Friedensbildung

Militarismus als friedenspädagogische Herausforderung

von Werner Wintersteiner
Schwerpunkt
Schwerpunkt

Der Bub ist etwa drei Jahre alt und noch etwas ängstlich. Er spielt gerne „herein/hinaus“. In immer wieder neuen Formen werden die Guten mit an Bord genommen, ins Haus hereingebeten, über die Grenze geführt oder als Mitspieler zugelassen, während die Bösen abgewehrt, verfolgt, eingesperrt oder ausgestoßen werden. Seien es Lego-Männchen, Playmobilfiguren oder einfach Holzstäbchen. Ich helfe ihm geduldig, aus den klobigen LEGO-Duplo-Steinen die immer wieder auseinanderbrechenden Pistolen oder Gewehre zusammenzusetzen, die er für sein Spiel braucht. Ob ich als Pazifist damit keine Probleme habe, werde ich gefragt. Nicht im Geringsten, antworte ich. Das Kind ist eben ängstlich und braucht das Gefühl von Stärke. So, wie unsere Gesellschaft funktioniert, sind Waffen Symbol und Instrument dafür. Dieses Sicherheitsbedürfnis muss ich respektieren und unterstützen. Es wäre Gewalt, ihm diese Symbole aus einem falsch verstandenen Antimilitarismus heraus mit der Autorität des Erwachsenen zu verbieten. – Heute ist er 11 Jahre alt und der friedlichste Mensch, den ich kenne. Obwohl er immer noch gerne mit Spritzpistolen oder Plastikgewehren herumschießt … Widersprüchlich? Vielleicht. Aber die Realität einer Kindheit in einer militarisierten Gesellschaft …

Wir können den Militarismus eben nicht isoliert verstehen und auch nicht isoliert bekämpfen, schon gar nicht pädagogisch. Das würde sich nur gegen die Kinder statt gegen die Verantwortlichen richten. Wir können die militärische Durchdringung der Gesellschaft, die Existenz stehender Heere, die Rüstungsindustrie als ökonomisches Rückgrat sowie militärische Drohung oder tatsächlichen Waffeneinsatz als Mittel der Politik nicht wirkungsvoll bekämpfen, solange Menschen den Militarismus als Kultur bejahen, von ihm vielleicht fasziniert sind oder ihn als Schutz und damit selbstverständlichen Lebensbestandteil betrachten. Dieser alltägliche Militarismus umfasst „alle Denk- und Wertsysteme sowie alle Gefühlskomplexe, die militärische Institutionen und Formen höher stellen als zivile Lebensformen, und dabei auch eine militärische Mentalität sowie Handlungs- und Entscheidungsweisen in die zivile Sphäre tragen” (Vagts, zitiert nach: Thomas/Virchow 2006, 30).

Dieser Militarismus ist kein Überbleibsel früherer Epochen und uralter Kriegerkulturen, auch wenn er manchmal deren Versatzstücke einsetzt. Er ist vielmehr ein Produkt der kapitalistischen Moderne. Seine Entstehung hängt eng zusammen mit dem Wandel des Krieges und des Militärs am Ende des 18. Jahrhunderts, mit der Etablierung der Volksarmeen nach der Französischen Revolution. Die allgemeine Wehrpflicht, in den letzten 200 Jahren schrittweise in ganz Europa implementiert (in Österreich z.B. erstmals 1868), bedeutet eben nicht nur Demokratisierung der Armee, sondern zugleich Militarisierung der Gesellschaft und hat entscheidend zur Militarisierung der (bürgerlichen) Männlichkeit beigetragen. Faschismus und Nationalsozialismus haben diese Militarisierung auf die Spitze getrieben, doch auch nach 1945 wurde mit diesem System nicht grundsätzlich gebrochen. Gegen den Willen eines guten Teils der Bevölkerung wurde die Wehrpflicht wieder eingeführt. In den letzten Jahrzehnten haben der technische Wandel der Armeen ebenso wie die gesellschaftliche Entwicklung in Europa eine Trendwende hin zu Berufsarmeen bewirkt. Zugleich wird jedoch die deutsche Bundeswehr ganz bewusst zu einer Interventionsarmee entwickelt, und die Forderungen, die EU zu einer Militärmacht auszubauen, werden immer lauter. Kein Wunder, dass die Anstrengungen der Bundeswehr zur Rekrutierung der Jugend via Bildungswesen und Medien massiv zunehmen.

Wandlung und Konstanz des Militarismus
Wir erleben also einen Gestaltwandel des Militarismus, keineswegs aber sein Verschwinden. Der Militarismus hat, so wie der Krieg selbst, verschiedene „psychosoziale Funktionen“, wenn er Wertsysteme mitprägt, innere Konflikte externalisiert, narzisstische Defizite kompensiert oder Iden-titätskrisen bekämpft, heldische Ideale formt und Lebenssinn bietet (vgl. Mentzos 1993, 12). Dabei stechen drei mit einander verknüpfte Dimensionen hervor:

  • Militarismus und Sexismus: der „Krieger“ als Bestandteil des männlichen Habitus, prägend für beide Geschlechter, ist trotz aller Emanzipationsbemühungen nicht verschwunden, wird durch den banalen Militarismus stabilisiert;
  • Militarismus und Nationalismus: der Verteidiger des Vaterlandes, auch in der Variante des über den sozialen Klassen stehenden Helden;
  • Militarismus und Sicherheit: viele Facetten eines demokratischen Militarismus, der sich mit der Grenzsicherung vor der so genannten illegalen Migration, mit dem Schutz vor Umweltgefahren sowie mit humanitärer Intervention in Schurkenstaaten rechtfertigt.

Das österreichische Bundesheer zum Beispiel hat die so genannte Flüchtlingskrise von 2015 dazu genützt, um über schon bestehende „Assistenzeinsätze“ hinaus immer mehr Polizeiaufgaben zu übernehmen und dadurch die Militarisierung der öffentlichen Ordnung zu betreiben. Dabei standen die Argumente Sicherheit und Landesverteidigung im Vordergrund.

Die wichtigste Form, in der der Militarismus auftritt, ist aber der banal militarism – die „Veralltäglichung des Militärischen im Zivilen“ (Thomas/Virchow 2006). Ein militärisch-industriell-medialer Komplex bewirkt eine subtile, aber effiziente Erhöhung des Militarisierungsgrades unserer Gesellschaften. Zu verweisen ist auf die lange Tradition der Kooperation von Filmproduzenten und Regisseuren mit dem Militär, vor allem bei US-amerikanischen Filmen, die weltweite Verbreitung finden. Computerspiele erfordern Beobachtungsgabe und schnelle Reaktion bei der Vernichtung immer neuer Gegner. TV-Filme, Dokus und Shows tragen das ihre zu einem allseitigen Militainment bei. Und das erreicht auch immer jüngere Kinder. Die LEGO-Bausteine zum Beispiel sind nicht nur längst sexualisiert, sondern sie haben mit StarWars oder Ninja-Kämpfern in ihren Baukästen das klassische Kriegsspielzeug neu formuliert. So sind neue Medienverbundsysteme entstanden. Passend zu den Baukästen kommt monatlich das LEGO Star Wars Magazin heraus, mit einer Auflage von fast 150.000 Stück: „Es darf gekämpft werden, neue Welten eröffnen sich und die Zeit vergeht wie im Flug“. (1) Ebenso auflagenstark ist das LEGO Ninjago Magazin, das ein Eintauchen in fremde Welten verspricht und durch fernöstliche Kampftechniken im permanenten Krieg gegen das Böse fasziniert: „Die Kombination aus der LEGO-Spielzeug-Serie und der Action-Animations-Serie ergänzen sich perfekt.“ (2)

Strategien der Friedenspädagogik
Friedenspädagogik muss zweifelsohne dagegen auftreten, dass die Kindheit durch Kommerz und staatliche Maßnahmen militarisiert wird, wie es inzwischen wieder in vielen Ländern Europas üblich ist. Und sie wird weiterhin kritisch die Arbeit der Jugendoffizier*innen in deutschen Schulen beobachten, auch wenn sie diesbezüglich offenbar noch nicht sehr erfolgreich war. (3) Sie wird sich verstärkt gegen die Militarisierung der universitären Forschung wenden.
Doch ihre eigentliche Mission ist die Befähigung der Lernenden, das System der Kultur der Gewalt und des Militarismus zu erkennen, es abzulehnen und zu bekämpfen, um eine andere Welt möglich zu machen. Sie kann dabei wenig ausrichten als anti-militaristische Propaganda, sie muss sich vielmehr auf die vielfältigen Fäden konzentrieren, mit denen die Lernenden kulturell und psychisch dem Militarismus verbunden sind, und dabei von den Bedürfnissen ausgehen, für deren (Ersatz-)Befriedigung das Militärische steht.

Dabei haben sich eine Reihe von Methoden im Laufe der Zeit als unwirksam und kontraproduktiv erwiesen – etwa das als Abschreckung gedachte Vorführen von Kriegsgräueln, die in Zeiten alltäglicher medialer Gewalt entweder als bloß virtuell abgehakt und banalisiert oder einfach ausgeblendet werden; moralischer Druck und Verbote, z.B. von Kriegsspielzeug, die nicht nach den Bedürfnissen der Lernenden fragen; Spott und Ironisierung z.B. von kriegerischen Idealen, die zwar eine gewisse Berechtigung haben, sich aber leicht gegen die Lernenden selbst richten können und daher nur genau dosiert eingesetzt werden sollten u.v.a.m.

Auch Aufklärung ist keine ausreichende pädagogische Strategie. Sicher ist es unabdingbar, die Mechanismen des banal militarism aufzudecken, die Manipulation, der wir z.B. durch triviale Fernsehformate oder eben Kinderspiele ausgesetzt sind, bewusst zu machen. Aber insgesamt geht es eben nicht nur um Wissen, sondern auch um Fühlen, nicht nur um Denken, sondern um Einstellungen und Verhaltensweisen. Es geht also um einen Zugang, der über Bewusstseinsbildung hinaus im Sinne von Stavros Mentzos die psychosozialen Funktionen des Militarismus zu ersetzen versucht. Er wird dem Bedürfnis nach Anerkennung, nach einem männlichen Rollenbild, nach dem „Heldischen“ (einer Form des sozial Nützlichen) ebenso Rechnung tragen wie das Bedürfnis nach Widerstand und Rebellion und das Bedürfnis nach Sicherheit respektieren. Zugleich aber muss behutsam an einer Trennung zwischen dem Männlichen und dem Militärischen bzw. dem Gewalttätigen insgesamt gearbeitet werden. Das ist für beide Geschlechter relevant. Auch die Bewährung der jugendlichen Heldenfigur und ihre Kampfbereitschaft muss vom Militärischen geschieden werden. Die Faszination von Waffen ist schwer zu überwinden, sie kann nur gelingen, wenn andere Faszinosa geboten werden. Hier öffnet sich der Friedenspädagogik ein weites Feld, aber auch die Möglichkeit, tatsächlich an den Fragen und Interessen der Jugendlichen anzusetzen.

Anmerkungen
1 https://www.presseshop.at/LEGO-Star-Wars-Abo?msclkid=52f92d8979ea13dbc04...
2 https://www.presseshop.at/LEGO-Ninjago-Abo
3 Vergleiche den Jahresbericht der Jugendoffiziere der Bundeswehr, Ausgabe 2018, besonders 4-6.

Literatur
Mentzos, Stavros: Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen. Frankfurt: Fischer 1993.
Thomas, Tanja / Virchow, Fabian (Hg.): Banal Militarism. Zur Veralltäglichung des Militärischen im Zivilen. Bielefeld: Transcript 2006.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Werner Wintersteiner, Universität Klagenfurt, ist Herausgeber der friedens-politischen Zeitung alpe adria.