Menschen- und Völkerrecht heute

Menschenrechte versus Völkerrecht

von Norman Paech

Die fortschrittliche Stoßkraft, die den Menschenrechten aus ihrer Internationalisierung und völkerrechtlichen Kodifizierung einst erwuchs, ist weitgehend verloren gegangen. Sie hat sich sogar umgekehrt, sodass es zu einer Konfrontation zwischen den Menschenrechten und einigen Grundprinzipien des Völkerrechts gekommen ist.

Das ist in den letzten Jahren deutlich geworden, in denen die Menschenrechte von den großen kapitalistischen Staaten sowohl zur Legitimation ihres eigenen, weltweit nun konkurrenzlosen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell eingesetzt werden, als auch zur Begründung militärischer, d.h. „humanitärer“ Interventionen in Randgebieten, die sich ihrem Herrschaftsanspruch bislang widersetzt haben. Dazu war der emanzipatorische Anspruch der Menschenrechte, der vornehmlich aus ihrem europäischen Ursprung der Aufklärung schöpft, schon lange zuvor in eine Abwehrhaltung gegen systemgefährdende Forderungen umgewandelt worden. Die Menschenrechte wurden an die Errungenschaften der westlichen Zivilisation gekoppelt und somit auf die Produktions- und Lebensweise des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell reduziert. (1)

Vor dem Untergang der Sowjetunion hatte diese „marktwirtschaftliche“ Identifizierung von Menschenrechten und Demokratie noch eher einen defensiven, gegen die sozialistische Alternative gerichteten Charakter. Nach dem Untergang des ganzen „Ostblocks“ haben die Menschenrechte eine zunehmend offensive, ja aggressive Bestimmung gegen widerstrebende, d.h. dem westlichen Herrschaftsanspruch feindlich gegenüberstehende Staaten erhalten. Die damit aus der völkerrechtlichen Verbannung wieder zurück geholte „humanitäre Intervention“ (2) vermag sich zwar wie im Falle Jugoslawiens, Afghanistans, Iraks, Libyens, Syriens und des Iran durchaus auf mehr oder weniger gravierende Verstöße gegen Menschenrechte berufen. Diese finden sich aber ebenfalls im eigenen Herrschaftsbereich in vergleichbarer Weise (Türkei, Israel, Saudi-Arabien, Katar), ohne dass eine Intervention zur Diskussion steht.

Der entscheidende Auslöser der Interventionen, das wird heute kaum noch bestritten, ist die geostrategische Sicherung lebenswichtiger Ressourcen, wie es in den Sicherheitsstrategien der NATO (1999), der USA (2002, 2006, 2013) (3), der EU (2003) und der Bundeswehr (2011) (4) in aller Deutlichkeit ausgeführt wird. Denn der Zugang zu den weltweiten Ressourcen bedeutet Freiheit des Marktes und Freiheit des Handels, die zu den Essentialen der Demokratie und ihrer ökonomischen Grundordnung gehören. In diesem Sinn hat US-Präsident Bush seine Nationale Sicherheitsstrategie vom September 2002 u.a. mit den Sätzen eingeleitet: „The United States will use this moment of opportunity to extend the benefits of freedom across the globe. We will actively work to bring the hope of democracy, development, free markets, and free trade to every corner of the world.“ (5) Diese Sätze haben auch heute noch Gültigkeit. Vor den nackten ökonomischen Interessen der langfristigen Ressourcensicherung weht der Schleier von Demokratie, Entwicklung, freiem Markt und freiem Handel, denen problemlos die Menschenrechte als normative Inkarnation menschlicher Freiheit hinzufügt werden.

Die Identifikation von Menschenrechten, Demokratie und kapitalistischer Wirtschaftsordnung in einem moralischen Prinzip der Freiheit ist total. Sie ist damit bestens geeignet, eine ebenso totalitäre Botschaft für eine Weltordnung abzugeben, die ganz auf den imperialen Anspruch der dominierenden kapitalistischen Staaten zugeschnitten ist. Werden aber Menschenrechte und Demokratie immer offener auf die Freiheiten des kapitalistischen Verkehrs reduziert, verlieren sie ganz ihren emanzipatorischen Charakter und geraten in immer deutlicheren  Widerspruch zu dem nach 1945 geschaffenen Völkerrecht. Schließlich – und dieses ist eine der gefährlichsten Entwicklungen der jüngsten Zeit – wird das Konglomerat von Rechten und Werten zwischen Markt und Demokratie zu einer Kampfformel verdichtet, welche wahlweise unter dem Begriff der „westlichen Wertegemeinschaft“ oder der „nationalen Sicherheit“ die Völkerrechtsordnung und die Verfassungen der Staaten unterlaufen soll. Im Namen der Menschenrechte und Demokratie werden Notstandssituationen und eine „responsibility to protect“ (6) ausgerufen, von denen behauptet wird, dass sie nur noch mittels militärischer Interventionen behoben und erfüllt werden können. Diese Interventionen verzichten immer offener auf die einzige Legitimation, die kriegerischen Einsätzen zukommt: die UNO-Charta und das Völkerrecht. Allein die Kriege in Afghanistan und Irak zeigen, dass die Zerstörung ganzer Gesellschaften und Vernichtung von materiellen Gütern und menschlichem Leben immer weniger in einem vertretbaren Verhältnis zu den vorgeblichen Werten stehen, die gerettet werden sollen. Abgesehen von den Opfern und Schäden eines jeden Krieges, stellt die Erosion der formellen Völkerrechtsordnung durch eine nirgends kodifizierte Werteordnung eine erhebliche Gefährdung der internationalen Friedensordnung dar. Der Mechanismus der Friedenssicherung, den die UNO-Charta mit dem VII. Kapitel dem UNO-Sicherheitsrat an die Hand gegeben hat, und damit die militärische Sanktion allein dem kollektiven Organ der UNO überantworten wollte, wird außer Kraft gesetzt und durch die Feinderklärung derjenigen Staaten ersetzt, die ihre militärische Überlegenheit gegenüber anderen Staaten ausspielen können. Das Kriterium der Intervention ist nicht mehr der Bruch oder die Gefährdung des Friedens, wie in Art. 39ff. UNO-Charta gefordert, sondern die militärische Stärke des intervenierenden Staates. Allen Beteiligten dürfte klar sein, dass dieses ein Rückfall hinter die UNO-Charta zurück in die unselige Zeit des Völkerbunds ist und der eigenen Beschwörung der rule of law Hohn spricht. So befinden wir uns derzeit in einer Epoche, in der die Menschenrechte nicht mehr ausschließlich der Stärkung des Individuums in der Völkerrechtsordnung dienen, sondern dafür ins Feld geführt werden, um die Souveränität von Staaten zu durchbrechen und die Friedensordnung der UNO-Charta und des Völkerrechts zu unterlaufen.

 

Anmerkungen
1 Schon in seiner Schrift zur Judenfrage hat Karl Marx kritisiert, dass „bei den Menschenrechten … sich Wort und Wesen notwendig in den Haaren liegen, weshalb die Regierenden die vorgeblichen Menschenrechte auf einen ihren jeweiligen Klasseninteressen gemäßen Inhalt zu reduzieren unternehmen.“  Klenner, Marxismus, 1982, S. 82

2 Zur Kritik der „humanitären Intervention“ ausführlicher Paech, Norman und Stuby, Gerhard (2013) Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen, VSA-Verlag, S. 566ff. Rz. 113 – 119; sowie inPaech, Norman (1992) „Humanitäre Intervention“ und das Völkerrecht, in: Albrecht, Schäfer (Hrsg.) Der Kosovo-Krieg, Köln, S. 82 ff, S. 82 ff.

3 Siehe dazu: http://www.whitehouse.gov/nsc/nss.html ; http://www.whitehouse.gov/nsc/nss/2006/index.html; http://www.nationalsecuritystrategy.org/pdf/pusa-report-march-2013.pdf

4 Verteidigungspolitische Richtlinien: Nationale Interessen wahren – Internationale Verantwortung übernehmen – Sicherheit gemeinsam gestalten, Berlin, den 18. Mai 2011: „Freie Handelswege und eine gesicherte Rohstoffversorgung sind für die Zukunft Deutschlands und Europas von vitaler Bedeutung. Die Erschließung, Sicherung von und der Zugang zu Bodenschätzen, Vertriebswegen und Märkten werden weltweit neu geordnet. Verknappungen von Energieträgern und anderer für Hochtechnologie benötigter Rohstoffe bleiben nicht ohne Auswirkungen auf die Staatenwelt. Zugangsbeschränkungen können konfliktauslösend wirken. Störungen der Transportwege und der Rohstoff- und Warenströme, z.B. durch Piraterie und Sabotage des Luftverkehrs, stellen eine Gefährdung für Sicherheit und Wohlstand dar. Deshalb werden Transport- und Energiesicherheit und damit verbundene Fragen künftig auch für unsere Sicherheit eine wachsende Rolle spielen.“ (S. 4f.)

5 Im 6. Kapitel der Nationalen Sicherheitsstrategie wird das Konzept des Freihandels als “moral principle” auf eine menschenrechtliche Stufe gehoben.

6 Paech, Norman (2011) Responsibility to Protect – ein neues Konzept für neue Kriege? in: Crome (Hrsg.), Die UNO und das Völkerrecht in den internationalen Beziehungen der Gegenwart, Rosa Luxemburg Stiftung Papers, Berlin, Oktober 2011, S. 59 ff.

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