelegte Mindestalter für die Einziehung von Freiwilligen zu ihren nationalen Streitkräften in Lebensjahren an; sie berücksichtigen dabei die in jenem Artikel enthaltenen Grundsätze und anerkennen, dass nach dem Übereinkommen Personen unter 18 Jahren Anspruch auf besonderen Schutz haben."

Zum andern spielt für die Kriegsdienstverweigerung in menschenrechtlicher Hinsicht die bereits in allen internationalen Konventionen anerkannte Gewissens- und Religionsfreiheit eine besondere Rolle.

Die Anbindung an die Gewissensfreiheit bedingt aber wiederum das Verständnis einer Ausnahme, welche der Begründung bedarf, so wie es etwa auch nach Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes bisher der Fall war.

Ein besonderes Recht zur situationsbedingten Kriegsdienstverweigerung ergibt sich schon gegenwärtig aus dem Kriegsvölkerrecht: Nach Art. 8 des Statuts für den Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg von 1945 galt als Grundlage für die Aburteilung von Kriegsverbrechen die Regel:

"Die Tatsache, dass ein Angeklagter auf Befehl seiner Regierung oder eines Vorgesetzten gehandelt hat, gilt nicht als Strafausschließungsgrund ..."

Dieser Grundsatz findet sich jetzt auch im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wieder (Art. 33).

Dies hat zur Konsequenz, dass von einem Soldaten erwartet werden muss, dass sie oder er Befehle, die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder als Kriegsverbrechen gewertet werden, verweigert.

Solche Fallkonstellationen sind nach dem europarechtlich geregelten Asylrecht nunmehr auch die einzigen gesetzlich vorgesehenen Fälle, in denen asylsuchende Kriegsdienstverweigerer den Flüchtlingsstatus erhalten müssen. In der EU-Richtlinie über Mindestnormen für die Anerkennung und den Statut von Drittstaatsangehörigen … als Flüchtlinge … vom 29.04.2004 heißt es in Art. 9 Abs. 2:

"Als Verfolgung im Sinne von Absatz 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten: ...
e. Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des Art. 12 Abs. 2 fallen …“

Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie verweist auf die Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke (d.h. insbesondere des Römischen Statuts für den Internationalen Strafgerichtshof).

Wahrung des Weltfriedens
Bei abschließender Bewertung des internationalen Menschenrechtsschutzes für Kriegsdienstverweigerer fällt nicht nur auf, dass die entsprechende Verweigerung nur eine dürftige Randexistenz fristet. Es fällt darüber hinaus auf, dass die Kriegsdienstverweigerung nicht als ein Recht wahrgenommen wird, sich in persönlicher Verantwortung am völkerrechtlich formulierten Ziel einer Überwindung des Krieges zu beteiligen.

Schon im Kriegsächtungspakt von 1928, aber auch in der Charta der Vereinten Nationen von 1945, wird als erstes Ziel der Vereinten Nationen die Wahrung des Weltfriedens genannt.

Nach dem Selbstverständnis wohl der meisten Kriegsdienstverweigerer sind sie mit ihrer Entscheidung neben der Achtung vor dem menschlichen Leben auch diesem Ziel einer Wahrung des Friedens verpflichtet.

Die Ethik der Kriegsdienstverweigerung bezieht sich dabei auf die Menschheit als ganze und nicht nur auf die Interessen der eigenen Nation, wie sie in den Amtseiden der Regierungen noch immer Priorität besitzt (z.B. Art. 56 und 64 Abs. 2 des Grundgesetzes: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohl des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden … werde“).

Die Ethik der Kriegsdienstverweigerung ist deshalb auch nur in Bezug auf den nationalen Rahmen „Gesinnungsethik“, bezogen auf die Menschheit, wie sie auch die modernen Völkerrechtsverträge im Blick haben, jedoch Verantwortungsethik (im Sinne der Klassifikation von Max Webers Überlegungen im Vortrag „Politik als Beruf“).

Für die weitere menschenrechtliche Diskussion in Bezug auf die Kriegsdienstverweigerung sollten deshalb folgende Erwägungen einbezogen werden:

1. Die Kriegsdienstverweigerung ist nicht nur ein individuelles Abwehrrecht gegen den Eingriff des Staates in die Freiheit der einzelnen Person, sondern auch ein Beteiligungsrecht am Anliegen einer Überwindung des Krieges und aller militärischen Einsätze.

2. Als individuelles Abwehrrecht muss es darum gehen, die Kriegsdienstverweigerung als Ausdruck der Selbstbestimmung und Autonomie des Menschen zu verstehen, welche keiner speziellen Gewissensbegründung bedarf, sondern einer eigenen Einsicht und dem Willen, dieser selbstbestimmten Einsicht auch zu folgen.

3. In materieller Hinsicht umfasst das Recht auf Kriegsdienstverweigerung

- den sanktionslosen Widerspruch gegen eine Zwangsrekrutierung,

- das Kündigungsrecht im Falle einer freiwillig übernommenen Verpflichtung zu beruflichen oder zeitlich befristeten Militärdiensten,

- das Recht zur Befehlsverweigerung gegenüber völkerrechtswidrigen Befehlen.

4. In verfahrensrechtlicher Hinsicht bedarf es zur Geltendmachung der Kriegsdienstverweigerung lediglich einer Erklärung, wie sie auch sonst im Rechtsverkehr ausreicht. Eine Begründung für die entsprechende Erklärung wird nur verlangt werden können für die vorzeitige Kündigung einer längerfristigen vertraglichen Verpflichtung sowie für die Verweigerung von Befehlen, die aus der eigenen Einsicht gegen das Kriegsvölkerrecht verstoßen.

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Ullrich Hahn ist Präsident des Internationalen Versöhnungsbundes, Deutscher Zweig.