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Martin Sellners „Regime Change von rechts. Eine strategische Skizze“
Mit linken Konzepten für den rechten Regime Change
von
Achtung Fangfrage: Von wem könnte folgendes Zitat sein: „Durch Aktionismus in Form von Demos, Interventionen, stellvertretendem Handeln, Streiks, zivilem Ungehorsam etc. schafft die Bewegung Aufmerksamkeit, schwächt die Autorität und Legitimität der herrschenden Ideologie und gewinnt an Stärke.“? (1). Wenn so gefragt wird und angesichts der Überschrift dieser Besprechung ist die Antwort wohl eindeutig. Doch für sich genommen hätte dieses Zitat auch z.B. von Gene Sharp stammen können.
Ähnliche Zitate finden sich vielfältig in diesem Buch von Martin Sellner. Was auch kein Wunder ist. Hat der Autor doch reichlich Literatur zu sozialen Bewegungen und zu gewaltfreiem Widerstand gelesen. So bezieht er sich immer wieder auf verschiedene Theoretiker*innen, wie z.B. auf Gene Sharp, Erica Chenoweth oder Hannah Arendt, auf die Bürgerrechtsbewegung und die sozialen Bewegungen der vergangenen Jahre insgesamt und zusätzlich auf linke Theoretiker, wie z.B. Antonio Gramsci.
Wer ist dieser Martin Sellner, und was will er, und wie will er es erreichen? Er ist Mitglied der „Identitären Bewegung“ und ist einer der bekanntesten Vordenker der rechtsextremen Bewegung im deutschsprachigen Raum. Was will er? Er will den Regime Change, das heißt einen Wechsel der Regierung und, um genauer zu sein, einen Wechsel hin zu einer rechtsextremen Regierung: „Das Hauptziel lässt sich folgendermaßen auf den Punkt bringen: Wir müssen unsere ethnokulturelle Identität und Substanz bewahren. Dazu brauchen wir eine radikale Wende der Identitäts- und Bevölkerungspolitik, die den Bevölkerungsaustausch aufhält.“ (S. 25) Der für ihn zentrale Begriff ist das mittlerweile breit etablierte Wort der „Remigration“. Historisch aufgeladen wird es von Sellner auch Reconquista (2) genannt. Wie will er das erreichen? Über demokratische Wahlen und die zuvor erreichte gesellschaftliche Diskurshegemonie. „Die Reconquista wendet dabei die strategischen und taktischen Erkenntnisse der nonviolent action und Strategien der Bürgerrechtsbewegung und ‚Farbenrevolutionen‘ an.“ (S. 75)
Dazu entwickelt er ein Modell, wie die verschiedenen Akteure und Ansätze der radikalen Rechten ineinanderwirken. Doch zunächst grenzt er sich von der „alten Rechten“ vehement ab. „Tatsächlich geht es ihr (der „alten Rechten“, U.W.) auch und vor allem um die Rehabilitierung und Restaurierung der historischen NS. Diese Haltung unterscheidet sie vom Neurechten und Identitären." (S. 56) Also nichts mehr mit der ganzen Hitlerei und dem nationalsozialistischen Vergangenheitsklamauk? Soweit zumindest im Buch.
Strategisches Denken
Wichtigen Akteuren eines Regime Change widmet er je ein Kapitel: der Partei, der Bewegung, der Gegenöffentlichkeit, der Gegenkultur und der Theorie bzw. den Theoretikern.
Den verschiedenen Akteursgruppen werden jeweils spezifische Rollen innerhalb der rechten Bewegung zugewiesen und inhaltlich strategisch mit ihren Stärken und Schwächen aufeinander abgestimmt. Alle haben ihre Aufgaben, alle ihre spezifische Funktion. Dabei ist die Rolle der Strategie zentral: „Ohne rechte Strategie wird es keine Wende geben.“ (S. 11) Martin Sellner formuliert so etwas wie eine „Theory of Change“, eine Theorie, wie die rechte Wende funktionieren kann. Dabei benutzt er eine Vielzahl von Begriffen und Konzepten, die wir auch aus der linken Debatte kennen, bisweilen mit leichten sprachlichen Verfremdungen. Hier eine Liste (kursiv die Begriffe von Sellner): „Overtonfenster“ bei Sellner, „Diskursverschiebung“ bei der Linken, „Repressive Toleranz“ in der Linken (Herbert Marcuse), „Sanfter Totalitarismus“ bei Sellner, außerdem Bewegung (soziale Bewegung), Narrativ, Repression, Gegenöffentlichkeit, alternative Öffentlichkeit, Gegenkultur, Subkulturen, Alternative, Gewaltfreiheit, Ziviler Ungehorsam, Hegemonie (Antonio Gramsci), People Power, Säulen der Macht, Veränderungs- und Themenkampagnen und schließlich das Konzept von Regime Change / Social Change, wie es maßgeblich war für die Farbenrevolutionen (3) Anfang der Nuller-Jahre. Dabei wird immer wieder die übergeordnete Rolle der Theorie hervorgehoben und die vergleichsweise untergeordnete Rolle der Partei. Eine rechte Partei an der Regierung, ohne Hegemonie in der Bevölkerung, sei machtlos. Ohne ihn zu nennen, kreist sein Denken um einen Kurt Tucholsky zugeschriebenen Satz: „Sie dachten, sie seien an der Macht, dabei waren sie nur an der Regierung.“ Dieses Bonmot, bezogen auf die deutsche Sozialdemokratie nach einer gewonnenen Wahl, ist eine implizite Warnung von Sellner an all jene, die glauben, gewonnene Wahlen seien der Königsweg zum rechten Regime Change. Diskursverschiebung, also die Etablierung rechter Begriffe, Schlagworte, Gedanken und Bilder in den Köpfen der Massen sind für ihn viel entscheidender bzw. der Garant dafür, dass gewonnene Wahlen auch wirklich gewonnene Macht bedeuten. Die Reden von Alice Weidel, aber auch von Bernd Höcke, scheinen mir von diesen Konzepten inspiriert zu sein.
Ein spannendes Kapitel, für mich als Campaigner, widmet er der Kampagnentheorie. Kampagnen bezeichnet er tatsächlich als die „Königsdisziplin“ seiner Politikkonzeption (vgl. S. 232ff). „Die Kampagne selbst besteht aus einer Vielzahl von Aktionen und Aktivitäten, die sie thematisch zusammenfasst. Im Unterschied zur Aktion, (…) will die Kampagne selbst das Thema setzen. Bei Einzelaktionen sind die Wiederholung und Prägung von Begriffen auf Banner, Begleittexten und Flugblättern meist eher ein Nebeneffekt. Primär dienen sie vor allem der Rekrutierung, Ressourcen- Gewinnung und Popularisierung der eigenen Bewegung. (…) Sie folgt einer narrativen Struktur und soll vom Auftakt bis zum Abschluss eine spannende Geschichte bilden. (…) Die Kampagne setzt sich selbst klare messbare und überprüfbare Ziele (zum Beispiel die Reaktion eines bestimmten Politikers, eine Veränderung von Umfragewerten zu bestimmten Themen, das Auslösen einer nationalen Debatte beim Thema, die Enttabuisierung eines Begriffs, die Erlassung beziehungsweise Verhinderung eines Gesetzes, die Verhinderung der Eröffnung einer Moschee / eines Asylheims etc.).“ Auch dieser Passus wirkt (natürlich bis auf die letzten beiden Beispiele) wie abgeschrieben aus dem Handbuch der Kampagnenarbeit von links.
Was also lernen wir aus dem Buch von Sellner über die rechten Bewegungen?
- Die Rechten wollen an die Macht und sie wollen den Regime Change.
- Ihr alles überragendes Hauptziel ist, zumindest nach Sellner, die „Remigration“.
- Dafür streben sie nach diskursiver gesellschaftlicher Hegemonie.
- Die Wege dorthin sollen über diskursive Kämpfe und Themen- und Veränderungskampagnen erreicht werden.
- Ihre Ziele wollen sie innerhalb der Demokratie anstreben und dann innerhalb einer illiberalen Demokratie umsetzen.
- Erfahrungen linker Bewegungen und die Konzepte und Werkzeuge gewaltfreier Bewegungen werden ohne Zögern genutzt.
- Ohne umfassende Theorie of Change, so Sellner, kein Regime Change.
Tatsächlich ist mir aktuell keine Theorie aus der linken Bewegung bekannt, die auch nur annähernd so durchdachte und pragmatisch umsetzbare Handlungskonzepte für einen Regime Change von links formuliert. Zwar sind fast alle Versatzstücke von Sellners Konzept von links übernommen. Dort werden sie aber häufig nur isoliert diskutiert, z.B. das Konzept vom Zivilen Ungehorsam oder der disruptiven Aktionen in der Klimabewegung oder die Rolle einzelner Parteien. Eine integrative Theoriearbeit wäre von Nöten, aufbauend auf den vielfältigen und komplexen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte aus dem Globalen Süden und dem Globalen Norden und im Anschluss z.B. an die Arbeiten von Erica Chenoweth u.v.a. Zudem bräuchte es bei Antworten auf Probleme, wie Klima-Katastrophe oder Aufrüstung, mehr als einen Regierungswechsel. Hier bräuchte es einen System Change, eine große gesellschaftlich-ökonomische Transformation. Also ein sehr viel weitergehendes Konzept als nur ein Regime Change.
Wobei wir uns bei allem strategischen Denken und Planen immer einem zentralen Unterschied zwischen rechts und links gewiss sein müssen. Menschenrechte sind meiner Auffassung nach konstitutiv für eine linke Politik, die dieses Label verdient. Wo diese missachtet werden, ist keine linke Politik. Hingegen ist der Bruch mit den allgemeingültigen Menschenrechten in der rechten Theorie und Praxis konstitutiv für rechtsextreme und faschistische Politik, für eine Politik, wie sie Martin Sellner vorschwebt.
Anmerkungen
- (1) Martin Sellner. Regime Change von rechts. Eine strategische Skizze. Erste Auflage, Juni 2023; Zitat S. 62.
- Martin Sellner bezieht sich auf das Buch „Von der Diktatur zur Demokratie“ von Gene Sharp, dem „Clausewitz des Widerstandes“, mit seiner Rolle für den „gewaltfreien, politischen Aktivismus“ (S. 13).
- (2) Reconquista (Rückeroberung) ist die spanische und portugiesische Bezeichnung für das Entstehen und die Ausdehnung des Herrschaftsbereichs der christlichen Reiche der Iberischen Halbinsel unter Zurückdrängung und Wiedereroberung des muslimischen Machtbereichs (al-Andalus) im Mittelalter.
- (3) Farbenrevolutionen ist eine Bezeichnung für unbewaffnete, meist friedliche, jedoch nicht immer gewaltfreie Transformationen seit den frühen 2000er-Jahren, die nach einer identifikationsbildenden Farbe oder nach einer allgemein als positiv bewerteten Pflanze (wie bspw. Tulpe, Zeder) benannt werden. (Vgl. Farbrevolutionen – Wikipedia).