Menschenrechte und Demokratie in ost-westdeutscher Perspektive

von Elke Steven
Initiativen
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Kurz bevor die sich zum fünften Mal jährende "Wiedervereinigung" staatlicherseits entsprechend gefeiert wurde, über Erfolge spekuliert oder kurzerhand festgestellt wurde: "noch sind die Mauern in den Köp­fen nicht gefallen" (Tagesthemen, 2.10.1995) hatte das Komitee für Grundrechte und Demokratie in Zusammenarbeit mit dem Bildungswerk Weiterdenken zu einer Tagung unter dem Thema "Menschenrechte und Demokratie in ost-westdeutscher Perspektive" vom 29.09. bis 01.10.1995 nach Chemnitz eingeladen. Statt der politischen Ehrung der Bürgerbewegung, die im Verhältnis zu ihrer nachhaltigen Marginalisie­rung nach der Wende gesehen werden muß, sollte der Dialog zwischen engagierten Menschen und Gruppen im Bereich der Bürgerbewegung und der neuen sozialen Bewegungen dort gesucht und er­möglicht wer­den. Anknüpfend an die Kontakte zu oppositionellen Gruppen, aus einer Zeit, als die DDR noch bestand, hatte das Komitee bereits 1991, kurz nach der "Wende", eine erste "Ost-West-Tagung" in Hannover veran­staltet. Diesmal sollte der Blick vorrangig nach vorne gerichtet werden. Ausgehend von einem Austausch über vergangene Erfahrungen, For­men der Arbeit und des Widerstands sollte die Frage nach gegenwärti­gen Zielen und den Utopien, an die diese rückgebunden sind, im Mittel­punkt der gemeinsamen Arbeit stehen.

"Grundlage der Kooperation waren und sind

- die wechselseitige Anerkennung der spezifischen Traditionen, Praxisfor­men und Besonderheiten, d.h. des Ei­gensinns oppositioneller Praxis in Ost und West,

- die Auseinandersetzung mit zuneh­mend gemeinsamen gesellschaftli­chen Realitäten und ihren ost/west spezifischen Brechungen,

- die durchaus kontroverse Diskussion über Ziele und Wege einer menschenrechtlich und demokratisch ausgewiesenen Politik und

- die Suche nach Formen der Zusam­menarbeit, die Bevormundung und das Überstülpen westlicher "Erfolgsmodelle" verhindern."

So wurde die Zielsetzung der Tagung im Vorhinein beschrieben.

Knapp 100 Menschen waren der Einla­dung gefolgt, zu fast gleichen Teilen kamen sie aus den alten und den neuen Bundesländern. Im Zentrum der Tagung stand die Arbeit in drei parallelen Ar­beitsgruppen. Den ganzen Samstag hat­ten diese Gruppen Zeit zum Austausch von Erfahrungen und zur Diskussion von gegenwärtigen und zukünftigen Strategien.

Thema der Arbeitsgruppe 1 war "Demokratisierung". Gruppen und In­itiativen, die zu den Themenbereichen "Frieden", "Umwelt", "Frauen" und "Kommunalpolitik" arbeiten, stellten sich vor und diskutierten über ihre Ar­beit. Im Zentrum der Diskussion stand das gemeinsame Pro­blemfeld der De­mokratisierung, da soziale Bewegungen durch die Nutzung politischer Rechte, Verfahren und Institutionen, in der Aus­einandersetzung mit den etablierten po­litischen Institutionen oder in der Kon­frontation mit dem repressiven Staats­apparat immer auch um mehr Demokra­tie kämpfen. Deutlich wurde die Konti­nuität der Arbeit der "alten" Initiativen der westdeutschen neuen sozialen Be­wegungen, wie z.B. der BI Umwelt­schutz in Lüchow-Dannenberg oder der "Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär". "Erfolge" können sie auch heute, in härter wer­denden Zeiten, verzeichnen. Eine Zu­sammenarbeit mit Gruppen in den neuen Bundesländern gelingt jedoch z.T. nur langsam. Auf der anderen Seite sind auch in den neuen Bundesländern längst Netzwerke entstanden, wie z.B. die Grüne Liga oder der Unabhängige Frau­enverband, die sich mit entsprechenden Problemen beschäftigen und eindrucks­voll von ihrer bisherigen Arbeit berich­ten konnten. Trotz erfolgreicher ostdeut­scher Selbstbehauptung erfreuen diese Verbände sich besonders im Westen nachhaltiger öffentlicher Nicht-Be­achtung. Bei Aktionen gegen das "Bombodrom Wittstock" ist jedoch be­reits eine intensive Zusammenarbeit von alten "westlichen" Gruppen mit neu ent­standenen Initiativen rund um Wittstock gelungen.

Zum Thema "Demokratische Teilhabe an gesellschaftlich sinnvoller Arbeit und sozialer Sicherung" arbeitete die zweite Arbeitsgruppe. Die Themen Arbeit und soziale Sicherung sind besonders be­deutsame und drängende Themen in den neuen Bundesländern. Deutlich wurde die Notwendigkeit der Verknüpfung des Themas Arbeit mit den Themen Ar­beitslosigkeit und Obdachlosigkeit. In letzteren beiden Themenfeldern beste­hen Initiativen, mit denen diejenigen zu­sammenarbeiten müssten, die sich mit Forderungen nach Arbeit und gerechter Arbeitsverteilung auseinandersetzen. Ohne eine neue Perspektive in Bezug auf die Forderung nach einer gerechten Verteilung von Arbeit bleibt das Thema auch in den alten Bundesländern unbe­friedigend. Erst wenn diese Konflikte im Zusammenhang deutlich werden, werden sie für die sozialen Bewegungen und die Bürgerbewegung bearbeitbar, und erst dann wird das Ausmaß der Pro­blematik verstehbar.

"MigrantInnen- und Flüchtlingspolitik - Die wiedervereinigte Menschenrechts­verletzung" war das Thema der dritten Arbeitsgruppe. Hierbei handelt es sich um ein Thema, das vielleicht am stärk­sten in beiden Teilen der neuen Bundes­republik aufgegriffen und bearbeitet wird, da die Veränderung des Asyl­rechts erst nach der "Vereinigung" statt­gefunden hat. Themen waren sowohl Fragen nach dem eigenen Rassismus als auch nach den Auswirkungen des immer rigider gehandhabten Grundrechts auf Asyl, das faktisch nicht mehr besteht. Berichtet wurde z.B. von einer Radtour entlang der neuen Ostgrenze Deutsch­lands, die den dortigen Umgang mit Flüchtlingen recherchieren helfen sollte. Ein Sozialamtsleiter aus Zwickau refe­rierte über Spielräume der kommunalen Verwaltungen bei der Interpretation ausländerrechtlicher Bestimmungen. Kirchenasyl, Betreuung von Abschiebe­häftlingen und Aktionen gegen das be­stehende Asylunrecht waren gemein­same Themen.

Am Abend dieses Tages hat das "SchauspielEnsembleRundumOrenstein" - SERO - unter Leitung von Edmund Elschner auf seine Weise die Teilneh­mer und Teilnehmerinnen mit der deut­schen Vergangenheit konfrontiert. In ei­ner unterhaltsamen, jedoch auch nach­denklich stimmenden Inszenierung von Texten aus der deut­schen Geschichte, im Wechselspiel mit Musik und Gesang, konnte so ein anderer Zugang zu dem Thema gewonnen werden.

Zu Beginn und zum Ende der Tagung haben ReferentInnen aus den alten und den neuen Bundesländern referiert. Schon zu Beginn wurde deutlich, daß es Unterschiede in den Orientierungen, in den Fragen und Themen gibt, die für die in den Bewegungen Aktiven anstehen. Vor allem aber beeindruckte das Inter­esse an den Überlegungen der anderen, die Bereitschaft zuzuhören und nach­zufragen, der Wunsch, die Erfahrungen und Fragen anderer nachzuvollziehen.

Die Bürgerrechtlerin Karla Fahr eröff­nete die Tagung mit einem Referat zum Thema "Vom bürgerbewegten Aufbruch zur Randständigkeit? Entwicklungen, Erfahrungen und aktuelle Situation von Bürgerrechtsgruppen und -initiativen in den neuen Bundesländern". Sie berich­tete von den neuen Wegen, die sie im Rahmen der damaligen Möglichkeiten bereits innerhalb der DDR mit anderen gegangen ist, von den Perspektiven und Wünschen, von denen sie sich leiten lie­ßen und die die Hoffnung in der Wende bestärkten. Inzwischen aber ist deutlich geworden, daß die alte Herrschaft zwar abgeschafft ist, die Gegenwart aber nichts mit ihren ursprünglichen Utopien zu tun hat. Sie hatten noch kurz nach der Wende auf eine ausführliche öffentliche Verfassungsdiskussion gehofft, die eine Aufarbeitung der Vergangenheit er­möglicht hätte. Diese Chance aber wurde herrschaftlich abgewürgt. Sie regte an, sich in Gruppen auch um eine Trauerarbeit zu bemühen. Trauer nicht um etwas, das vorhanden und verloren gegangen ist, nicht im Sinne der Verab­schiedung von den eigenen Zielen, Träumen und Utopien, sondern Trauer um den kurzen Augenblick, in dem für einen Moment die Verwirklichung der Träume unmittelbar möglich erschien - wissend jedoch, daß alle Beteiligten in diesem Moment des Aufbruchs Täu­schungen erlegen waren, da die Verän­derungen, die sie wollten, unendlich weitreichender sind, als daß sie kurzfri­stig verwirklichbar wären. Karla Fahr betonte, wie wichtig es damals wie heute ist, das, was Ziel für die Gesell­schaft ist, vorweg in Gruppen zu leben und zu verwirkli­chen. Um einen solida­rischen, kommunitären Lebensstil, in dem Authentizität möglich wird, müsse man sich bemühen, um sich gegen die verordneten Mythen der Marktwirt­schaft zur Wehr setzen zu können.

Der Politikwissenschaftler Roland Roth sprach danach zum Thema "Bürgerinitiativen und neue soziale Be­wegungen in den alten Bundesländern - viel bewegt und nichts verändert". Er betonte, daß es auf dieser Tagung um einen in die Zukunft gerichteten Aus­blick gehen muß, auch oder gerade weil die Zeiten rauer werden. Hoffnungs­voll stimmte sein Rückblick auf das, was die neuen sozialen Bewegungen im Westen an Veränderungen erreicht ha­ben. Er erinnerte an die Kriterien, an denen sich die Initiativen orientiert ha­ben und die sie als Maßstab an ihre Ar­beit anlegen. Stichwortartig sollen hier nur einige herausgegriffen werden: Aufwertung des Partikularen, Aufwer­tung subjektiver Betroffenheit und in­dividueller Erfahrungen, unparteiliche Kooperation auf eigenständiger Grund­lage, hohes Maß innerer Demokratie, Gewaltverzicht, phantasie- und lust­volles Handlungsrepertoire. Nicht auf einen kurzfristigen "Erfolg", die Errei­chung einer einzelnen Veränderung käme es an, sondern langfristig auf die Einhaltung der Grundrechte und die Verwirklichung von Demokratie. Wich­tig seien in diesem Zusammenhang eben nicht nur die Ziele, sondern auch die Mittel, mit denen sie erreicht werden sollten. Nach diesem aufmunternden Einstieg, machte er aber auch deutlich, wie weit das Erreichte von dem entfernt ist, was die neuen sozialen Bewegungen "eigentlich" erreichen wollen. Hinzu kommt, daß ihnen der Wind immer stär­ker entgegenweht, die Zeiten schlechter geworden sind und - so seine Prognose - durch die Zunahme sozialer Klüfte und von Zonen neuer Ungleichheiten noch rauer werden. Dessen sollten sich die TeilnehmerInnen in ihrer Arbeit bewusst sein und dennoch nicht aufgeben oder resignieren.

Am Ende fassten der Pfarrer und Bürger­rechtler Hans-Jochen Vogel und der Po­litikwissenschaftler Wolf-Dieter Narr die Erfahrungen der Tagung unter dem Thema "Kapitalismus ohne Alternative? - Perspektivische Überlegungen für West und Ost" zusammen. Hans-Jochen Vogel stellte die Notwendigkeit heraus, Utopien zu behalten und an der Mög­lichkeit der Veränder- und Gestaltbar­keit der Zukunft festzuhalten. Folge des weltweiten Wirtschaftskrieges sei die Verfeindung der Menschen mit sich selbst, zwischeneinander und gegenüber der Natur. Statt dessen aber gelte es, aus den vorgegebenen Wahrnehmungsmu­stern auszubrechen und ihnen Visionen entgegenzusetzen mit dem Ziel, ein Mehr an Menschenwürde, Selbstbe­stimmung und Eman­zipation zu errei­chen.

Wolf-Dieter Narr erinnerte daran, daß die neuen sozialen Bewegungen und die Bürgerbewegung nie nach der Macht greifen wollten und daß sie korrumpier­bar würden, wenn sie diesen Wunsch hätten. Das Machbare müsste im Mittel­punkt ihrer Arbeit stehen, nicht das Streben nach Macht. Statt sich an den Regierenden abzuarbeiten, sollte selbst­bestimmt-außerparlamentarisch Politik von unten betrieben werden. Viele le­bendige Bewegungen und Projekte wür­den zwar von der medialen Standard-Wahrnehmung gar nicht erfaßt, aber ihre Bedeutung könnte und dürfte nicht daran gemessen werden. Vergessen werden dürfe bei all der Arbeit nicht, daß diese Spaß macht, machen kann und soll, da daraus die notwendige Energie bezogen würde, um den aufrechten Gang fortzusetzen.

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Elke Steven ist Soziologin und Referentin beim Komitee für Grundrechte und Demokratie in Köln.