Medien verzerren Realität

"Mit den Flüchtlingen wurden politische Spielchen getrieben"

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DIE WELT: Ist die Situation in den mazedonischen Flüchtlingslagern von den deutschen Medien adäquat abgebildet worden?

Richard Munz: Ganz sicher nicht. Der weitaus größte Teil der Medienvertreter, mit denen ich gesprochen habe, hat hier eine Story gesucht oder nach Belegen für eine Story, die er vorher schon hatte. Die Wirklichkeit ist kaum wahrgenommen worden.

DIE WELT: Was fehlt?

Munz: Die Wirklichkeit ist ein geordnetes Flüchtlingslager mit einer eigentlich fast schon maximalen Versorgung für die Leute. Die Journalisten aber haben sehr heftig nach Epidemien, nach Misshandlungen gesucht. Sie haben versucht, ihre eigenen Vorgaben, ihre Vorurteile zu bestätigen oder zu belegen.

DIE WELT: Was genau?

Munz: Zum Beispiel war für mich sehr überraschend, dass eine große Anzahl von Journalisten nicht wahrnehmen wollte oder konnte, dass in unseren Flüchtlingslagern die Männer im wehrfähigen Alter die Mehrheit der Flüchtlinge stellte. Es war ja immer so dargestellt worden, als würde es Männer im Lager gar nicht geben. Selbst wenn man die Journalisten darauf hingewiesen hat, dann weigerten sie sich, das wahrzunehmen.

DIE WELT: Gibt es noch andere Beispiele?

Munz: Freilich. Es gab die fast konstante Frage, was wir mit den vergewaltigten Frauen machen, ob wir Abtreibungen vornehmen oder ähnliches. Unsere Antwort war einfach: Wir hatten in der ganzen Zeit, die wir hier sind, keinen solchen Fall einer vergewaltigten Frau. Und wir sind insgesamt für 60 000 Flüchtlinge zuständig, für Stenkovac I und II, sowie noch zwei weitere kleine Lager. Auch wir hatten uns zuvor wegen der kursierenden Gerüchte über Vergewaltigungen überlegt, wie wir damit umgehen wollen, aber der Fall ist real nicht eingetreten. Wir haben keine gesehen, was natürlich nicht heißen muss, dass es keine gab.

DIE WELT: Wollten die Medienvertreter nur den edlen, leidenden Flüchtling sehen?

Munz: Ich glaube, dass der Flüchtling an sich für die Journalisten überhaupt nicht wichtig gewesen ist. Die Einseitigkeit diente wohl nur dazu, die deutsche Beteiligung als Nato-Staat irgendwie zu rechtfertigen und zu untermauern. Den Leuten im Kosovo ging es unzweifelhaft schlecht, sie haben tatsächlich alles verloren. Dennoch glaube ich, dass die Darstellung oftmals das objektive Maß weitverlassen hat.

DIE WELT: Während der Bombardierungen hat in Deutschland vor allem Verteidigungsminister Scharping sehr emotional Menschenrechtsverletzungen im Kosovo angeprangert. Sehen Sie da einen Zusammenhang zum Verhalten der Medien?

Munz: Durchaus. Bevor ich hier ankam, habe ich diese Äußerungen ja auch wahrgenommen. Ich bin auch mit ganz bestimmten Vorstellungen hier angekommen. Diese Vorstellungen habe ich dann aber korrigiert durch das, was ich in den Lagern gesehen habe. Ich glaube einfach, dass die Medien das nicht mehr korrigieren konnten oder wollten. Sie haben den objektiven Blick verloren und sich zu einem Teil dieses Konflikts machen lassen.

DIE WELT: Wenn Sie Ihre eigenen Erfahrungen zugrunde legen und jetzt von Meldungen über Massaker im Kosovo hören oder lesen, wie wirkt das auf Sie?

Munz: Ich glaube sicher, dass es Massaker gegeben hat. Ich bezweifle aber, ob man sich einen Gefallen tut, wenn man ganze Dimensionen verschiebt. Man verglich diese Massaker auf eine Weise, die so nicht angemessen ist. Zum Beispiel mit Auschwitz. Das wird man in der Zukunft wohl korrigieren müssen. Mit den Flüchtlingen wurden meiner Ansicht nach politische Spielchen getrieben. Im Grunde hat man damit diese Menschen und ihre realen Leiden ein Stück weit entwertet.

Aus "Die Welt" vom 17.6.99

Interview von Edith Kohn mit dem deutschen Arzt Richard Munz, der als Chirurg im mazedonischen Lager Stenkovac I arbeitete. R. Munz ist an der Uni Bochum Lehrbeauftragter für Internationale Humanitäre Hilfe
 

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