"Ihr Lehrer habt mir alles vermasselt"

Mit Gütekraft erfolgreich gegen Nazis in Norwegen

von Martin Arnold
Hintergrund
Hintergrund

"Norwegen wurde im April 1940 von den Deutschen besetzt. Die Deutschen ernannten den pro-deutschen Norweger Vidkun Quisling zum neuen Regierungschef. Druck und Gewalttätigkeit der Deutschen verstärkten den Wunsch nach Widerstand. Als die Deutschen versuchten, die Sportvereine unter ihre Kontrolle zu bringen, stellten Hunderttausende junger Leute in den jeweils betroffenen Vereinen alle organisierten Aktivitäten schlagartig ein. Als die Deutschen die Gesetze nach NS-Grundsätzen umformen wollten, traten sämtliche Mitglieder des Obersten Gerichtshofes zurück. Eine Untergrundzeitung wurde in den fünf Jahren der deutschen Besatzung aufrechterhalten. Im Februar 1942 machte Quisling den Versuch, einen korporativen Staat nach dem Muster Mussolinis zu gründen.

Er begann bei der Lehrerschaft. Nach Aufhebung der ehemaligen Lehrerorganisation wurde eine neue mit dem Chef der Quislingschen Geheimpolizei an der Spitze gegründet. Eine geheime, illegale Lehrerorganisation schlug vor, daß sich die Lehrer den folgenden vier Punkten widersetzen sollten:

1. jedem Zwang der Regierung, daß sich Lehrer der
   neuen Lehrerorganisation, der Nasjonal Samling,
   anzuschließen hätten,

2. jedem Versuch der Einführung der
   Nasjonal-Samling-Propaganda in den Schulen,

3. jeder Anweisung, die nicht von den Schulbehörden
   gegeben würde,

4. jeder Zusammenarbeit mit der gleichzeitig
   gebildeten Jugendbewegung der Nasjonal Samling.

Am 20. Februar 1942 sandten etwa 9.000 der 12.000 norwegischen Lehrer eine handschriftliche Erklärung an das Unterrichtsministerium mit folgendem Wortlaut: "Ich erkläre, daß ich die Jugend Norwegens nicht nach den Richtlinien der Nasjonal Samling unterrichten kann, da ich dies mit meinem Gewissen nicht vereinbaren kann. Die Mitgliedschaft in dieser Organisation würde mich zwingen, auch andere Handlungen zu begehen, die im Widerspruch zu den Pflichten meines Berufes stehen. Ich sehe mich daher gezwungen zu erklären, daß es mir nicht möglich ist, mich als Mitglied der neuen Lehrerorganisation zu betrachten." Am 24. Februar traten die Bischöfe der Staatskirche von ihren Ämtern zurück, setzten aber die religiöse Betreuung fort, und 150 Universitätsprofessoren protestierten ebenfalls gegen die Jugendbewegung der Nasjonal Samling. Am 25. Februar gab die Regierung Quisling bekannt, daß die Proteste der Lehrer als offizielle Amtsniederlegung angesehen und daß die Lehrer, wenn sie darauf beharrten, entlassen würden; das Unterrichtsministerium schloß unter dem Vorwand der Kohlenknappheit alle Schulen. Aus allen Teilen des Landes wurde daraufhin Heizmaterial angeboten, um den Schulbetrieb aufrechtzuerhalten. Die offiziellen Zeitungen erwähnten nichts von dem Widerstand der Lehrer, aber die "Kohlenferien" verbreiteten die Nachricht überall. Das Unterrichtsministerium setzte eine Frist bis zum 15. März: Lehrern, die sich danach den Anordnungen der Regierung widersetzen sollten, wurde mit dem Verlust ihrer Anstellung, ihres Gehaltes und ihrer Pension gedroht. Zehntausende, nahezu zehn Prozent aller Eltern Norwegens, protestieren dagegen schriftlich bei der Regierung. Die Lehrer blieben hart. Nicht einer gab nach. Ab dem 20. März wurden Hunderte von Lehrern willkürlich herausgegriffen und verhaftet. Bei den Ostergottesdiensten verurteilten die Geistlichen diese Verhaftungen. Die Lehrer wurden in ein Konzentrationslager nach Grini gebracht. Von einer nicht bekanntgebenen Quelle - nicht von der Regierung - erhielten deren Familien den Gegenwert ihrer Gehälter für die ganze Dauer ihrer Internierung. Im Lager erließ die Regierung ein Ultimatum an die gefangenen Lehrer, aber nur drei lenkten ein. Die 687 Lehrer wurden in Viehwagen in ein anderes Konzentrationslager, etwa 200 Kilometer von Oslo entfernt, gebracht. Auf den Bahnhöfen versammelten sich die Kinder und sangen für sie bei der Durchfahrt des Zuges Lieder. Im neuen Lager wurden sie auf eine tägliche Ration von vier kleinen Scheiben Brot und etwas Wasser gesetzt. Allmorgendlich wurden sie gezwungen, anderthalb Stunden lang im tiefen Schnee zu robben und zu laufen. Dann folgte schwere Arbeit, meist Schnee schaufeln und dann wieder rennen und robben im Schnee. Anschließend erhielten sie heißes Wasser als Mahlzeit. Nach zwei Tagen wurden 76 der älteren Lehrer zwischen 55 und 59 Jahren von den Lagerbeamten befragt, aber keiner gab nach. An den meisten Orten Norwegens ließ die Regierung die Schulen am 8. April wieder öffnen. Die nicht inhaftierten Lehrer, die sich an diesem Tag zum Dienst meldeten, erklärten öffentlich, daß sie der neuen Lehrerorganisation von Quisling nicht angehörten und sprachen auch mit ihren Schülern über ihr Gewissen, vom Geiste der Wahrheit und von der Verantwortung, die sie trügen. Ein starkes Solidaritätsgefühl verband die gesamte Lehrerschaft. Nach Tagen weiterer Einschüchterungsmaßnahmen im Lager fragte die Lagerleitung jeden einzelnen der Lehrer, ob er einen Widerruf des Protestschreibens unterschreiben würde. Von 637 Lehrern widerriefen 32. So wurden Demütigungen, Foltergymnastik und die Hungerrationen fortgesetzt. Auch verbreiteten die Behörden drohende Gerüchte, was mit den Lehrern bei weiterer Weigerung geschehen werde. Dennoch gaben die Frauen der Lehrer zu verstehen, daß sie ein Nachgeben ihrer Ehemänner nicht wünschten. Wie Vieh wurden die Lehrer mit Eisenbahn und Schiff nach Kirkenes nördlich des Polarkreises verfrachtet und der Wehrmacht übergeben, diese zwang sie zu pausenloser Schwerstarbeit im Hafen. Ein Lehrer starb durch die Strapazen, zwei andere verloren bei einem Unfall ein Auge.

Die Deportation der Lehrer nach Kirkenes hatte die Stimmung verhärtet und den Widerstandswillen der übrigen Bevölkerung Norwegens gestärkt. Als Quisling am 22. März mit einer Gruppe von Lehrern in einer kleinen Stadt sprach, erging er sich in Drohungen, Ausfällen und Wutausbrüchen. Er schloß mit den Worten: "Ihr Lehrer habt alles für mich verdorben!", und ließ sie verhaften. Am folgenden Tag begaben sich einige Lehrer, die bei der Unterredung nicht zugegen gewesen waren, zum Amtsgebäude und baten darum, mit den anderen gefangengesetzt zu werden. Ende August wurden 50 erkrankte Lehrer nach Hause gesandt. Am 16. September kehrte eine zweite Gruppe von rund 100 Männern aus dem Lager zurück. Am 4. November folgten die übrigen etwa 400 Lehrer nach acht Monaten härtester Zwangsarbeit. Man gestattete ihnen, ihre Lehrtätigkeit auszuüben, ohne daß sie ihre Grundsätze widerrufen mußten. Über die Formen, die der Widerstand annahm, schrieb später einer der Führer, Diderich Lund, daß der wirtschaftliche Widerstand Norwegens völlig zusammenbrach. Sabotage war nur in geringem Maße wirksam, und die Geheimtätigkeit war ebenfalls nicht so wirksam wie die stolze, gerade Offenheit und das Verbleiben bei der Wahrheit. Diejenigen, die in diesem Sinne Widerstand leisteten, wurden - so Lund - "von einem eigenartigen Glücksgefühl erfüllt, selbst unter harten und schweren Bedingungen [...] (aus) unerschütterliche(r) Überzeugung des Kämpfens für eine gute Sache ..." (gekürzt aus "Die Macht der Gewaltfreiheit" von R. Gregg. [zit. nach: Internationaler Versöhnungsbund, Deutschschweizer Zweig (Hg.): Lichtblick als Souvenir. Erinnerungen an Bedrohungssituationen. Nonviolence Sondernummer Sept. 1994, Nr. 3; S. 22-25])

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