Türkei

„Mit dem Islamischen Staat arrangieren“?

von Karl Grobe

Mit dem Wahlergebnis vom 1. November kann der türkische Präsident Erdogan fast alles unternehmen, was ihm in den Sinn kommt. Nur zu einem reicht es nicht: zu jener Verfassungsänderung, die dem Staatspräsidenten eine Machtfülle in die Hand gäbe, wie sie der US-Präsident hat.

Das ist der Tenor vieler teils erleichterter, teils auch besorgter Kommentare der internationalen Medien. Diese Verkürzung trifft nicht zu. Anders als Obama, der für die wichtigeren politischen Entscheidungen die Zustimmung mindestens eines der beiden Häuser des Kongresses (Repräsentantenhaus und Senat) braucht, die von einer Republikanische Partei genannten Koalition oppositioneller, gegnerischer und gar feindlicher Gruppen  kontrolliert werden, hat Erdogan es mit einem Parlament zu tun, in dem seine gehorsame Partei – die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, AKP – die absolute Mehrheit hat. Die AKP ist eine Erdogan-Partei auf Lebenszeit des Chefs.

Recep Tayyip Erdogan hat jedoch zwei Ziele verfehlt. Er ist weit von der Zweidrittelmehrheit im Parlament entfernt, selbst für einen Alleingang seiner AKP zu dem Zweck, eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung zu beschließen, reicht die Mandatszahl der AKP nicht ganz. Und es ist ihm nicht gelungen, die neue Partei HDP – die „Kurdenpartei“, real ein Bündnis  kurdischer und türkischer Protest- und Oppositionsbewegungen – unter die Zehnprozentlinie und damit aus dem Parlament zu zwingen. Doch seine Machtposition ist nicht in Gefahr. Seit die letzte Verfassungsreform im September 2010 die Direktwahl des Präsidenten eingeführt hat und Erdogan 2014 unmittelbar vom Amt des Regierungs- in das des Staatsschefs wechselte, ist der Weg in die Autokratie recht frei. Das bedeutet: Es gibt zwar mehrere Oppositionsparteien, die reale Macht wohnt aber in den Räumen des „Weißen Palastes“, des architektonischen Symbols für das Politikverständnis Erdogans. Die FAZ kommentierte dieses Bauwerk seinerzeit so: „Fünf Fußballfelder groß, 280 Millionen Euro – der Präsidentenpalast des Recep Tayyip Erdogan in Ankara ist nicht nur hiermit größenwahnsinnig: Der Bau macht Ernst mit der Rückkehr zum Osmanischen Reich.“ Die Nichtbeachtung höchstrichterlicher Urteile, welche die Baugenehmigung aufhoben, kümmerten den Präsidenten nicht, und seine selbstherrliche Entscheidung, das für den Palast ausersehene Naturschutzgebiet unversehens als Baugelände auszuweisen, symbolisieren ebenfalls die Arroganz der Macht.

Es handelt sich allerdings um mehr als Selbstüberhebung. Erdogan hat einen politischen Prozess eingeleitet, an dessen Ende ein neues – besser: ein renoviertes altes – System in einer veränderten politischen Geographie stehen soll. Ein neo-osmanisches Sultanat mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts.

 

Ziel: Ein neo-osmanisches Sultanat
Die Abkehr vom weltlichen Nationalstaat, den Kemal Atatürk am 29. Oktober 1923 (durch Verfassungsreform) gegründet hat, ist an symbolischen Handlungen mit starker politischer Wirkung abzulesen. Das mit dem säkularen Charakter des Staates, der Trennung von Religion und Staat, begründete Kopftuch-Verbot in Universitäten und anderen öffentlichen Einrichtungen ist auf Druck der AKP und des Präsidenten gefallen; am 6. November nahm erstmals eine Richterin ihr Amt als Kopftuchträgerin wahr. Das Beispiel wird Musliminnen in West- und Mitteleuropa deutlich genug vor Augen geführt werden und sie umso mehr beeinflussen, je weniger sie in die (weltlichen, christlich geprägten) Gesellschaften Europas integriert sind, somit dazu beitragen, gesellschaftliche Spaltungen zu vertiefen.

Die Staatsordnung, die Erdogan anstrebt, nutzt den Islam zur Machterhaltung. Die Religion wird zum Herrschaftsinstrument, wie sie im Osmanischen Reich war; damals allerdings galten unter der Millet-Ordnung Selbstbestimmungsrechte für die meisten anderen Religionsgemeinschaften, die besondere Steuern entrichten mussten. Die Interventionen europäischer Mächte, die sich selbst zu Schutzherren über jeweils bestimmte christliche Gemeinschaften ernannten und unter dieser Bemäntelung Imperiale Interessenpolitik betrieben, hat dieses System nachhaltig zerstört. Wenn Erdogan – wie bei vielen Auslandsreisen deutlich – sich nun als Schutzherrn der türkischen Immigration in anderen Ländern darstellt, wendet sich eine mögliche Destabilisierung nun gegen die Großmächte von einst, vor hundert Jahren. Die türkischen Gemeinden und die Vertreter demokratischer Parteien müssen diese Entwicklung genau beobachten, wenn sie an einem Zusammenleben in stabilen und toleranten Gesellschaften interessiert sind.

Die kurze Phase der Toleranz, und zwar zwischen Türken und Kurden, ist Vergangenheit. Erdogans Regierung hat den Friedensprozess von 2012 selber außer Kraft gesetzt. Sie bekämpft die PKK (Partya Karkeren Kurdistan = Arbeiterpartei Kurdistans) unter dem (in Washington mit verhaltener Begeisterung begrüßten) Vorwand, an der Allianz gegen den Islamischen Staat in Syrien (IS, oder Kalifat, wie er sich selbst nennt) teilzunehmen, lässt aber unterdessen hauptsächlich kurdische Ziele in Ost-Anatolien und Nord-Irak bombardieren. Die Reglosigkeit, mit der türkische bewaffnete Beobachter 2015 den Versuch des IS zur Vernichtung der demokratisch verwalteten Stadt und Region Kobanê unmittelbar jenseits der Staatsgrenze betrachteten, hatte die Kursänderung schon angekündigt. Eine Keimzelle eines kurdischen Staates unter der Federführung der PYD – mittelbar der PKK – und eventuell die Herausbildung einer autonomen kurdischen Zone in Nord-Syrien, entlang der Grenze, zuzulassen: das hätte auf die Kurdenbewegungen in der Türkei zurückgewirkt. „Mit einem Islamischen Staat in seiner Nachbarschaft schien sich Erdogan ja die längste Zeit arrangieren zu können, mit einem kurdischen nicht“, kommentierte die Neue Zürcher Zeitung schon im Juli 2015.

 

Kriegsbeteiligungen und Großmachtbestrebungen
Das Paradox: Die Vertreibung des IS aus Kobanê wurde ein Umstand, der zur Wiederaufnahme des Kurdenkriegs entscheidend beitrug, während die Türkei zusicherte, sich am Kampf gegen den IS zu beteiligen, den gerade die kurdische YPG, der bewaffnete Arm der PYD, aus Kobanê vertrieben hatte. Der Kampf gegen den IS ist der Deckmantel, unter dem der Krieg gegen die Kurden geführt wird.

Der Regierung unter dem Friedens-Nobelpreisträger Barack Obama war und ist die Verfügung über den Stützpunkt Incirlik wichtiger als die Unterstützung entstehender demokratischer Kräfte in den kurdischen Gebieten. Die USA haben sich daher mit der Türkei solidarisiert. Die Solidarisierung schließt die Akzeptierung türkischer Aktionen gegen eben diejenigen Kurden ein, denen die USA Waffen liefern. Unter den Nato-Regierungschefs (die Türkei ist Nato-Staat) hat einzig Bundeskanzlerin Angela Merkel die türkische Regierung ermahnt, „den Friedensprozess mit den Kurden nicht aufzuhalten, sondern trotz aller Schwierigkeiten an ihm festzuhalten”. Allerdings ist die Mahnung relativ kraftlos, denn die Türkei „erpresst die EU ganz augenscheinlich mit den Flüchtlingen. Angela Merkel war als Bittstellerin nach Ankara gereist und bot Erdogan eine Milliarde Euro an, wenn er die Flüchtlinge in der Türkei halte. Doch sie musste mit leeren Händen abreisen“, urteilten die Deutsch-Türkischen Nachrichten nach Merkels Ankara-Besuch im November. Wenn diese Beweisführung zutrifft, dann ergänzt sie haargenau die Vermutungen darüber, wie sich der Auftritt der kopftuchtragenden Richterin auswirken kann.

Kurdistan und der Bürgerkrieg in Syrien sind aus Erdogans Sicht Teil einer umfassenderen Strategie, die eben die Veränderung der politischen Geographie zum Ziel hat. Zu Beginn des „arabischen Frühlings“ 2011 präsentierte sich Erdogan als Repräsentant einer islamisch-demokratischen Neuordnung des Nahen Ostens. Großmachtinteresse wurde deutlich. Zugleich eine Umorientierung: Das Interesse, zur Führungsmacht in der Region zu werden und auch auf diese Weise an osmanische Traditionen anzuknüpfen, begann die Europa-Orientierung abzulösen. Gegen die pan-türkischen Ambitionen in der Nachfolge Enver Paschas, die türkische Sprachen sprechenden Nachfolgestaaten der Sowjetunion an sich zu binden, haben deren herrschende Oligarchen sich erfolgreich gewehrt.

In der nahöstlichen Nachbarschaft aber zerfallen Staaten: Irak hat die Invasionen der USA als Staat nicht überlebt. Syrien ist Bürgerkriegsgebiet. Ägypten scheint derzeit nicht konsensfähig. Saudi-Arabien ist solange ein Machtfaktor, wie die Öleinnahmen es erlauben; der andauernde Tiefstand des Rohölpreises schwächt es, gefährdet es aber noch nicht, und seine direkte und indirekte Unterstützung des IS zielt auf das Gegenteil von regionaler Stabilität ab. Russland hingegen, über Syrien in der Region involviert, gerät durch das Preistief für seine wichtigsten Exportartikel Öl und Gas in wirtschaftliche Nöte. Bleibt als aufstrebende dynamische Macht eben die Türkei.

 

Aushebelung der Demokratie
Diesen Staat zu einem autoritär geführten Gemeinwesen zu machen, ist nun Erdogans offensichtliches Ziel. das Ziel, sich durch Verfassungsänderung absolute Vollmacht zu verschaffen, ist unter legalen Voraussetzungen derzeit unerreichbar. Mit einer Reihe gewöhnlicher Gesetze ist die Richtung angezeigt:

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Mit dem Internetgesetz wird die dem Amt des Premierministers unterstehende Telekommunikationsbehörde zur Löschung von Internetinhalten und Sperrung des Internetzugangs innerhalb von vier Stunden ermächtigt.

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Mit dem neuen HSYK-Gesetz (HSYK – Oberster Rat der Richter und Staatsanwälte) werden wesentliche Belange von Richtern und Staatsanwälten wie Ernennungen, Entlassungen, Versetzungen und disziplinarische Untersuchungen an den Justizminister delegiert. Die Judikative wird damit faktisch der Exekutive unterstellt.

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Mit dem MIT-Gesetzentwurf wird die Strafverfolgung gegen Mitarbeiter des türkischen Nachrichtendienstes (MIT) von der Zustimmung des Regierungschefs abhängig gemacht. 

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Internet-Sperren, also Zensur, wurden 2013 nach den Demonstrationen um den Gezi-Park, nach dem Attentat von Suruc und bei anderen Gelegenheiten ausgesprochen. Zensur traf Filmfestivals und Zeitungen, Themen wie Geldwäsche und die weit verbreitete Korruption, parlamentarische Untersuchungen und – beinahe selbstverständlich – den Kurdenkrieg. Zensurmaßnahmen trafen besonders die Bewegung des Predigers Fethulla Gülen, der bis 2011 mit Erdogan verbündet, mittlerweile aber intim verfeindet ist. Trotzdem unterstützen laut Deutsch Türkische Nachrichten 34,3 Prozent der Türken Erdogan. Keiner seiner möglichen Gegenspieler kommt über zwölf Prozent, und ein knappes Drittel hat gar keine Meinung.

Die politische Situation interessiert offenbar außer den Kurden nur eine städtische intellektuelle Mittelschicht; das rapide Wirtschaftswachstum und die Steigerung des Wohlstands bewirken Zufriedenheit mit dem Bestehenden oder Gleichgültigkeit. Die Zivilgesellschaft ist nur von Fall zu Fall aktiv genug, um wenigstens auf sich aufmerksam zu machen. Es ist, mit anderen Worten, keine bedeutendere Kraft erkennbar, die in der gespaltenen türkischen Gesellschaft den Weg in den autoritären Staat sperren und damit Friedensgarantien schaffen könnte.

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Journalist und Historiker, war Außenpolitik-Redakteur der Frankfurter Rundschau.