Sind wir nur von Feinden umgeben?

NATO-Gipfel - Ein Kommentar

von Christine Schweitzer
Im Blickpunkt
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( c ) Netzwerk Friedenskooperative

„Wir sind von Feinden umgeben“ wäre kein wörtliches Zitat aus dem NATO-Gipfel, der vom 28. bis 30. Juni in Madrid stattfand. Dennoch skizziert der Satz die Weltsicht dieser Allianz und ihres „360-Grad-Ansatzes“. Feinde und Kriegshandlungen werden in allen Himmelsrichtungen, auf der Erde, im und unter dem Wasser, in der Luft, dem Cyberspace und im Weltraum vermutet. Als mögliche Kriegsformen und -orte werden neben dem militärischen Angriff hybride „Kriege“, der Cyberspace und der Weltraum ausgemacht. Jeder „Zentimeter (inch) des Bündnisgebiets“ soll verteidigt werden. Und auch Angriffe im Cyber- oder Weltraum und hybride Angriffe sollen in Zukunft den Bündnisfall nach Art. 5 auslösen können.

In dem neu verabschiedeten strategischen Konzept (1) werden folgende Bedrohungen genannt: An erster Linie Russland. Dann der transnationale Terrorismus, „Fragilität und Instabilität in Afrika und dem Nahen Osten“ und China, das mit unzweifelhaften Worten ebenso als Gefahr wie Russland beschrieben wird. Der Klimawandel findet auch Erwähnung. Zum einen verspricht die NATO, die „Treibhausgasemissionen der politischen und militärischen Strukturen und Einrichtungen der NATO erheblich zu senken …“. (2) Zum anderen erklärt sie im Strategischen Konzept, dass sie „die führende internationale Organisation werden[möchte], wenn es darum geht, die Auswirkungen des Klimawandels auf die Sicherheit zu verstehen und sich an sie anzupassen“.
Die wichtigsten praktischen Beschlüsse:

  • Die Aufstockung der Battlegroups (Kampfgruppen) in Osteuropa zu brigadegroßen Einheiten, d.h. ca. 3000-5000 Soldat*innen. Die in Litauen sollen von Deutschland geführt werden, in Lettland von Kanada und von Großbritannien in Estland. Dabei geht es in erster Linie um gemeinsame Übungen; eine ständige Präsenz in der Größe ist nicht vorgesehen. (3)
  • Aufstockung der Schnellen Eingreiftruppen insgesamt von 40.000 auf 300.000.
  • Die Aufnahme von Finnland und Schweden. Die Zustimmung der Türkei wurde dadurch erkauft, dass diese beiden Länder ihr Rüstungsembargo gegen die Türkei beendet haben. (4) Dass die Türkei gerade einen neuen Angriff auf Nordsyrien vorbereitet, spielte keine Rolle. Weitere Aufnahmen werden nicht ausgeschlossen.
  • Ein Innovationsfonds von einer Milliarde Euro, um die Entwicklung neuer Technologien voranzutreiben. (6)

Dass die NATO sich als „nukleares Bündnis“ versteht, ist sicher keine Überraschung (auch wenn dies erst auf dem NATO-Gipfel 2010 festgeschrieben wurde). Dabei geht es in erster Linie um die Atomwaffen der USA und die nukleare Teilhabe etlicher Länder, so auch Deutschland. Die von der NATO unabhängigen Atomwaffen Frankreichs und Großbritanniens, so heißt es im Strategischen Konzept, würden zur Abschreckung beitragen, „indem sie die Berechnungen potenzieller Gegner erschweren“. Auch wenn ein Einsatz von Atomwaffen als unwahrscheinlich bezeichnet wird („Die Umstände, unter denen die NATO möglicherweise Atomwaffen einsetzen muss, sind äußerst weit weg“), so wird kein Zweifel an der Bereitschaft zu einem Atomwaffeneinsatz gelassen: „Das Bündnis hat die Fähigkeiten und die Entschlossenheit, einem Gegner Kosten aufzuerlegen, die inakzeptabel wären und die Vorteile, die ein Gegner zu erreichen hoffen könnte, bei weitem übersteigen würden.“

Auf der Website der NATO heißt es ergänzend: „Die NATO bekennt sich zu Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung, aber solange es Atomwaffen gibt, wird sie ein nukleares Bündnis bleiben.“ (6) Mit anderen Worten: Die anderen sollen zuerst abrüsten. So denken sicher auch Russland, Indien, Nordkorea, Israel und Pakistan …

Ach ja, beinahe vergessen, „feministische Außenpolitik“ gibt es auch: „Wir werden eine verantwortungsvolle Regierungsführung fördern und den Klimawandel, die menschliche Sicherheit und die Agenda ‚Frauen, Frieden und Sicherheit‘ in all unsere Aufgaben integrieren. Wir werden die Gleichstellung der Geschlechter als Ausdruck unserer Werte weiter vorantreiben.“ Dann müssen wir uns ja keine Sorgen mehr machen, oder doch?

Anmerkungen
1 Herunterladbar hier: https://www.nato.int/nato_static_fl2014/assets/pdf/2022/6/pdf/290622-str... Das letzte strategische Konzept stammt von 2010. Es war deutlich länger (35 Seiten gegenüber den bescheidenen 16 Seiten 2022: https://www.nato.int/nato_static_fl2014/assets/pdf/pdf_publications/2012...
2 https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_196951.htm
3 Battlegroups gibt es schon seit 2015 in den drei baltischen Ländern und Polen. Nach dem Angriff auf die Ukraine sind Bulgarien, Ungarn, Rumänien und die Slowakei dazu gekommen. Siehe https://www.nato.int/cps/en/natohq/topics_136388.htm
4 https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_197342.htm?selectedLoc...
5 https://www.tagesschau.de/ausland/europa/nato-gipfel-analyse-105.html
6 https://www.nato.int/cps/en/natohq/topics_50068.htm

Christine Schweitzer ist Redakteurin des Friedensforums.

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.