Mit dem Castor-Transport auf dem Weg in einen Polizeistaat

von Elke Steven
Initiativen
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Am 8. Mai 1996 ist ein zweiter Castor-Behälter mit hochradioaktivem Atommüll, diesmal aus der Wiederaufarbeitungsanlage in La Hague kommend, in Gorleben eingelagert worden. Vorausgegangen sind die­ser Einlagerung zuletzt fünf Tage Dauerproteste im Wendland - Kund­gebungen, Demonstrationen, Aktionen Zivilen Ungehorsams. Schon bei der Auftaktkundgebung am Samstag, den 4. Mai 1996, in Dannenberg, an der sich ca. 10.000 Menschen beteiligten, wurde deutlich, daß die Zahl der aktiven Atomkraftgegner im Verhältnis zum letzten Jahr bedeu­tend größer geworden ist. Auch entlang der möglichen Transport­strecke sind die Aktionen in diesem Jahr vielfältiger geworden und ist der Transport zum Teil erheblich beeinträchtigt worden. Keine Frage, die längst totgesagte Bewegung der Atomkraftgegner lebt!

Das Komitee für Grundrechte und De­mokratie hat zum zweiten Mal während der Tage um den Castor-Transport eine Demonstrationsbeobachtung im Wend­land gemacht. Ständig waren 10 Perso­nen vor Ort und haben die Aktionen der Demonstrierenden und das Verhalten der Polizei unter grundrechtlicher Per­spektive beobachtet. Unsere Beobach­tungen werden wir ausführlich doku­mentieren. In einem ersten Resümee läßt sich Folgendes festhalten:

9000 PolizeibeamtInnen waren in einem Landkreis einquartiert, in dem norma­lerweise 100 BeamtInnen Dienst tun - so die Aussage eines Polizeibeamten, der selbst aus dem Wendland kommt und über die vielen "Fremden" entsetzt war. Schon diese Situation führte dazu, daß die Bürger und Bürgerinnen des Wendlandes das Gefühl hatten, in einem Belagerungszustand zu leben. Der stän­dige Lärm von Hubschraubern, die vor allem nachts die Strecke kontrollierten, und der häufige Blaulichteinsatz ver­stärkten den Ärger über die Ruhestö­rung. In diesem Zusammenhang standen auch die Schilder "Besatzer raus", die am letzten Tag des Transportes mehr­mals zu sehen waren.

Im Wendland existiert eine lange Tradi­tion des gewaltfreien Widerstandes und des Protestes gegen die Nutzung von Atomenergie. Die vielfältigen Protest­veranstaltungen, auch Aktionen Zivilen Ungehorsams, haben einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung. Über ei­nige Charakteristika dieses Widerstan­des hat Wolfgang Ehmke im letzten Friedensforum (2/96) berichtet. Auch in diesen Tagen konnten wir beobachten, daß viele bereit sind, als Ausdruck ihres Widerstandes, deutliche Zeichen zu set­zen und symbolische Sachbeschädigun­gen vorzunehmen, wenn durch ihre Ak­tionen keine Menschen gefährdet wer­den. Besetzen von Gleisen, Unterhöhlen und Demontieren von Schienen, die dem Castor-Transport dienen, Abbren­nen von Strohballen und der Bau von Holzbarrikaden auf der Straßentransportstrecke waren Aktionsformen, die in diesem Zusammenhang standen, von Gruppen geplant wurden und keine Menschen gefährdeten. Daneben brachten viele große und kleine Grup­pen ihren Protest immer wieder in ge­nehmigten kreativen und phantasie­vollen Aktionen zum Ausdruck, mit an­gemeldeten Demonstrationen wie "Stricken für das Leben - gegen den Tod", "Baumperformance" der Gorle­ben-Frauen, Sonnenblumenkerne säen vor dem Zwischenlager, "Lichterkundgebung", "Rock-Nacht", "Feuer und Flamme für den Verlade­kran" (Verbrennen eines Nachbaus des Verladekrans auf einer Wiese), Fußball­spielen und Mahnwachen.

Mit Anzeigen in der örtlichen Elbe-Jeet­zel-Zeitung unter dem Slogan "Wir stellen uns quer", bekunden viele Bürge­rInnen, einzeln und in Gruppen, immer wieder ihre Bereitschaft, sich trotz De­monstrationsverbotes entlang der Trans­portstrecke auf die Straße zu setzen, um den Transport zu behindern und den Protest dagegen deutlich werden zu las­sen. Wissend, daß auf diese Weise ein laufender Transport nicht mehr aufge­halten werden kann, geht es darum, zu­künftige Transporte zu verhindern und den Ausstieg aus der Atomenergienut­zung und der weiteren Produktion von Atommüll zu erreichen. Diese Bereit­schaft zu gewaltfreiem Zivilen Unge­horsam stößt auf Seiten der Politik auf völliges Unverständnis und das Fehlen jedweder Fähigkeit, angemessen mit solchem Protest umzugehen. Stattdessen werden diese BürgerInnen kriminalisiert und als "lichtscheues Gesindel" verunglimpft. Erneut wollte der Landkreis Lüchow-Dannenberg mit einer Allgemeinverfügung alle Demonstrationen im Umkreis von 50 m entlang der Transportstrecke und im Umkreis von 500 m um die Entsorgungsanlagen bereits fünf Tage vor dem Transport verbieten. Die namentlich unterzeichneten Bekundun­gen von Bürgern und Bürgerinnen, von Geschäftsleuten und Unternehmen, daß sie sich am Tag des Castortransportes "quer stellen" und ihre Geschäfte schließen würden, wurden darin mit den anonymen nächtlichen Beschädigungen der Bahngleise und Oberleitungen gleichgesetzt.

Von Anfang an verhielt sich die Polizei gemäß der Devise der Innenminister Glogowski und Kanther und "griff hart durch". Nicht Deeskalation war die Strategie der obersten Einsatzleitung, sondern Eskalation. Bürger und Bürge­rinnen wurden als Feinde behandelt, die es zu bekämpfen und aus dem Weg zu räumen galt, nicht als Bürger und Bür­gerinnen, deren Protest durch die Polizei zu schützen ist. Es fehlte jede Bereit­schaft mit den Demonstrationsteilneh­merInnen zu kommunizieren. Während letztes Jahr bei den Protesten gegen den ersten Castor-Transport immer wieder Verhandlungen über die Form der Beendigung einer Aktion zwischen den Teilnehmenden an Sitzblockaden und der Polizei geführt wurden, kam es diesmal bei fast keiner Aktion zu sol­chen Gesprächen und Verhandlungen. Die Polizei verlängerte ihre eigene hier­archische und auf Befehl und Gehorsam aufgebaute Struktur hin zum Umgang mit Bürgern und Bürgerinnen. Es wur­den nur noch Befehle erteilt, bei "Ungehorsam" wurde sofort eingekes­selt, geschlagen oder mit Wasserwerfern reagiert. Dieses autoritär-repressive po­lizeiliche Verfahren wird ihr ebenfalls bereits vom Text der Allgemeinverfü­gung vorgegeben. In dieser wird be­hauptet, daß ein Dialog mit Bürgern und Bürgerinnen, die protestieren und in Anzeigen ankündigen, daß sie sich "querstellen" werden und zu Zivilem Ungehorsam aufrufen, nicht möglich sei.

Gemäß dieser Einschätzung des Pro­testes kam es von Anfang an zu vielen gewalttätigen Übergriffen auf die De­monstrierenden und zu unverhältnismä­ßigen Polizeieinsätzen. "Ingewahrsamnahmen" von Menschen, die nur die Gleise betreten hatten, Ein­satz von Wasserwerfern - häufig ohne Ankündigung - gegen Teilnehmende an Sitzblockaden, Einsatz von CS-Gas und Schlagstöcken waren typische polizeili­che Maßnahmen. In dieser von Gewalt geprägten Situation kam es zusätzlich noch zu Übergriffen einzelner Beamter gegen Demonstrierende. Immer wieder konnten wir beobachten, daß nach schon am Boden liegenden getreten und auf Menschen, die bereits auf der Flucht waren, eingeschlagen wurde. In wenigen Situationen kam es leider auch zu Ge­walt von Seiten der Demonstrierenden. Einige warfen mit Steinen oder Flaschen auf BeamtInnen. Jedoch wurden diese von der Mehrheit der gewaltlos Demon­strierenden gemahnt und zur Zurück­haltung aufgerufen.

Resümierend läßt sich festhalten, daß der Rechtsstaat zunächst einseitig von Politik und Polizei verlassen worden ist: durch eine Allgemeinverfügung, die der rechtlichen Überprüfung durch das Verwaltungsgericht Lüneburg nicht standgehalten hat, durch polizeiliche Maßnahmen, die nicht begründet wur­den oder bei denen explizit darauf ver­wiesen wurde, daß eine rechtliche Klä­rung erst später und lange nach Vollzug der Maßnahme möglich sei, durch die Weigerung vieler Beamter, ihren Namen zu nennen. Zu verantworten ist das poli­zeiliche Vorgehen jedoch vor allem durch die Politik, von der die Polizei auch missbraucht worden ist.

Ein Transport, der von 7 Wasserwer­fern, 9000 PolizeibeamtInnen, mehren Räumfahrzeugen, unter Einsatz von CS-Gas und Polizeihunden gegen die Demonstrationsfreiheit von Bürgerinnen und Bürgern durchgesetzt werden muß, ist demokratisch rechtsstaatlich nicht le­gitim, selbst wenn er formell legal sein sollte. Statt die Auseinandersetzung über die hoch umstrittene Endlagerung von Atommüll gewaltförmig zu betrei­ben, ist es höchste Zeit, daß die zustän­digen Politikerinnen und Politiker zur Politik zurückkehren. Es geht nicht an, formell legale Beschlüsse allen Einwän­den zum Trotz entgegen einer starken Minderheit, wenn nicht Mehrheit einer ganzen Region undemokratisch durch­zusetzen.

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Elke Steven ist Soziologin und Referentin beim Komitee für Grundrechte und Demokratie in Köln.