NATO: Militärpolitische Leitlinien zur zivil-militärischen Zusammenarbeit (CIMIC)

(red) Nachfolgend dokumentieren wir auszugsweise das NATO-Dokument MC 411/1 vom 18.1.2002, da hier im O-Ton das Grundverständnis zivil-militärischer Zusammenarbeit auch für sog. Nicht-Artikel-5-Operationen (also vom NATO-Vertrag nicht gedeckte Kriege) beschrieben wird.

Abschnitt 1 - Einführung
Allgemeines
1. Im Rahmen einer von der NATO durchgeführten militärischen Operation entfaltet sich ein breites Spektrum von Beziehungen zwischen den Streitkräften der Allianz und den Zivilbehörden, der Bevölkerung, anderen Organisationen und Einrichtungen. Die Art dieser Beziehungen hängt ab von der Art der durchgeführten Aktivitäten, weshalb innerhalb dieses Spektrums unterschiedliche Voraussetzungen gelten. Im Bereich der zivil-militärischen Zusammenarbeit herrscht eine wechselseitige Abhängigkeit: Zunehmend ersuchen zivile Behörden um Hilfe durch militärische Mittel, andererseits ist die zivile Unterstützung für militärische Operationen wichtig.

Ziel
2. Mit diesem Dokument wird angestrebt, Leitlinien für die NATO-Militärpolitik zur CIMIC festzulegen.

Abschnitt 2 - Begrifflichkeit und Geltungsbereich
Zivil-militärische Zusammenarbeit (CIMIC) bei Einsätzen

3. Veränderungen des Umfeldes, in dem die NATO operieren könnte, haben zur Entwicklung eines neuen Strategischen Konzepts (SC 99) geführt. Im SC 99 wird festgestellt, dass die Interaktion zwischen NATO-Streitkräften und dem zivilen Umfeld, in dem sie operieren, für den Einsatzerfolg wesentlich ist. Dies gilt sowohl für die kollektive Verteidigung (Collective defence operations, CDOs) als auch für Nicht-Artikel-5-Operationen zur Krisenbewältigung (Crisis response operations, CROs); allerdings ist dabei die höhere Wahrscheinlichkeit einer CRO gegenüber einer CDO zu unterstreichen. In MC 400/2 wird sogar festgestellt, dass Operationen zur Krisenbewältigung aufgrund ihrer multifunktionalen Natur erfordern, dass alle beteiligten militärischen und zivilen Einrichtungen und Organisationen ohne Einschränkung zusammenarbeiten.

4. CIMIC erleichtert die Zusammenarbeit zwischen einem NATO-Befehlshaber und allen Teilen des zivilen Umfelds innerhalb seines Gemeinsamen Einsatzgebiets (Joint Operations Area, JOA). CIMIC ist: Die der Unterstützung des Auftrags dienende Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen dem NATO-Befehlshaber und den zivilen Akteuren, die Bevölkerung vor Ort ebenso eingeschlossen wie kommunale Behörden und nationale, internationale und Nichtregierungsorganisationen und Einrichtungen.

Weitere Aspekte der zivil-militärischen Beziehungen
5. Zivile Notfallplanung (CEP). Im Allgemeinen dient die CEP (Civil Emergency Planning) dem Schutz und der Hilfe für die Bevölkerung, meist im Katastrophen- oder Kriegsfalle. Im aktuellen Sicherheitsumfeld besteht eine zentrale Funktion der CEP darin, im Hinblick auf die militärische Planung bei Artikel-5- und bei Nicht-Artikel-5-Operationen reaktionsfähig zu bleiben. Dafür ist Sorge zu tragen, indem Vorbereitungen zur Koordinierung ziviler Hilfseinsätze, die für den Einsatzerfolg nach wie vor wesentlich sind, eingeplant werden.

6. Militärhilfe (Military Assistance in Humanitarian Emergencies, MAHE). Im Falle der Katastrophenhilfe und der Hilfe in anderen zivilen Notfällen, die nicht mit NATO-Militäreinsätzen verbunden sind, können nationale militärische Potentiale zur Unterstützung der die Notfallhilfe beaufsichtigenden zivilen Behörden eingesetzt werden. Für diesen Fall sind in MC 343 die NATO-Leitlinien der Militärhilfe bei Internationaler Katastrophenhilfe [Military support for International Disaster Relief Operations] dargestellt; dort wird der Einsatz militärischer und ziviler Kräfte und Mittel in der Katastrophenhilfe [Military and Civil Defense Assets, MCDA] beschrieben. Der Nordatlantikrat (NAC) muss die Nutzung gemeinsamer alliierter militärischer Kräfte und Mittel für solche zivilen Aktivitäten genehmigen.

Im Falle von Artikel-5- oder Nicht-Artikel-5-Operationen kann es sein, dass sich Streitkräfte der Allianz mit ihrem Beitrag zur Krisenbewältigung durch Militäreinsätze auch mit humanitären Notlagen befassen müssen. Während humanitäre Hilfe primär eine Mission für die Host Nation (den »Aufnahmestaat« ) ist und in der Zuständigkeit der UN liegt, kann die Präsenz der die Militäroperationen durchführenden NATO-Streitkräfte dazu führen, dass die Allianz auf zivile Anforderungen rasch reagieren muss. In diesem Falle werden militärische Kräfte und Mittel für begrenzte Aufgaben im Rahmen des Potenzials durch die militärische Befehlskette und gemäß dem vom NAC genehmigten Operationsplan (OPLAN) zur Verfügung gestellt.

7. Unterstützung durch den Aufnahmestaat (Host Nation Support, HNS). Mit der HNS wird angestrebt, den NATO-Befehlshaber und die Entsendestaaten im verfügbaren Rahmen mit Material, Einrichtungen und Diensten zu unterstützen; dazu gehören auch der Schutz von Räumen und administrative Unterstützung gemäß den zwischen Entsendestaaten und/oder NATO und dem Aufnahmestaat getroffenen Vereinbarungen. Als solche erleichtert die HNS den Aufmarsch von Streitkräften in einem Operationsgebiet, indem die Aufnahme, die Sammlung und die Verlegung unterstützt werden. HNS kann ferner den für den Unterhalt und die Verlegung von Truppen erforderlichen Umfang von logistischen Verbänden und Material reduzieren, der sonst von den Entsendestaaten zu gewährleisten ist. Die CIMIC kommt in der Regel dann zum Tragen, wenn es darum geht, die Durchführung der HNS insbesondere im Hinblick auf die Nutzung von HNS-Ressourcen zu erleichtern.
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Abschnitt 3 - Politik
Allgemeines
13. Im Sinne des Bündnisses gründet sich die CIMIC auf die Führung durch den Nordatlantikrat (NAC). Auf dieser Grundlage sind in erster Linie die NATO-Militärbehörden (NMAs) für die Planung und Durchführung von CIMIC-Aktivitäten innerhalb ihres Operationsraumes verantwortlich. Falls erforderlich, stimmen sich die NMAs mit den zuständigen Ausschüssen des Nordatlantikrats ab.

14. Die CIMIC-Doktrin, operative Erfordernisse sowie Verfahren und Standards werden folgendermaßen abgestimmt:

a. Das Hauptziel der Allied Joint Publication AJP-9 - der »NATO Civil-Military Cooperation (CIMIC) Doctrine« - besteht in Richtlinien für die Planung und Durchführung der CIMIC zur Unterstützung von Operationen, an denen NATO-Streitkräfte beteiligt sind. Wenngleich dieses Dokument in erster Linie zur Verwendung durch NATO-Streitkräfte gedacht ist, gilt die Doktrin gleichermaßen für Operationen, die von Koalitionen aus NATO- und Nicht-NATO-Staaten durchgeführt werden.

b. Gegebenenfalls wird die CIMIC in Dokumente über operative Erfordernisse und Einsatzaufträge einbezogen.

c. Es werden auf die Interoperabilität bezogene Standards und Verfahren entwickelt und durchgeführt, um ein CIMIC-Potenzial zu erzielen, das interalliierten und teilstreitkraftübergreifenden Erfordernissen genügt und die Integration nationaler Potenziale ermöglicht.

d. Innerhalb der gesamten integrierten Kommandostruktur der NATO sollten die CIMIC-Stabselemente gestärkt werden.

e. Die NATO-Staaten sollten eigene CIMIC-Potenziale zur Unterstützung der CIMIC-Doktrin, -Erfordernisse und -Verfahren entwickeln, wie durch die Streitkräfteplanung festgelegt.

Abstimmung und Zusammenarbeit
15. Die CIMIC muss ein integraler Bestandteil der gesamten Operation sein, was enger Abstimmung mit anderen militärischen Potenzialen und Maßnahmen bedarf.

16. Um den größten Nutzen aus der CIMIC zu ziehen, ist ein einheitliches Vorgehen notwendig. Die nationalen CIMIC-Aktivitäten und die CIMIC-Aktivitäten der NATO in einem Operationsgebiet sollten eng aufeinander abgestimmt und konfliktfrei gestaltet werden, ohne die Erfordernisse der unteren Führungsebenen zu beeinträchtigen. Am besten sind Kommandoregelungen, die eine koordinierte Führung von CIMIC-Aktivitäten erleichtern.

17. Dem Gesamtziel sind Spannungen zwischen politischen, militärischen, humanitären, ökonomischen und anderen Komponenten der zivil-militärischen Beziehungen abträglich. Um solche potenziell instabilen Situationen zu verhindern und zu entschärfen, ist Transparenz von grundlegender Bedeutung, weil sie Vertrauen schafft und das gegenseitige Verständnis fördert. Deshalb ist die CIMIC-Interaktion mit zivilen Behörden und Organisationen, wann immer möglich, von Transparenz bestimmt.

18. Die CIMIC bietet eines von mehreren wirksamen Instrumenten, die dem Befehlshaber zum Erreichen der Gesamtziele zur Verfügung stehen. Um dieses Potenzial aber weitestgehend auszuschöpfen, ist es wichtig, dass militärische und zivile Organisationen, sofern möglich, gemeinsame und übereinstimmende Ziele festlegen. Diese sind bereits in einem frühen Stadium der Planung zu ermitteln, gemäß politischer Vorgaben, die die militärischen Befehlshaber in die Planung zur Durchführung ihrer Einsätze einbeziehen müssen.

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