Deutsch-tschechischer Pout‘ von Tezin/ Theresienstadt

Mit den Füßen Brücken bauen

von Heide Schütz
Schwerpunkt
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Der ökumenische Prozeß hat viele Facetten, die deutsch-tschechische Annäherung auch. Hier kamen sie zusammen, tschechische und deutsche Teilnehmerinnen und Teilnehmer, evangelisch und katholisch, Deutschland Ost und Deutschland West, Vertriebene und Nicht-Vertriebene, Jung und Alt – von einem Jahr (unser Baby Myriam) bis Mitte sechzig, aber mit deutlichem Schwerpunkt bei der Jugend. Einige Deutsche und fast alle Beteiligten von tschechischer Seite konnten beide Sprachen sprechen und manchmal tat es auch ein bißchen Englisch. Eine Studentin aus Pisek, die in Prag Geschichte und Deutsch studiert, war unsere offizielle Dolmetscherin.

Pout‘ heißt Pilgerweg, und Fußstapfen in Farbe haben wir hinterlassen an allen Orten unseres Aufenthalts. Diese Orte waren Orte, die zum Nachdenken und engagierten Handeln aufrufen, eher etwas zur Trauer als zur Freude, aber wurde doch viel gelacht und auch gesungen und auf der kleinen Brücke, dem heute völlig unsichtbaren Grenzübergang bei Nova Ves/ Deutschneudorf zischte sogar der Sekt. Offen und fröhlich die Gruppe, so warmherzig die Menschen, die uns aufnahmen, so interessant die Gespräche. Zu schön, dabei zu sein, wenn tschechische und deutsche Expertinnen und Experten sich aus Anlaß unserer Anwesenheit zum ersten Mal begegneten und ihre Erfahrungen austauschten, zu stark die Hoffnung, daß dadurch die Zukunft grenzüberschreitend gestaltet, Probleme gemeinsam angegangen werden könnten.

Alles war von langer Hand vorbereitet worden. Es war Pascale Rosenkränzer, eine junge Frau und Mutter, die nicht nur die Idee, sondern die Ausdauer und Beharrlichkeit hatte, aus er Idee ein Konzeption und aus der Konzeption ein Projekt zu machen, unterstützt von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Ökumenischen Zentren in Dresden und Prag sowie in den jeweiligen Stationen unserer Reise.

Beginn der Pilgerfahrt und erste Station: Theresienstadt
Begegnungen und Kennenlernen der Gruppe im Ghetto-Museum und gemeinsame Erarbeitung von Aspekten und möglichen Zugängen zu dem, was uns an Problemen erwartet: Geschichte, Menschenrechte, Ökologie etc. Wir schlafen im Park-Hotel. Ich habe nicht geahnt, daß es ein Freundschaftsheim der Nazis war. Schrecklich. Bevor wir erfahren, daß in Theresienstadt ein internationales Jugendbegegnungszentrum aufgebaut werden soll, tauchen wir noch einmal in die Geschichte ein, sehen im Museum Photodokumentationen und die inzwischen berühmt gewordenen Bilder und der später zumeist getöteten Kinder und Jugendlichen, die in der Malschule des Ghetto entstanden, hören die abenteuerlichen Geschichten ihrer Verstecke und wie sie der Nachwelt überliefert werden konnten. Ein jüdischer Überlebender führt uns durch ein Städtchen, das ganz harmlos aussieht, wären da nicht die Schienen, die mitten in der Stadt enden, die christliche und die jüdische Leichenhalle in den Katakomben der ehemaligen österreichischen Festung Theresienstadt, das Denkmal am Fluß, in den die Toten zu Tausenden geworfen wurden. Ein Teil der Gruppe wird von einer ehemaligen Inhaftierten in den Bereich der kleinen Festung geführt, der für die tschechischen Widerstandskämpfer und –kämpfereinnen bestimmt war.

Im Kloster Osek
Irgendwann am Nachmittag machen wir uns auf den heißen und langen Weg zum Bahnhof nach Bohusovice, in umgekehrter Richtung wie die jüdischen Menschen seinerzeit. Wir fahren in die Nähe vom Kloster Osek, unserer zweiten Station. Dort verbringen wir die Nacht und treffen am nächsten Morgen tschechische und deutsche Frauen und Männer, die mit dem Problem der Prostitution entlang der deutsch-tschechischen Grenze befaßt sind: Vertreter der Behörden, Gesundheitsdienste, Streetworkerinnen, Kinderschutzbund. Die Zusammenarbeit ist mühsam, sagen uns die Deutschen. Die Kirche des Klosters Osek, ein prächtiger Barockbau, ist inzwischen renoviert,de Abt sehr eloquen und schön gekleidet, einige Messebesucher außer uns. Wir werden von ihm in deutscher Sprache angesprochen. Das Zisterzienserkloster ist dem Orden zurückgegeben worden, aber der Aufbau ist noch ganz am Anfang. Armut und Liebenswürdigkeit begegnen uns im tschechischen Pater, der uns beim Abschied übersetzen läßt, daß er uns nicht viel anders als die Kirschen im Klostergarten anbieten kann, die der liebe Gott hat wachsen lassen. Ich komme mir vor wie im Film.

Zerstörte Natur
Schließlich Ankunft in Most, der dritten Station. Hier werden wir bewirtet im kleinen Haus der Böhmischen Brüder, der Evangelischen Kirche in Tschechien, und fahren anschließend unter kundiger Führung von Herrn Pakosta, dem Urgestein der tschechischen Umweltbewegung und langjähriger Kämpfer gegen die Zerstörung von Mensch und Natur auf eine traurige „Öko-Safari“ entlang des Braunkohletagebaus und in die benachbarten Waldgebiete. Zeitweilig horrende Spitzenwerte der Emissionen bei den angeschlossenen Industriezweigen (Verstromung, Chemie) genügen, in 24 Stunden die in Jahren gewachsenen Bäume, z.T. schon die zweite Generation, absterben zu lassen. Man kennt die Photos, aber vor den toten Bäumen zu stehen, ist ungleich schockierender. Da ist Gewalt geschehen, grausame Vernichtung: getötete Natur. Das Abbaugebiet ein riesiges Loch, Neusiedlungen, die alte Kirche wurde versetzt.

Später schlafen wir in unseren Schlafsäcken in einem halb zerfallenen und nun halbrenovierten ehemaligen Schloß und essen im Garten unser Mitgebrachtes (Dank sei dem betagten „Schwarten Panther“, unserem Begleitfahrzeug in Prag!). Wir sind nicht allein. Einige Räume des Schlosses dienen just an diesen Tagen einer Ausstellungs- und Verkaufsoffensive von recht teuren Produkten. Irgendwie markaber.

Deutschendorf und Neuhausen
Am nächsten Morgen Aufbruch zur Wanderung über den Kamm des Erzgebirges nach Deutschland hinüber zur vierten Station in Deutschendorf und Neuhausen. Wieder toter Wald, aber auch grüne Wiesen, Blumen. Viele Gespräche. Was ist die Vorgeschichte des Pilgerwegs? Warum gehst Du mit? Warum haben die Tschechen die Deutschen vertrieben? Was hat es bedeutet, vertrieben zu sein? Was hat Dein Großvater unter den Deutschen erlebt? Was denken die Dresdner über die Westdeutschen? Habt Ihr nicht Lust, in Westdeutschland zu studieren? Warum nicht? Viele Fragen, offene Antworten, Prozesse des Verstehens.

Nach steilem Abstieg erreichen wir die Brücke am Grenzflüßchen, das eher ein Bach ist, wo wir schon erwartet werden. Nun sind wir in Deutschland. Im Gemeindesaal des Pfarrhauses von Deutschneudorf erfahren wir bei Kaffee und Kuchen von den anwesenden Bürgermeistern aus Nova Ves und Deutsch-Katharinendorf, welche revolutionären Pläne bestehen, die nicht sehr zahlreichen Schulkinder von beiden Seiten der Grenze in einer gemeinsamen Schule zu unterrichten. Anträge sind gestellt, Behörden eingeschaltet. Noch bleibt es Vision. Und die Leute? In der Gemeinde ist „Feuer“, sagt uns ein am Gespräch Beteiligter hinterher. Es gibt Menschen im Dorf, die auf ihre ehemaligen Höfe im Tschechischen blicken können, und die Kontakte, die zwischen einzelnen Familien beiderseits der Grenze inzwischen entstanden sind, werden von anderen mit Haß und Strategien des Unfriedens verfolgt. Machen wir uns nichts vor: einfach ist sie nicht, die deutsch-tschechische Versöhnung.

Noch einmal Umweltzerstörung, diesmal auf deutscher Seite. Die Betroffenen haben gekämpft. Die kleine evangelische Gemeinde in Neuhausen hat 20 Jahre lang zu DDR-Zeiten „Grüne Wochenenden“ durchgeführt (die natürlich auch politisch waren), an denen schließlich Hunderte von Menschen neue Bäume pflanzten. Nach der Wende? Weniger Interesse unten, keine Unterstützung von oben. Informationen und Gespräche bis in die Nacht hinein. Die Hoffnungslosigkeit der Lage wird auch hier bei dem engagierten Umweltexperten wie in Most deutlich. Diesmal warten auf uns Betten im Schullandheim.

In Chemnitz und Kloster Wechselburg
Die nächste Station: Chemnitz. Freundlicher Gastgeber ist der Verein „Arbeitsgruppe In- und Ausländer e.V.“. Die Räume sind die ehemaligen Gemeinschaftsräume der Bewohner eines der großen Plattenhäuser.

In der offiziellen Diskussionsrunde geht es um Asylpolitik in Deutschland und in der Tschechischen Republik. Verantwortliche sind aus Prag angereist, die Stadt Chemnitz und das Land Sachsen sind auch vertreten, sowie mehrere Vereinsmitglieder aus Chemnitz. Im Ländervergleich stellt sich die Problematik (noch) sehr unterschiedlich dar, doch der entstandene Kontakt wird sehr begrüßt. Uns zu Ehren gibt es am Abend ein Fest mit Musik, Tanz und gemeinsamem Essen, ersteres sehr exotisch, letzteres sehr deutsch. Diesmal teilt sich die Gruppe. Die Älteren schlagen in der Fachhochschule, die Jugend im Gemeindesaal auf der Isomatte.

Die fünfte und letzte Station vor Leipzig: das Kloster Wechselburg, ein Benedikterkloster, 450 Jahre ohne Klosterleben, aber nun gibt es seit 1993 sogar schon Gruppenunterkünfte für Jugendfreizeiten. Das für die Gegend wichtige Krankenhaus bleibt erhalten, wird sogar erweitert, die Mönchsgemeinde ist so klein, daß wir alle im Chor der herrlichen Kirche zur Abendvesper Platz nehmen dürfen. Würde es das in Deutschland West auch geben?

Am nächsten Morgen sitzen wir auf der grünen Wiese unter einer riesigen uralten Vermouth-Kiefer und versuchen, uns über unsere vielfältigen Eindrücke Rechenschaft zu geben. Mit dabei sind die Leiterin des Ökumenischen Informationszentrums Dresden, Frau Dr. Randi Weber und Herr Dr. Jiri Silny, der Leiter der Ekumenicka Akademie Praha, die sich hier zum ersten Mal begegnen. Abschiedwehmut mischt sich ein, denn nur ein kleiner Trupp wird nach Heuersdorf zur Eröffnung des Kirchentages mitfahren, wo ebenfalls eine Gemeinde am Rande der Braunkohlegruben um das Überleben kämpft, und später auf dem Osteuropa-Forum im Gewandhaus in Leipzig Erfahrungen mitteilen. Kann man Erfahrungen weitergeben? Wohl kaum, aber motivieren weiterzumachen, neue und ähnliche oder ganz andere Wege zu gehen: ZUSAMMEN Wege zu gehen.

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