Das Problem sind nicht nur die Rechtsextremen

Nach der Europawahl

von Christine Schweitzer
Hintergrund
Hintergrund

Wenn in den Wochen nach der Europawahl über die Ergebnisse berichtet wurde, dann interessierte vor allem das Eine: Wie haben die rechtspopulistischen Parteien abgeschnitten, wie formieren sie sich im neuen Parlament? Wie verändert sich dadurch die Politik der EU? Die Inhalte dieser Politik fallen dabei oft hinten runter, wobei es gerade aus antimilitaristisch-pazifistischer Sicht hier viel zu kritisieren gäbe.

Aber zuerst kurz zur Erinnerung: Das Ergebnis der Europawahl (1) vom Mai war, dass europaweit die bürgerliche Europäische Volkspartei aus im Wesentlichen christdemokratischen Parteien mit 189 Abgeordneten (von insgesamt 720) aus 26 Ländern in das neue Parlament einzog und damit die bei weitem größte Fraktion stellt. Auf Platz zwei kamen die Sozialdemokraten (S&D) mit 136 Sitzen. Auf Platz 3 wird es im neuen Parlament mit 84 Abgeordneten eine neue Fraktion geben: das Bündnis „Patrioten für Europa“, dem u.a. die österreichische FPÖ, die ungarische Fidesz, das französische „Rassemblement Nationale“ und die Lega Nord aus Italien angehören. Die AfD war nicht erwünscht, und war vor den Wahlen ja schon auf Betreiben von Le Pen aus der früheren Fraktion „Identität und Demokratie“ ausgeschlossen worden. Sie tat sich mit einigen Splitterparteien aus insgesamt acht Ländern zusammen, darunter der französischen „Reconquête“, der bulgarischen „Wiedergeburt“ und der polnischen „Konfederacja“ - alles Parteien, die noch weit rechtsextremer als die der „Patrioten für Europa“ sind. Zu den Zielen dieser Parteien zählen die Abschaffung der Europäischen Union, die Vertreibung aller Muslime, die Wiedereinführung der Todesstrafe und das Verbot von Homosexualität. (2) Die Fraktion erreicht mit (voraussichtlich) 25 Abgeordneten knapp die Mindestzahl an Abgeordneten, die für eine Fraktion erforderlich sind. Das BSW gehört keiner Fraktion an, nachdem seine Bemühungen, eine neue Fraktion aus tendenziell links-populistischen Parteien zu gründen, scheiterten. (3)

Diese Ergebnisse zeigen, dass die Erfolge der AfD in Deutschland kein Indiz für eine speziell deutsche Entwicklung sind, auch wenn einiges vielleicht spezifisch deutsch ist, etwa die Zusammenhänge zwischen AfD und Pegida und deren Ablegern, die Mahnwachenbewegung und diejenigen, die sich aus einer Kritik an den Coronamaßnahmen heraus radikalisierten. Auch die Unterstützung russischer Positionen wird nicht von allen Rechtsextremen in Europa geteilt, trotz der Bemühungen der russischen Regierung, Beziehungen zu diesen Parteien zu pflegen. (4) Einige, wie insbesondere das Rassemblement Nationale und die Partei Fratelli d’Italia von Regierungschefin Meloni (anders als die Lega Nord von Salvini) unterstützen im Kern die europäische Haltung zum Krieg, auch wenn Le Pen sich – anders als Macron – gegen die Stationierung französischer Truppen in der Ukraine und gegen die Lieferung von Waffen, die das russische Kernland erreichen können, aussprach. (5) Ihre Orientierung ist die eines starken, autonomen Frankreichs, wozu für sie auch die Force de Frappe gehört, aber auf keinen Fall deren Europäisierung. (6) Meloni verfolgt – trotz ihrer beiden eher pro-russischen Koalitionspartner - eine ähnliche Linie – Unterstützung der Ukraine ja, Waffen für Krieg in Russland nein. (7)

Militarisierung der EU
In ihrer Bewerbungsrede Mitte Juli betonte die alte und neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dass „Europa der Ukraine so lange zur Seite stehen [wird], wie es nötig ist“. Deshalb müsse mehr “in unsere Sicherheit und Verteidigung investiert“ werden. Sie fuhr fort:
„Wir müssen der Ukraine alles geben, was sie braucht, um Widerstand zu leisten und zu gewinnen. Dies beinhaltet grundlegende Entscheidungen für unsere Zukunft. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten ist unsere Freiheit in Gefahr. Wir sind dafür verantwortlich, alles Notwendige zu tun, um unsere europäischen Bürger zu schützen. Der Schutz Europas ist Europas Pflicht. Deshalb denke ich, dass es an der Zeit ist, eine echte europäische Verteidigungsunion aufzubauen. … [Wir]müssen wir einen einheitlichen Verteidigungsmarkt schaffen. … Und wir müssen gemeinsame europäische Projekte schaffen. Zum Beispiel ein komplettes Luftverteidigungssystem – ‚ ein europäischer Luftschild‘. Nicht nur, um unseren Luftraum zu schützen. Sondern auch als starkes Symbol der europäischen Einheit in Verteidigungsfragen.“ (8)

Damit ist klar, dass der Weg der weiteren Militarisierung der EU – ein Weg, der schon seit 25 Jahren beschritten wird – fortgesetzt wird. Schon der mehrjährige Finanzrahmen bis 2027 (9) sieht noch nie dagewesene Summen für militärische Verteidigung vor. Dazu kamen hohe Beträge von bislang 6,6 Milliarden Euro für die direkte Waffenhilfe an die Ukraine (inklusive von Summen über die Europäische Friedensfazilität). Die Hilfen insgesamt betragen 88 Milliarden Euro lt. offiziellen Zahlen der EU. (10)

Festung Europa
Von der Leyen kündigte auch die Verdreifachung der Truppen für Frontex auf 30.000 Personen an. Damit soll auch der Migrations- und Asylpakt gestärkt werden, der dieses Jahr beschlossen wurde. Er sieht u.a. vor, dass Geflüchtete direkt nach ihrer Ankunft sortiert werden: Migrant*innen aus Staaten mit einer Anerkennungsquote von unter 20 Prozent sollen an der Grenze in Lagern (in Griechenland, Italien, Malta, Spanien, Kroatien und Zypern) bis zu zwölf Wochen festgehalten werden, und dort soll geprüft werden, ob sie direkt zurückgeschickt werden können. Der Pakt sieht vor, Menschen künftig schneller in als sicher deklarierte Herkunfts- oder auch Transitländer abzuschieben, wozu Abkommen mit Drittstaaten geschlossen werden sollen. (11) Den Rechtsextremen in der EU geht das alles noch nicht weit genug, aber diese, menschenrechtlich sehr zweifelhaften, Regelungen des Pakts zeigen schon, dass das Problem nicht nur die Rechtsextremen sind, sondern militaristische und potenziell menschenfeindliche Positionen in der Mitte des politischen Spektrums angekommen sind.

Anmerkungen
1 Alle Zahlen nach: https://www.europawahl-bw.de/sitzverteilung-eu-parlament#c112907
2 Einen Überblick mit weiterführenden Linkts gibt es hier: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/rechte-fraktionen-eu-100.html
3 https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/bsw-im-europaparlament-sahra...
4 Vergl. https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/analyse-wie-rechtsextreme-und-ver...
https://www.fr.de/politik/russland-putin-afd-bystron-krah-europa-wahl-uk...
https://www.spiegel.de/politik/ausland/russland-rechtsextremisten-treffe...
5 https://www.rnd.de/politik/le-pen-keine-franzoesischen-waffen-gegen-ziel...
6 https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/le-pen-will-von-macrons-warn...
7 https://www.euractiv.de/section/europa-kompakt/news/italien-widerspricht...
8 https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/ov/STATEMENT_24_3871
9 https://www.consilium.europa.eu/de/policies/eu-long-term-budget/
10 https://european-union.europa.eu/priorities-and-actions/eu-support-ukrai... https://de.statista.com/infografik/27275/ruestungs-und-waffenhilfezusage...
Zur Militarisierung der EU siehe auch das beim Bund für Soziale Verteidigung erschienene Infoblatt: https://soziale-verteidigung.de/produkt/die-militarisierung-der-europaes...
11 https://www.consilium.europa.eu/de/policies/eu-migration-policy/eu-migra...

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Hintergrund
Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.