Militär und Menschenrechte am Beispiel Rußlands

von Ella Poljakova
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Der russische Präsident erklärte das Jahr 1998 zum Jahr der Menschenrechte. Rußland hat die Europäische Menschenrechtskonvention und die Konventionen gegen Folter und Zwangsarbeit ratifiziert und bereits 1993 die Menschen- und Bürgerrechte im zweiten Kapitel der Verfassung der Russischen Föderation bekräftigt.

Grundlage der Konflikte in unserer Gesellschaft ist der Widerspruch zwischen den Steuerzahlern, von denen viele bereit und willens sind, die Rechte und Freiheiten eines Menschen und Bürgers zu nutzen, und den Beamten, welche dem aktiv entgegenarbeiten. Der aus diesem Widerspruch heraus entspringende Konflikt zerstört die Sicherheit der Person, der Familie und der Gesellschaft im Ganzen.

Ihnen wie allen, die in einer demokratischen Gesellschaft mit einem entwickelten System des Menschenrechtsschutzes leben, in dem der Steuerzahler auf allen Ebenen Einfluß auf die Handlungen der Macht nimmt, fällt es schwer, sich das Leben in einer Gesellschaft vorzustellen, in der es nur unvollkommene Gesetze gibt, die zudem nicht umgesetzt werden. Eben deshalb müssen wir uns in einer Selbsthilfeorganisation zusammenschließen, um unsere Rechte zu verteidigen und durchzusetzen.

Unsere Menschenrechtsorganisation "Soldatenmütter St. Petersburg" wurde im Herbst 1991 gegründet und arbeitet seitdem für die Auflösung dieses Konfliktes durch:

- den gemeinsamen Einsatz für den Schutz des Lebens, der Gesundheit und der Bürgerrechte
  der Wehrpflichtigen, Kriegsdienstleistenden und ihrer Familienangehörigen;

- die Kontrolle der Bürger über die Einhaltung der Gesetzgebung der Russischen Föderation und
  internationaler Verpflichtungen Rußlands im Bereich der Verteidigung;

- die Unterstützung einer gesetzgeberischen Praxis im Bereich der Verteidigung, die internationalen
  Menschenrechtsverträgen und der Verfassung Rußlands entspricht;

- der Erarbeitung praktischer Methoden (juristischer wie medizinischer) zur Verteidigung der Rechte
  und gesetzmäßigen Interessen der Wehrpflichtigen, Kriegsdienstleistenden und ihrer Familienangehörigen;

Das allgemeine Problem aller nichtstaatlichen Organisationen (NGO) wird durch alle diese Bereiche unserer Tätigkeit gelöst: Ausarbeitung, Erprobung und praktische Nutzung von Methoden und Möglichkeiten des Übergangs von einer totalitären zu einer Zivilgesellschaft auf der Grundlage der Lösung konkreter Probleme.

Bisher haben sich mehr als 50.000 Menschen an uns gewandt. Gegenwärtig sind es im Durchschnitt 200 bis 250 pro Woche. Mit unserer Hilfe ist es 40.000 Menschen gelungen, ihr gesetzliches Recht, nicht in der Armee zu dienen, durchzusetzen; mehr als 2.500 Wehrpflichtige konnten ihr Recht auf Gesundheit verteidigen, indem sie eine vorzeitige Entlassung aus dem Kriegsdienst aus Gesundheitsgründen erreicht haben.

In unserer Armee tragen die Menschenrechtsverletzungen massenhaften Charakter, weil alle vom Präsidenten bis zum Beamten und einfachen Soldaten das Gesetz verletzen. Außerdem trägt niemand die Verantwortung für diese Gesetzesbrüche. Von der Organisation Soldatenmütter gesammelte Dokumente legen Zeugnis darüber ab, daß die Verletzung des geltenden Rechts von seiten der Staatsorgane auf allen Ebenen bei der Einberufung und während des Dienstes in der russischen Armee in der letzten Zeit stark zugenommen hat.

Die größte Zahl der Gesetzesbrüche steht im Zusammenhang mit der ungesetzlichen Einberufung von jungen Männern, die das Recht auf Zurückstellung haben oder aus gesundheitlichen Gründen untauglich sind. 1997-1998 hat man die Praxis fortgesetzt, untaugliche junge Männer einzuberufen, darunter auch einige mit Nervenkrankheiten. Die Organisation besitzt Daten über die Einberufung von Personen, die an Schizophrenie und Epilepsie erkrankt sind, von AIDS-Kranken, und über die massenweise Verbreitung von Hepatitis und Krätze in der Armee.

Nach den Ergebnissen medizinischer Untersuchungen, die die Organisation sammelt, entspricht die Mehrheit der Wehrpflichtigen im Alter von 18 Jahren in ihrer körperlichen Verfassung nicht den Anforderungen, die für den Armeedienst gestellt werden.

In der Organisation Soldatenmütter werden Klagen von Müttern aus St. Petersburg gesammelt, wonach ihre Söhne zur Ableistung des Armeedienstes in den Hochschulen, der Metro und auf Spaziergängen festgenommen wurden. Bei vielen Familien ist die Miliz in die Wohnungen eingedrungen. Viele Mütter haben der Organisation Soldatenmütter berichtet, daß sie den Aufenthaltsort ihrer Söhne erst erfahren haben, als sie von ihnen aus der Militäreinheit angerufen wurden.

Der Dienst in der russischen Armee erweckt im Menschen das Bewußtsein einer völligen Rechtlosigkeit der Person. Das überträgt sich auf das zivile Leben. Die Menschenrechtsverletzungen in der Armee, vor allem die Angriffe auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit, tragen massenhaften Charakter. Denjenigen, denen die Situation in der russischen Armee nicht bekannt sind, muß es schwerfallen, sich vorzustellen, daß so etwas heutzutage in staatlichen Strukturen möglich ist. Vielleicht sind Ihnen einige Fälle bekannt, die während der Glasnost-Politik öffentlich gemacht worden sind, insbesondere Erschießungen von Kameraden durch bis an die Grenze menschlicher Möglichkeiten getriebene Opfer von Erniedrigungen, Folter und Gewalt. Laut in der Presse veröffentlichten Daten sind allein von April 1995 bis Mai 1998 in den Streitkräften Rußlands 83 Menschen erschossen und 22 verwundet worden.

Unsere Organisation verfügt über eine ausreichende Anzahl an Dokumenten, die zu behaupten gestatten, daß Erniedrigungen, Verprügelungen, Folter und sogar die Ermordung junger Soldaten durch Offiziere und längergediente Soldaten eine Massenerscheinung geworden ist. in den Erklärungen von Kriegsdienstleistenden und ihren Angehörigen werden Prügel mit Händen, Füßen und Gegenständen (Ketten, Gürteln usw.) beschrieben. Soldaten, die eine Gefängnisstrafe abgesessen haben, sprechen davon, daß man sich in Gefängnissen und Lagern ihnen gegenüber humaner verhalten habe als in der Armee. Es gibt Zeugenaussagen über Vergewaltigungen in der Armee. In ganz Rußland wenden sich die Eltern von Wehrpflichtigen massenweise an die Organisation der Soldatenmütter, weil sie sich um Gesundheit, Leben, Ehre und Würde ihrer Söhne sorgen. Und unter diesen Bedingungen verwandeln sich die Familien, für die das Leben ihres Kindes der höchste Wert geworden ist, in einen Schutz- und Zufluchtsraum für ihre Söhne. Dazu müssen sie selber ihre Angst vor Militär, der Miliiz und der Drohung mit Gefängnisstrafe überwinden.

Zum ersten Mal in der gesamten Kriegsgeschichte haben die Eltern der Soldaten und Matrosen sich nicht gefürchtet, die Teilnahme ihrer Kinder am schändlichen Krieg zu verhindern: in Tschetschenien. Viele sind bis in die Zonen der Kampfhandlungen gefahren und haben ihre Söhne aus diesem Krieg geholt. Wir meinen, daß die Kriegsverbrechen in Tschetschenien von einem internationalen Tribunal abgeurteilt werden müssen. Deshalb haben wir Belege über die Verletzung des fundamentalen Menschenrechts auf Leben an friedlichen Einwohnern Tschetscheniens, Journalisten, Soldaten und ihren Eltern gesammelt und an die Menschenrechtskommission der UNO geschickt.

Die gegenwärtigen Ereignisse im Kaukasus erscheinen als der Beginn eines neuen brudermörderischen Krieges in Dagestan und Abchasien. Leider ist unsere Gesellschaft noch nicht in der Lage, den Krieg zu verhindern, daher unterstützen wir jede Antikriegsinitiative und legen große Hoffnungen auf die in unserer Organisation beständig arbeitende Schule für Menschenrechte als eine der effektiven Formen von Aktivität gegen Krieg.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Übersetzung aus dem Russischen: Christian Axnick)

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Ella Poljakova, Organisation Soldatenmütter St. Petersburg