Lebenslaute

Mit Klang und Schall blockiert Lebenslaute Rheinmetall

von Annette Ritter-Berger
Initiativen
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Im August blockierten Musikaktivist*innen des Netzwerks Lebenslaute alle vier Hauptzufahrten der Rheinmetall Landsysteme GmbH im niedersächsischen Unterlüß. Diese Störung des frühmorgendlichen Schichtwechsels ließ Mitarbeiter*innen der Waffenfabrik ihren Arbeitsplatz nicht erreichen und Lieferverkehr nicht passieren. Polizei war vor Ort, hielt sich jedoch zurück. Erst am späten Vormittag beendeten die 100 Musiker*innen ihre Blockade mit einem Aktionskonzert auf dem Werksgelände vor einem Haupttor.

Warum wenden wir uns gegen einen Rüstungsproduzenten? Und warum in Unterlüß? Die Entscheidung ist ein Ergebnis gründlicher Auseinandersetzung und intensiven Quellenstudiums. Wir protestieren gegen Rheinmetall, weil der Konzern Deutschlands größter Waffen- und Rüstungsproduzent ist. Weil er Milliardengeschäfte mit dem Tod macht. Wir agieren in Unterlüß, weil hier die Hauptproduktionsstätte der Militärsparte „Rheinmetall Defence“ liegt. Weil hier der Rüstungsriese Waffen und Munition sowie Komponenten für Panzer produziert. Weil er hier Europas größtes privates Waffentestgelände betreibt. Waffen aber befeuern Kriege, und Waffeneinsatz trägt erheblich zum Klimawandel bei. (Übrigens haben die Regierungen militärische CO2 Emissionen explizit aus dem Kyotoprotokoll herausgenommen.) Krieg und zunehmend auch Klimawandel sind Hauptursachen von Flucht.

Die Rheinmetall Landsysteme GmbH in Unterlüß ist in vielfacher Hinsicht ein unmöglicher Ort, den es zu blockieren gilt. Mit widerständiger, aber auch ermutigender Musik: Das Programm unter dem Motto „Mit Klang und Schall – Entwaffnet Rheinmetall!“ bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Bob Dylans anklagendem „Masters of War“ und Händels optimistischer Friedensode.

Corona
Die Aktion wegen Covid 19 aufs nächste Jahr zu verschieben, stand nie zur Debatte. Dass wir uns nicht auf Online-Aktivitäten beschränken, verdanken wir zweien unserer AGs: Vorbereitungs- sowie Aktionsunterstützungsgruppe vollbringen wahre Wunder. U. a. werden fürs Probenwochenende im Juni vier unterschiedliche Standorte gefunden, auf die sich die Teilnehmenden so verteilen, dass beim Musizieren unter Zelten im Freien die Mindestabstände eingehalten werden. Eine Neuentdeckung ist der charmante, großzügig angelegte Berliner Hof in Rade - ideal für die Belange der Gesamtbesetzung. Die Anfahrt nach Unterlüß liegt im Rahmen; so wird das Seminarhaus für die Aktionstage im Sommer angemietet. Bis dahin entsteht unter Federführung einer Musikaktivist*in mit medizinischem Hauptberuf ein differenziertes Hygienekonzept. Über 100 Musiker*innen melden sich an, so viele wie nie.

„Junge“ Aktionstage (12. - 18.08.20)
Die junge Generation ist zahlreich vertreten. Jung und Alt hungern gleichermaßen nach sinnvoller Aktivität in realer Gemeinschaft. Immer wieder wird Lebenslaute gefragt, wie es gelingt, junge Menschen zu begeistern. Zum einen teilt Lebenslaute deren Idealismus und wird an Stellen aktiv, wo auch sie aktiv sind. In Rade dabei sind z.B. einige Bewohner*innen des Dannenröder Walds. Zum anderen ist die Leidenschaft für Musik generationsübergreifend. Viele Jung-Aktivist*innen sind Kinder aus Lebenslaute-Familien in zweiter und dritter Generation. Hin und wieder überwinden musikalische sowie politische Leidenschaft Eltern-Kind-Konflikte. Im Lebenslaute-Buch steht zu lesen, wie Aktivist*innen von heute als Kinder mit großer Selbstverständlichkeit zu Lebenslaute-Aktionen mitgenommen wurden. (Auch in Rade flitzt ein Rudel Zehnjähriger auf dem Hof herum). Die Herausforderung, klassische Musik und politische Aktion zu kombinieren, tut ihr Übriges. Werke gemeinsam einzustudieren, von der Musik berührt zu werden und in Aktion und Aktionskonzert das Publikum zu berühren - all das verbindet die Generationen.

Vorbereitung
Die Tage sind gefüllt mit effizienten Proben, kompetenter Rechtsberatung zu möglichen Folgen zivilen Ungehorsams sowie konzentriertem Aktionstraining: Wie durchbrechen wir eine Polizeikette, schützen unsere Instrumente oder fällen blitzschnell eine Entscheidung? Alles bei extremer Hitze, aber stets im Freien. Ein Informationsabend mit Aktiven aus lokalen Initiativen gehört immer zum Programm. So berichtet ein Mitglied des Bündnisses Friedensaktion Lüneburger Heide - unser Kooperationspartner vor Ort - von tiefsitzender militaristischer Grundeinstellung der ansässigen Bevölkerung. Selbst in der Heide aufgewachsen und aktiv in der Kampagne „Rheinmetall entwaffnen“, hat er fleißig Ankündigungsplakate für das Lebenslaute-Aktionskonzert verteilt. Kurz vor dem Vorkonzert in Unterlüß teilt er mit, dass in seinem Wohnort ein Plakat mit folgendem Spruch überklebt worden ist: „Es kann der Bravste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Deshalb: Willst du in Frieden leben, sei bestmöglich auf einen Krieg vorbereitet. Und dafür brauchen wir Rheinmetall.“ Leider bleibt diese Meinungsäußerung die einzige. Nirgendwo stellen sich unsere Kritiker*innen der persönlichen Diskussion.

Vorkonzert (15. 08.) und Aktion (17. 08.)
Auf ein gelungenes Vorkonzert im Unterlüßer Bürgerpark mit 80 Besucher*innen folgt am übernächsten Morgen die mit Spannung erwartete Aktion. Niemand hat gut geschlafen, aber unsere großartige Aktionsküche „Fläming Kitchen“ hat schon zu 4 Uhr heißen Kaffee bereitgestellt! Um 4.30 Uhr setzt sich eine Fahrzeugkolonne mit 30 PKWs und drei Materialtransportern in Bewegung. Am Ortsausgang steht bereits ein Streifenwagen. Eine Stunde später sind wir vor Ort, um beim Unterlüßer Rüstungsriesen den Schichtwechsel zu stören. Zur Überraschung aller verläuft der Aufbau der Musikgruppen ungestört - nach 20 Minuten sind alle vier Hauptzufahrten zum Werk erfolgreich blockiert: Belegschaft und Lieferant*innen, ob zu Fuß oder in Fahrzeugen, erreichen die Rüstungsfabrik nicht mehr. Gegen 9:00 Uhr fordert die Polizei die Musiker*innen an der Südtorstraße auf, den Platz zu räumen. Lebenslaute singt und spielt unbeirrt weiter. Einsatzkräfte aus der Region werden zusammengezogen, die Blockade am Südtor jedoch nicht aufgelöst. Stattdessen leitet man die Angestellten über einen Waldweg zu einem Nebentor. Große LKWs trauen dem Weg nicht. Spontan wird auch der Waldweg blockiert, geräumt, von mehr Musiker*innen blockiert und von mehr Einsatzkräften geräumt.

Szene 1: Eines unserer Lebenslaute-Kinder möchte nicht, dass seine singenden Eltern ihn vom Weg entfernen. Der Junge will von der Polizei geräumt werden! Mehrere Minuten lang versuchen Polizist*innen, ihn zum freiwilligen Gehen zu bewegen. Schließlich tragen sie ihn weg.
Szene 2: Wie räumt man Musiker*innen, die ihre Instrumente spielen? Schnell wird klar: So ein Instrument kann teuer sein; oft ist es das in der Tat. Zwanzigtausend Euro Marktwert sind keine Seltenheit. Vielleicht auch aus Respekt vor der Kunst agieren die Polizist*innen vorsichtig, obwohl der Einsatzleiter brüllt.
Gegen 10 Uhr ist der Weg wieder frei und die Musiker*innen gehen langsam die Straße entlang zum Haupttor, wo das Aktionskonzert gespielt werden soll. Eine lange Autoschlange hinter ihnen. Vor diesem Tor wird seit 9:00 Uhr über den Ort des Konzerts verhandelt. Der Einsatzleiter besteht darauf, dass es auf dem nahegelegenen Parkplatz stattfinden solle, wo es angemeldet ist. Lebenslaute findet den vormittags blockierten Ort, direkt vor einer Hauptzufahrt und dem Hauptgebäude, deutlich geeigneter. Dort hängen schließlich schon die großen Banner, und einige Tische, Bänke und Toiletten sind bereits aufgebaut. „Fragen Sie doch den Firmenchef, ob er gerne eine Räumung hätte oder doch lieber das Aktionskonzert vor dem Tor.“ Der Chef überlegt nicht lange. Keine Räumung! Ein weiteres Mal ist die AU (Aktionsunterstützung) gefragt. Innerhalb einer Stunde werden Bühne und Tontechnik aufgebaut und Zuschauerbänke aufgestellt.
 
Aktionskonzert (17. 08.)
Nach Beendigung der Blockade erklingt um 11 Uhr unser Abschlusskonzert. Diesmal berührt vor allem „Darthulas Grabgesang“ (Brahms) das Publikum. Wir widmen das Werk den 900 jüdischen Frauen, die während des NS-Regimes im Außenlager Tannenberg des KZ Bergen-Belsen inhaftiert waren. Die Zwangsarbeiterinnen stellten für die damalige Rheinmetall-Borsig AG Rüstungsgüter her. Viele von ihnen wurden misshandelt und getötet. Einigen unserer Musiker*innen ist es ein Anliegen, am Nachmittag die örtliche Gedenkstätte zu besuchen.  Nach vitalem Kontrapunkt – gespielt wird einer von Kagels „Zehn Märschen, um den Sieg zu verfehlen“ – spenden 100 Zuhörer*innen begeisterten Beifall und fordern gemeinsam mit uns Rüstungskonversion: Rheinmetall Entwaffnen!

Sand im Getriebe
Der Pressesprecher von Rheinmetall teilt der lokalen Presse mit, unser Protest habe die Produktion zu keinem Zeitpunkt eingeschränkt. – Mag sein. Auf Sparflamme lief der Betrieb. Doch wir haben Sand in ein tödliches Getriebe gestreut. An einem unmöglichen Ort, mit widerständiger, lebenslauter Musik. Und das Streuen wurde über die Grenzen Niedersachsens hinaus wahrgenommen.

Zur Lebenslaute ist kürzlich ein Buch erschienen: „Widerständige Musik an unmöglichen Orten – 33 Jahre Lebenslaute“, 2020, Verlag Graswurzelrevolution. Rund 30 Autor*innen schildern lebendig und jeweils auf andere Weise die Konzertaktionen von Lebenslaute auf Truppenübungsplätzen, vor Atomanlagen, in Kohlegruben, Abschiebeeinrichtungen und anderen Unrechtsorten. In einer Artikelserie werden die Konzertblockaden reflektiert. Die zahlreichen Originaldokumente aus 33 Jahren machen das Buch zu einem Zeitdokument. (Anm. der Redaktion: vgl. Buchbesprechung in FriedensForum 4/2020, S. 19)

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Annette Ritter-Berger, Jahrgang 1951, ist Pädagogin im Ruhestand, Amateurbratschistin. Journalistische Tätigkeit in Themenfeldern der ehemaligen Berufstätigkeit (z. B. Diskriminierung im Kontext HIV/Aids). Bei Lebenslaute ist sie seit 2019 aktiv.