Menschenrechtsverletzungen und -gefährdungen in der Bundesrepublik Deutschland

von Martin Singe
Schwerpunkt
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Wenn die Bundesregierung über Menschenrechte spricht, schaut sie ins Ausland. So ist es auch kein Wunder, daß der Menschenrechtsbe­richt der Bundesregierung vom Auswärtigen Amt geschrieben wird. Diese Sichtweise verstellt den Blick für die vielfältigen Menschen­rechtsverletzungen in der Bundesrepublik selbst, mögen diese in vielen Fällen auch nicht so gravierend sein wie in manchen anderen Staaten. Wir wollen im Folgenden einen Überblick über Bereiche geben, in denen aus unserer Sicht Menschenrechte in der BRD verletzt werden. Dies kann hier nur stichpunktartig geschehen. Ausgeblendet bleibt auch eine strukturelle Analyse der BRD-Gesellschaft, die zusätzlich verdeutlichen würde, daß die Gefährdungen von Menschenrechten in unserer Gesell­schaft von wirtschaftlichen und machtstrukturellen Zusammenhängen systematisch mitbedingt sind.

Bürgerinnen- und Bürgerrechte sind oft beschnitten oder unterentwickelt. Die demokratischen Rechte (alle Gewalt geht vom Volke aus) sind reduziert auf wenige Wahlakte für repräsentative Or­gane. Es mangelt an Möglichkeiten di­rekter Demokratie und selbstverwalteter gesellschaftlicher Bereiche und Institu­tionen. Das Informationsrecht der Bür­gerinnen und Bürger unterliegt vielfältigen Einschränkungen in der Verwal­tungsgesetzgebung und in anderen Be­reichen (z.B. Verteidigungspolitik als Geheimhaltungspolitik der Regierung gegen das eigene Volk).

Soziale Rechte werden zu wenig ernst genommen. Die Rechte auf Arbeit, Wohnung und Mindest-unterhalt sind in der BRD nicht garantiert. Arbeitslosig­keit, Armut und Obdachlosigkeit (bis hin zur Inkaufnahme der allwinterlich erfrierenden Obdachlosen) nehmen auch in der BRD zu und verletzen die Men­schenrechte der Betroffenen. Diese so­zialen Rechte müssen als Staatszielbe­stimmungen in das Grundgesetz inte­griert werden, damit endlich grundle­gende Schritte gegen die permanente Verletzung dieser Rechte eingeleitet werden können. Die hohe Arbeitslosig­keit gefährdet zudem das Recht auf freie Berufswahl. Berufsverbote in den neuen Ländern sind oft pauschaliert begründet und menschenrechtlich nicht zu legitimieren.

AusländerInnen und Asylsuchende werden in der BRD systematisch dis­kriminiert und von Grundrechten ausge­schlossen. Selbst nach extrem langer Aufenthaltsdauer bleibt die Diskriminierung aufrechterhalten. Einbürgerung - wenn überhaupt - ist an unzumutbare Fristen gekoppelt, es fehlt ein Recht auf doppelte Staatsbürgerschaft, es fehlen Mitbestimmungs- und Wahlrechte. Das Ausländergesetz selbst ist in weiten Zü­gen diskriminatorisch.

Die Lage der Asylbewerber hat sich nach der Asylrechtsänderung am 1.7.1993 noch einmal drastisch ver­schlechtert. Für viele Flüchtlinge ist in der Bundesrepublik seitdem das Asyl­recht außer Kraft gesetzt, da sie durch das ungerechtfertigte Konzept der sog. "sicheren" Herkunftsländer und Dritt­staaten gar keinen Antrag mehr stellen dürfen. Die Prüfungen wurden ver­schärft und Minimalstandards beim wirksamen Rechtsschutz werden nicht mehr eingehalten (s. Flughafen-verfah­ren), es wird extrem verstärkt abgescho­ben; die Abschiebehaft ist ein Unrechts-Institut (grundlose Inhaftierung, schlechteste Gefängnisbedingungen, Familientrennung etc.); Suizidversuche und Suizide sind nur der Gipfel der psy­chischen und physischen Folgen der Abschiebehaft; Abschiebungen gesche­hen oft unter Verletzung der Men­schenwürde; Bürgerkriegsflüchtlingen und Deserteuren wird die Aufnahme in Deutschland verweigert.

Gegen rassistische Diskriminierungen und Gewalttaten wird nicht entschieden genug vorgegangen, selbst in staatlichen Einrichtungen kommt es zunehmend zu rassistischen Übergriffen bis hin zu Folter (Polizeigewahrsam, Gefängnisse, Abschiebungen, Rauschgiftfahndung).

Die Rechte kultureller und ethnischer Minderheiten werden oft nicht hinrei­chend berücksichtigt. Insbesondere müsste die Möglichkeit der Ausübung der eigenen Sprache und Kultur umfas­sender gewährleistet oder gefördert werden.

Gefangene werden oft in ihrer Men­schenwürde durch die Bedingungen und Ausgestaltungen des Strafvollzugsge­setzes verletzt, das viel zu viele Belie­bigkeiten und Interpretationsspielräume enthält. Das Resozialisierungsgebot steht oft nicht im Mittelpunkt oder wird tw. gar nicht beachtet. Personelle Eng­pässe führen - selbst im Jugendvollzug - zum Verwahrvollzug. Extrem lang an­dauernde und vor allem die lebenslange Freiheitsstrafe sowie die Sicherungs­verwahrung verstoßen gegen die Grund- und Menschenrechte. Eine europäische Untersuchungskommission hat 48 Punkte im Strafvollzugssystem der BRD bemängelt, von denen lediglich 2 Punkte behoben wurden.

Behinderte sind noch lange nicht wirk­lich gleichberechtigt. Ihre Integration in die Arbeits- und Berufswelt ist völlig ungenügend. Die Menschenwürde Be­hinderter ist bedroht durch Entwicklungen in der biotechnologischen For­schung bis hin zur Forderung nach gen­technischen Versuchen an Behinderten. Die Konsequenzen der pränatalen Dia­gnostik führen zunehmend zur Abwer­tung und Ablehnung behinderter Men­schen.

Kinder und Jugendliche sind in ihrer Entwicklung oft gefährdet, da ständige Mittelkürzungen zu einem permanenten Unterangebot an schulischen und außer­schulischen Angeboten der Jugendar­beit und Jugendbildung geführt haben (besonders extrem in den neuen Län­dern). Kindergartenplätze fehlen, was sich zusätzlich besonders negativ auf die Rechte der Frauen auswirkt. Die Rechte der Jugendlichen auf Ausbildung, Ar­beit, Wohnung, Zukunft und gesunde Umwelt sind extrem gefährdet. Lehr­linge werden oft diskriminierend behan­delt und mit der Arbeitsmarktsituation erpresst.

Frauen sind in dieser frauenfeindlich organisierten Gesellschaft immer noch nicht gleichberechtigt. Diskriminierun­gen von Frauen und sexistische Gewalt in allen Bereichen von Gesellschaft und Arbeitswelt sind noch immer an der Ta­gesordnung und verletzten die Würde aller Frauen.

Homosexuelle Frauen und Männer sind noch lange nicht gleichberechtigt. Neben gesellschaftlichen Diskriminie­rungen wird ihnen auch die rechtliche Gleichstellung mit heterosexuellen Partnerschaften verweigert. Sie müssen oft berufliche Benachteiligungen in Kauf nehmen.

Alte Menschen werden vor allem bei Pflegebedürftigkeit oft menschenun­würdig behandelt. Ihre Rechte auf Selbstbestimmung und Würde werden eingeschränkt und ein würdiges Sterben häufig unmöglich gemacht.

Angestellte und Beamte bei der Bun­deswehr, BGS und Polizei werden oft durch die jeweiligen autoritär-hierarchi­schen Systeme in ihrer Freiheit be­schnitten, oft auch in der Freiheit ihres Gewissens, was die Befolgung be­stimmter Befehle angeht. (s. Berichte des Wehrbeauftragten, der Kritischen Polizisten etc.)

Kriegsdienst- und Totalverweigerer werden immer noch nicht in ihrer Ge­wissensfreiheit respektiert. Das inqui­sitorische Gewissensprüfungsverfahren besteht weiterhin für bestimmte Gruppen von Kriegsdienstverweigerern; To­talverweigerer werden in Gefängnisse gesteckt, statt daß ihre Gewissensent­scheidung akzeptiert wird, es fehlt das Recht der umfassenden Kriegsdienstverweigerung (Verweigerung auch der zi­vilen Unterstützung von Krieg); die Re­gelung der allgemeinen Dienstpflichten in Art. 12 a GG widerspricht dem Recht auf freie Berufsausübung und kann in Konflikt mit der Gewissensfreiheit ge­raten, da auch diese Dienste kriegsför­dernd wirken können und ein Verweigerungsrecht fehlt.

Die Demonstrationsfreiheit ist in letz­ter Zeit verschärft eingeschränkt wor­den. Damit unterliegt das Versamm­lungsrecht einer zunehmenden Be­schneidung. Oft werden Demonstratio­nen nur noch nach kostenaufwendigem Gang durch die rechtlichen Instanzen genehmigt. Das Demonstrations-recht fördert nicht die Ausübung der Ver­sammlungsfreiheit, sondern versucht diese systematisch zu beschränken und zu reglementieren. Polizeiübergriffe können oft nicht geahndet werden, da Polizisten im Einsatz nicht gekenn­zeichnet sind und es in Prozessen oft zu gegenseitigen Deckungen durch Zeu­genaussagen von Kollegen kommt.

Das Recht auf informationelle Selbst­bestimmung kollidiert oft mit Gesetzen, die der sog. Inneren Sicherheit dienen sollen. Volkszählungen, Datenaus­tausch, Datensammlungen bei Behörden stehen oft genug nicht in Einklang mit den Datenschutzbestimmungen. Das Brief-, Post- und Fernmeldegeheim­nis wird durch Maßnahmen zur sog. In­neren Sicherheit ständig durchbrochen, ebenfalls das Grundrecht auf Unver­letzlichkeit der Wohnung.

Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist bedroht durch die fortgesetzte Atompolitik, durch die um­weltzerstörerische Wirtschaftspolitik, durch die Verteidigungspolitik und neue Militarisierung der Außenpolitik, durch die Bio- und Gentechnologien.

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Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".