Menschenrechtsbildung oder Entwicklung einer „Kultur der Menschenrechte“

von Reiner Engelmann

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“
Dieser erste Satz in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist, besonders auch im Hinblick auf Menschenrechtsbildung, von zentraler Bedeutung. Er sichert jedem Menschen, unabhängig von sozialer und nationaler Herkunft, von Hautfarbe, Geschlecht, Religion oder Weltanschauung oder auch Vermögen, gleiche Rechte und Freiheiten zu.

Bei den Verfasserinnen und Verfassern der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bestand schon ein Konsens darin, dass die Umsetzung dieser Erklärung auch eine Frage der Bildung und Erziehung ist. So forderten sie bereits in der Präambel, durch Unterricht und Erziehung die Achtung dieser Rechte und Freiheiten zu fördern.

Die Weltgemeinschaft wird sich in diesem Jahr sicher in besonderer Weise an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte erinnern. Am 10. Dezember 1948 wurde sie von den Vereinten Nationen verabschiedet und gehört zu den grundlegenden Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben. Ohne Respekt vor der Würde und den Rechten eines jeden einzelnen Menschen, das hat die Vergangenheit bewiesen und wird uns auch in der Gegenwart immer wieder vor Augen geführt, ist ein friedliches und sicheres Zusammenleben nicht möglich.

Die Menschenrechte spielen heute, gerade in der politischen Diskussion, eine nie erreichte Bedeutung. Spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts wird der „Würde des Menschen“ zunehmend Rechnung getragen, indem Menschenrechte Eingang finden in den verschiedensten, völkerrechtlich verbindlichen Normenkatalogen, Deklarationen und Konventionen. Menschenrechtsinstitutionen, politische und juristische Organe wurden und werden zur Kontrolle der Menschenrechtslage ins Leben gerufen.

Obwohl fast alle Staaten der Erde die Menschenrechtserklärung anerkannt haben, besteht zwischen dem darin formulierten Anspruch und der alltäglichen Wirklichkeit in den meisten Ländern der Welt ein enormer Gegensatz. Trotz der Menschenrechtserklärung, trotz zahlreicher Abkommen wie der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte, der Schlussakte von Helsinki, dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, dem Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung oder den UN-Konvention über die Rechte des Kindes, die für die Unterzeichnerstaaten allesamt verpflichtenden Charakter haben, erfährt man von Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international oder Human Rights Watch immer wieder von willkürlichen Verhaftungen, von Folter, von Sklaverei, von ausbeuterischer Kinderarbeit, zum Teil in Schuldknechtschaft, von staatlichem Mord, vom „Verschwindenlassen“ von Menschen bis hin zur Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe.

Wie aber lässt sich der Anspruch, der in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben ist, umsetzen?

Zunächst einmal: Menschenrechte müssen, wenn sie Wirkung haben sollen, bekannt sein und verstanden werden.

Es gibt – leider nur wenige – aussagekräftige Untersuchungen aus den zurückliegenden Jahren, die den Bekanntheitsgrad der Menschenrechte in der Öffentlichkeit zum Gegenstand hatten. Eines haben jedoch alle Ergebnisse gemeinsam: Nur wenige Artikel aus der Menschenrechtserklärung waren den Befragten bekannt. Von den 30 Artikeln konnten sie im Durchschnitt nur den Inhalt von drei Artikeln wiedergeben, viele konnten spontan kein einziges Menschenrecht benennen. Das bedeutet, dass ein Großteil der Menschenrechte in der Bevölkerung weitgehend unbekannt ist.

Nur Menschenrechte, die man kennt und versteht, können ihre Wirkung entfalten.

Zur Durchsetzung der Menschenrechte ist es deshalb, neben vielen anderen Dingen, notwendig, eine „Kultur der Menschenrechte“ zu entwickeln, in der sich jeder Mensch seiner Rechte und auch seiner Verantwortung für diese bewusst ist. Die Verwirklichung der Menschenrechte ist nicht ausschließlich Aufgabe staatlichen Handelns, sondern maßgeblich ist die Haltung und das Engagement jedes Einzelnen.

Hier setzt Menschenrechtsbildung an, denn sie ist für die Durchsetzung der Menschenrechte ein unverzichtbarer Bestandteil.

Die Träger der Menschenrechtsbildung sind allen voran die Schulen und Hochschulen, aber auch Nichtregierungsorganisationen, Einrichtungen der politischen Bildung oder internationale Institutionen.

Für die Schulen hat die Kultusministerkonferenz, letztmals erneuert im Jahr 2000, Empfehlungen für die Menschenrechtsbildung formuliert. Danach gehört sie zum Kernbereich des Bildungs- und Erziehungsauftrages von Schulen und ist in allen Landesverfassungen als oberstes Bildungsziel festgelegt.

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Dieser Satz steht ganz im Zentrum der Menschenrechtsbildung und ist, gerade in der Schule, nicht nur in einem Fach, in dem Menschenrechtsinhalte vermittelt werden, von Bedeutung, sondern für die Erziehung und den gesamten Unterricht und sie ist Aufgabe aller Lehrerinnen und Lehrer. Deshalb soll sie auch in der Lehreraus- und –fortbildung berücksichtigt werden.

Eine Behandlung der Menschenrechtsthematik im Unterricht soll insbesondere Kenntnisse und Einsichten vermitteln über

  • Die historische Entwicklung der Menschenrechte und ihre gegenwärtige Bedeutung
  • Die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte, sowohl für die Rechte des Einzelnen als auch für die objektiven Gestaltungsprinzipien des Gemeinwesens
  • Das Verhältnis von persönlichen Freiheitsrechten und sozialen Grundrechten im Grundgesetz und in internationalen Konventionen
  • Die unterschiedliche Auffassung und Gewährleistung der Menschenrechte in verschiedenen politischen Systemen und Kulturen
  • Die grundlegende Bedeutung der Menschenrechte für das Entstehen des modernen Verfassungsstaates
  • Die Notwendigkeit der Berücksichtigung eines individuellen Menschenrechtsschutzes im Völkerrecht
  • Die Bedeutung internationaler Zusammenarbeit für die Verwirklichung der Menschenrechte und die Sicherung des Friedens
  • Das Ausmaß und die sozialen, ökonomischen und politischen Gründe der weltweit festzustellenden Menschenrechtsverletzungen.

Menschenrechtsbildung, soll sie erfolgreich sein, vollzieht sich auf drei Ebenen:

  1. Lernen über Menschenrechte
    Hier geht es in erster Linie um die Vermittlung sachlicher Inhalte wie der Menschenrechtserklärung oder der Erklärung der Kinderrechte sowie um die Auseinandersetzung von Schlüsselbegriffen wie Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit etc. Ferner geht es um die Darstellung der historischen Entwicklung und der aktuellen Lage der Menschenrechte.
  2. Lernen durch Menschenrechte
    Auf der Grundlage der Menschenrechtserklärung soll eine Vielfalt von Beispielen (Armut, Kultur, Gleichberechtigung, Familie, Kinder, Bildung, etc.) überprüft sowie eigene Haltungen und Einstellungen dazu reflektiert werden. Chancen für die Überwindung von Menschenrechtsverletzungen sollen erkannt werden.
  3. Lernen für die Menschenrechte
    Insbesondere Handlungs- und Kommunikationskompetenzen sollen entwickelt und vermittelt werden, die es ermöglichen, sich aktiv für die Einhaltung der Menschenrechte einzusetzen. Neben dem Engagement für die „großen Begriffe“ wie Solidarität, Toleranz, Konfliktbewältigung etc. geht es gerade auch darum, den täglichen Umgang mit Menschen, also unter Achtung der Menschenwürde, ständig zu reflektieren und immer wieder neu einzuüben. Gerade in diesem Jahr, dem 60. Jahrestag der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, hat es sich die Organisation amnesty international zu einer Schwerpunktaufgabe gemacht, das Thema Menschenrechtsbildung noch einmal stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Gemeinsam mit er Stiftung Lesen wird im gesamten deutschsprachigen Raum die Schulkampagne „Wissen gegen Willkür“ durchgeführt. Mit dieser Schulkampagne wollen amnesty international und die Stiftung Lesen Schülerinnen und Schülern die Bedeutung der Menschenrechte näher bringen und eine Beschäftigung mit dem Thema anregen. Es ist keine „Feiertagsmentalität“, die hinter dieser Kampagne steckt, sondern eine gezielte Aufforderung, auch über das Jahr 2008 hinaus den Menschenrechten Aufmerksamkeit zu schenken. Nähere Informationen dazu unter: http://www.wissengegenwillkuer.de

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Reiner Engelmann ist Autor des Buches "Kinder: ausgegrenzt und ausgebeutet".