Menschenrechte in Georgien

Nach dem August-Krieg:

von Ucha Nanuashvili

Am 27. Januar 2006 stellte das georgische Zentrum für Menschenrechte seinen jährlichen Bericht über Menschenrechte mit dem Titel: “Nächster Halt – Weißrussland?” vor. Der Bericht konzentrierte sich auf Menschenrechtsverletzungen in Georgien und beleuchtete die Tendenzen, die sich in Georgien nach der ‘Rosen-Revolution’ von 2003 entwickelt haben. Das Zentrum folgerte, dass es immer noch viele Menschenrechtsverletzungen gebe und dass eine Eskalation von Übergriffen, verstärkt von einem Syndrom der Straffreiheit, entstanden sei, die das Land weiter in Richtung Instabilität und potentieller Katastrophe bringe. Unglücklicherweise wurden die Vorhersagen dieses Berichts früher Realität als erwartet. Demokratische Fortschritte verloren an Schwung und die Situation begann sich im gesamten Land rasch zu verschlechtern.

Mehrere Wochen nach der Vorstellung des Berichts kamen die Nachricht über den brutalen Mord an einem jungen Mann namens Sandro Girgvliani durch hochrangige Beamte des georgischen Innenministeriums und die offizielle Reaktion auf diesen Mord wie ein Schock. Der offene und grausame Mord wurde zu einem Symbol für ein weiteres beschämendes Merkmal der georgischen Regierung. Er ist ein klassisches Beispiel, wie Behörden in Georgien die Verbrechen hochrangiger Sicherheitsleute ignorieren und unter den Teppich kehren.

Der Konflikt im August 2008 wurde zu einem großen Ausmaß durch das Fehlen von Verantwortlichkeit der georgischen Regierung und durch das Fehlen der Beteiligung der georgischen Gesellschaft in den Entscheidungsprozessen vorbestimmt. In einer demokratischen Gesellschaft ist die öffentliche Teilhabe zuallererst durch faire und transparente Wahlen gesichert – danach kommt alles andere. Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2008 waren aber weit von den Erfordernissen fairer und freier Wahlen entfernt. Das Menschenrechtszentrum hat Verletzungen der Wahl-Standards sowohl in der Zeit vor den Wahlen wie am Wahltag selbst dokumentiert. Diese Verletzungen waren nicht isoliert, sondern trugen einen systematischen Charakter. Zusammengenommen waren die Wahlen kein Ausdruck des freien Willens der georgischen Gesellschaft.

Unglücklicherweise ist die Fortführung antidemokratischer Tendenzen nicht an ihrem Ende, und in verschiedenen Feldern können signifikante Rückschritte festgestellt werden. Schritt für Schritt bekommt Georgien alle Merkmale eines Polizeistaates:

  • Die Polizei hat mehrere ‘spezielle Operationen’ durchgeführt und mindestens sechzig Menschen ohne jede Erklärung eliminiert.
  • Der Bereich der Meinungsfreiheit hat deutlich den größten Rückschritt zu verzeichnen. Willkürliche Festnahmen, Prügel, Angriffe mit Granaten, Verleumdung und Druck gegen Journalisten sind beinahe Alltag geworden. Dutzende von Journalisten wurden zum Opfer von Druck, Gewalt und willkürlicher Festnahme seit der Rosenrevolution. Verschiedenen Medienfirmen wurden geschlossen. Den “Journalisten ohne Grenzen” zufolge ist der Index der Medienfreiheit in Georgien drastisch gefallen und fällt weiter. Die Zentralregierung erweist sich nicht nur als unfähig, die Rechte von Journalisten zu schützen, sondern ist manchmal sogar der Initiator von Druck und Übergriffen.
  • Andere Gebiete zeigen ebenfalls problematische Symptome:
  • Das Justizwesen ist schlicht zum “Anhang” der Regierung geworden. Druck gegen unabhängige Juristen steigt an, und nur wenige wagen, darüber offen zu sprechen, da viele, die dies tun, bestraft werden. Straffreiheit von Sicherheitskräften ist immer noch üblich und niemand versucht ernstlich, sie zu überwinden. Folter und Misshandlung von Festgenommenen bleiben ein ungelöstes Problem. Das Recht auf Versammlungsfreiheit und Demonstration, das von der Verfassung garantiert wird, wird oft verletzt. Friedliche Proteste und Demonstrationen wurden gewaltsam aufgelöst und Demonstranten verhaftet. Das verringert die Möglichkeit und die Motivation der Bevölkerung, ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Politisch motivierte Kidnappings und blutige Sonderoperationen schaffen eine Atmosphäre der Angst in der Gesellschaft.
  • Politische Haft ist real in Georgien – mehr als 50 Häftlinge werden als politische Gefangene angesehen. Die in Paris ansässige International Federation of Human Rights (FIDH) hat solche politischen Gefangenen identifiziert.
  • Tschetschenische Flüchtlinge werden der pro-russischen Politik in diesem Feld geopfert und leiden unter negativen Stereotypen.
  • Die Verletzung von sozio-ökonomischen Rechten, einschließlich der Massenentlassung von Staatsangestellten, hat einen systemischen Charakter angenommen.
  • Zivile Organisationen werden marginalisiert und vernachlässigt und unabhängige NGOs werden ignoriert und leiden unter Druck durch hochrangige Offizielle. Der Nicht-Regierungssektor und das Public Defender’s Office (Ombudsman) wurden Opfer von Übergriffen.
    “Unterdrückung derjenigen, die anderer Meinung sind” ist die Einschätzung der georgischen Zivilgesellschaft zu den Ereignissen der letzten Jahre. Die Unterdrückung richtet sich gegen die Meinungsfreiheit, auf die Inhaftierung politischer Gegner und die Einschränkung freier Medien.

Die Annahme drakonischer Gesetzesveränderungen betreffen weitere Bereiche: Im Strafgesetzbuch werden Menschenrechte eingeschränkt, Gesetze zur Begrenzung von Privatbesitz – Enteignungen – wurden geschaffen, die an sowjetische Gesetze erinnern, und Gesetze bezüglich Reservisten militarisieren das Land – “jeder in die Armee” hieß ein Slogan der Regierung. 2007 wurde mehr als 20% des Gesamthaushalts dem Verteidigungsministerium gegeben. Dasselbe passierte 2008 und später.

Internationale Organisationen versuchen inzwischen, die Entwicklungen in Georgien zu beeinflussen, indem sie versuchen, die Prozesse adäquat zu reflektieren und Empfehlungen für Verbesserungen abzugeben. Unglücklicherweise ignoriert die Regierung weiterhin diese Empfehlungen.

“Nächster Halt Weißrussland?”
Wir stellten diese Frage 2005 und es mag damals zu radikal gewesen sein. Viele Leute betrachteten unsere Vorhersage als übertrieben, doch inzwischen machen sie sich eher Gedanken über das Fragezeichen.

Es wäre nicht überraschend, wenn ein Beobachter der Situation in Georgien das Gefühl bekäme, dass zusammengenommen und auf die Praxis bezogen sich seit der Revolution zu wenig in eine positive Richtung entwickelt hat. Problematisch in dieser Beziehung ist das Fehlen realen Wandels in den Regierungsstrukturen und –Arbeitsweisen. In Wirklichkeit besteht noch das alte sowjetische System in Georgien.

Die große Zahl an Menschenrechtsverletzungen und die nicht adäquate Reaktion auf solche Verletzungen durch die Regierung gibt uns das Recht, uns wegen der alarmierenden Situation in Georgien an die internationale Gemeinschaft zu wenden und die Regierung aufzurufen, die Prinzipien, die sie selbst erklärt hat, auch einzuhalten. Wir wollen mit unserer Darstellung Diskussion und Analyse ermutigen, um damit den Weg für eine gerechte und offene Gesellschaft zu öffnen.

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Rubrik

Krisen und Kriege
Ucha Nanuashvili ist Leiter des Zentrums für Menschenrechte in Georgien (http://www.humanrights.ge).