Islamischer Staat, Irak und Syrien

Nachdenken über zivile Lösungen

von Bund für Soziale Verteidigung (BSV)

Die neue Bundesregierung trat 2013 mit dem Versprechen an, Waffenexporte in Nicht-NATO-Staaten restriktiver zu handhaben. Bis zur zweiten Augustwoche 2014 galt dies auch noch, doch dann fand innerhalb weniger Tage ein Schwenk um 180 Grad statt: Ausgelöst durch das Flüchtlingsdrama der yezidischen Bevölkerung im Nordirak, die vor der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) in die Berge floh und dort zu verhungern und zu verdursten drohte, beschloss die Regierung Waffenlieferungen an die kurdischen KämpferInnen im Irak.

Die yezidischen Flüchtlinge wurden inzwischen größtenteils aus den Bergen gerettet, wenngleich die betroffenen Menschen als Vertriebene in Flüchtlingslagern im Irak und Nachbarländern ausharren müssen, ohne jegliche Perspektive einer kurzfristigen Rückkehr. Dennoch wird weiter die Gefahr von Genozid beschworen, um Waffenlieferungen zu rechtfertigen. Damit soll nicht das Wüten der IS oder ähnlicher Gruppierungen kleingeredet werden. Dem IS werden eine Vielzahl von schwersten Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Insbesondere die Hinrichtung von Gegnern und Andersgläubigen versucht IS sogar als Werbung für sich selbst zu verwenden. Aber mehr Waffen in eine derartige Situation zu pumpen, wo keinerlei Sicherheit besteht, dass sie nicht in die Hände der Gegenseite fallen oder gegen andere Gegner als diejenigen, die den westlichen Regierungen jetzt vorschweben, gerichtet werden, ist mehr als ein Spiel mit dem Feuer.

Hintergründe
Anfang Juni 2014 schreckte die Nachricht über die militärischen Erfolge einer scheinbar neuen islamischen Kämpfergruppe, dem Islamischen Staat (IS) oder ISIS, wie er anfänglich in den Medien genannt wurde, die Menschen weltweit auf. Ursprünglich vor ca. zehn Jahren im Irak als „Al Kaida im Irak“ entstanden, begann er 2013, erfolgreich in (Nord-)Syrien zu operieren. Von Syrien her marschierte er dann im Juni 2014 in den Irak ein und eroberte binnen weniger Tage große Teile des Nordens des Landes einschließlich der Großstadt Mossul, und machte sich dann auf den Weg Richtung Bagdad. Am 29. Juni rief er ein „Kalifat“ aus, einen islamischen Staat, der sowohl Teile des Iraks wie Syriens umfassen soll.

Die Krise im Irak hat nach Schätzungen der Vereinten Nationen rund 1,2 Millionen Menschen im Irak in die Flucht trieben; am 14. Juni rief die UN den höchsten Notstandsgrad einer humanitären Krise aus, den sie kennt. Rund 200.000 Vertriebene sollen sich in der irakisch-kurdischen Provinz Dohuk aufhalten, 50.000 in das Bürgerkriegsland Syrien geflohen sein. Über die genaue Zahl der Todesopfer auf allen Seiten ist nichts bekannt, sie gehen auf jeden Fall in die Tausende. (1). Und die Menschenrechtsverletzungen und Tötungen werden beileibe nicht nur vom IS verübt, sondern – wie Amnesty berichtet – auch von der irakischen Armee und Milizen. (2)

Der IS bedient, wie ein Kenner der Region, Stephan Rosiny, schreibt, „mit der Übernahme des frühislamischen Konzeptes vom Kalifat ... die Sehnsucht vieler Muslime nach kultureller Authentizität, religiöser Reinheit und politischer Einheit. Diese Versprechen erfüllt er jedoch nicht, da sein brutales Vorgehen selbst viele sunnitische Muslime verschreckt, die zu verteidigen er vorgibt. ... Das Kalifat beinhaltet einen politischen und religiösen Alleinvertretungsanspruch, den weder die bestehenden muslimischen Staaten noch die meisten sunnitischen religiösen Autoritäten akzeptieren werden.“ (3)

Aber es wäre falsch, zu meinen, dass es tatsächlich alleine um eine Glaubensauseinandersetzung zwischen Sunniten und Schiiten ginge. Dies würde den verschiedenen strategischen und ökonomischen Interessen nicht gerecht, die die Unterstützer des IS in den arabischen Staaten, vor allem in Saudi Arabien und Katar, motivieren. Die Zeit, wo die arabischen Staaten scheinbar geeint gegen den Westen standen, ist lange vorbei, und auch die Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) ist sich in Bezug auf Krisen und Kriege über wenig mehr als die Verurteilung der israelischen Angriffe auf Gaza einig. Es geht letztlich darum, wer die Vormacht in der erdölreichen Region des Mittleren Osten hat, und um innenpolitische Sorgen – so hat Saudi-Arabien eine eigene schiitische Minderheit, die ausgerechnet dort lebt, wo sich seine großen Ölfelder befinden.

Für die sog. ‚internationale Gemeinschaft gilt, dass nicht das Wohlergehen der Menschen in der Region, sondern der sichere Zugang zu den Rohstoffen (vor allem Öl) der Region, die Verringerung der Bedrohung durch internationale terroristische Gruppen, und möglichst viele Länder der Region zu den eigenen Verbündeten zählen zu können, die treibenden Kräfte sind. Das gleiche gilt für Russland und China, wobei in der Regel die Verbündeten des Einen die möglichen Gegner des Anderen sind – so zu beobachten im Falle Syriens, wo der Westen die Aufständischen gegen das Regime Assad unterstützt und Russland und China zusammen mit dem Iran das Regime von Assad. Die Konflikte haben damit den deutlichen Charakter eines Stellvertreterkrieges –eine Tendenz, die mit der Verschärfung der Konfrontation zwischen Russland und dem Westen über die Ukraine eher zu- als abnehmen dürfte.

Lösungsansätze
Bei ihrer Reaktion auf die Krise wählt die „internationale Gemeinschaft“ wieder einmal den Weg, der für sie der einfachste ist`. Auch wir haben keine fertigen Lösungen, was man tun könnte. Aber ein paar Fragen und Anregungen, die hoffentlich zumindest eines deutlich machen::

Der IS soll sehr große finanzielle Mittel haben. Trägt er das Geld in Säcken mit sich herum? Vielleicht, vorübergehend. Oder hat er es, auch die in Mossul eroberten Mittel, inzwischen wieder auf Banken deponiert? Falls ja: Wem gehören diese Banken? Gibt es Möglichkeiten, dem IS die finanziellen Ressourcen zu nehmen und ihn damit auf dem internationalen Waffenmarkt zum schlechten Kunden zu machen? Zu dieser Überlegung ist auch der UN-Sicherheitsrat gelangt, der in seiner Resolution Nr. 2170 vom 15. August 2014 Maßnahmen gegen jene androhte, die die IS, die als Zweig von Al Kaida bezeichnet wird, finanzieren.

Eine der IS-Einnahmequellen soll seit Neuerem der Verkauf von Rohöl sein. Wer sind die Käufer? Und trägt dieser ebenfalls sein Geld in Säcken mit sich herum? Und beamt er die Fässer an ihren Bestimmungsort, anstatt sie mit LKWs oder Schiffen zu transportieren – oder nutzt er sogar eine Pipeline?

Der IS erfährt allen Berichten zufolge Unterstützung aus verschiedenen arabischen Ländern, vor allem den Golfstaaten. Auch wenn es nicht die Regierungen sind, sondern Personen oder Familien aus diesen Ländern, die extremistische Gruppierungen fördern – so sollte es hier doch Eingriffsmöglichkeiten geben.

Was ist mit der Arabischen Liga und der Organisation Islamischer Staaten? Diese beiden internationalen Organisationen hätten die Möglichkeit, verschiedene Aspekte der umfangreichen Konflikte in der Region, von denen der IS ja nur der gewalttätigste Ausdruck ist, konstruktiv zu bearbeiten, angefangen von der Frage einer zukünftigen Regierung des Irak über eine Wiedereinbindung des Iran bis hin zu neuen Initiativen der Vermittlung in Syrien.

Der IS rekrutiert aggressiv neue Kämpfer – muss er wohl auch, denn er dürfte in den Kämpfen ja erhebliche Verluste erleiden, auch wenn keine Zahlen bekannt sind. Gibt es hier Ansatzpunkte? Was macht Jugendliche und junge Männer geneigt, sich einer dschihadistischen Organisation anzuschließen? Abenteuerlust, Allmachtsphantasien, finanzielle Not, Angst vor Repression gegenüber den Angehörigen? Die Tatsache, dass der IS anscheinend viele Kinder zwangsrekrutiert oder dies zumindest in Syrien getan hat, deutet darauf hin, dass er es – wie die Lord Resistance Army in Ostafrika und andere Milizen, die in Vergangenheit und Gegenwart auf Kindersoldaten setzen – nötig hat, massives Brainwashing durchzuführen, um seine Kämpfer(Innen) bei der Stange zu halten.

Der Führer des IS, Abu Bakr al-Baghdadi, hat sich zum Kalifen ausgerufen, was in der islamischen Theologie den Anspruch bedeutet, ein Nachfolger Mohammeds zu sein. Diesen Anspruch bestreiten ihm praktisch alle Muslime, die nicht Mitglieder des IS sind. Viele aus dem Umfeld des IS dürften zögern – hier wäre eine weitere Chance, dem IS mittelfristig die Unterstützung zu entziehen, indem gerade Gläubige angesprochen und ermutigt werden, öffentlich zu erklären, dass das, was der IS treibt, mit dem Islam, so wie ihn die meisten Muslime verstehen, nichts zu tun hat. (4)

Es wird auch in dem IS Kämpfer geben, die sich wieder von ihm abwenden und ihn verlassen. Schon jetzt wird von ersten internen Querelen berichtet. Gibt es Wege, solche Desertionen zu unterstützen – sei es finanziell oder durch Zusicherung von Straffreiheit?

Im Irak – wie auch in Syrien – gibt es Gemeinschaften und Organisationen, ja in Syrien mit Rojava eine ganze (kurdische) Region, die sich für eine andere, zivile, auf Ausgleich zwischen den Gemeinschaften und Interessen bezogene Gesellschaft einsetzen. Sie werden im Einzelnen in der Langfassung dieses Artikels benannt. Es sind solche Informationen und solche Gemeinschaften, die als Leuchttürme der Hoffnung zeigen, dass es auch in den Kriegsregionen Wege gibt, sich zivil zu verhalten. Wenngleich der Krieg wohl kaum von heute auf morgen gestoppt werden kann: Solche Initiativen humanitär und politisch zu unterstützen, ist etwas, das wir als PazifistInnen heute tun können.

 

Anmerkungen
1 Laut dem Menschenrechtsbüro der UN Mission Irak (UNAMI) sind m Irak  bis einschließlich Juli dieses Jahres mindestens 5.596 ZivilistInnen ums Leben gekommen und 9.495 verletzt worden. Siehe http://www.ohchr.org/Documents/Countries/IQ/UNAMI_OHCHR_POC%20Report_FIN....

2 Siehe Amnesty International (2014) Northern Iraq. Civilians in the Line of Fire, London.

3 Rosiny, Stephan (2014) „Des Kalifen neue Kleider“: Der Islamische Staat in Irak und Syrien. GIGA Focus Nr 6, 2014, http://www.giga-hamburg.de/de/publikationen/giga-focus, S. 1.

4 Solche Erklärungen gibt es auch bereits, z.B. von der Schura in Hamburg.

 

Bei dem Artikel handelt es sich um eine stark gekürzte Fassung eines Textes („Islamischer Staat, Irak und Syrien – Herangehensweise an die aktuelle Krise“) von Georg Adelmann, Stephan Brües, Ute Finckh-Krämer und Christine Schweitzer. Er kann (mit vollständigen Belegen) von der Website des BSV (www.soziale-verteidigung.de) heruntergeladen werden.

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Rubrik

Krisen und Kriege