Ätsch!

NATO-Tagung in Hamburg - und was daraus wurde...

von Reinhard Kaiser

Vom 13. - 18. 1.. 1988 tagte in Hamburg die "Nordatlantische Versammlung", das 188-köpfige Pseudoparlament der NATO. Politisch belanglos, dient dieses Organ dazu, die Solidarität der Allianz zu befördern und, besonders wichtig, der Öffentlichkeit gegenüber zu demonstrieren. "Die Öffentlichkeit ist unsere ralson d'etre (Daseinsgrund)", so Versammlungspräsident Frinkirig  vor der Presse. Eine größere PR-Aktion war angesagt, mit Auftritten von Gaivin, Kohl, Wörner, Helmut Schmidt. Die Friedensbewegung bereitete seit fast einem Jahr geeignete Gegenaktivitäten vor. Von diesen möchte ich kurz berichten und sie zusammenfassend bewerten.

l. Akt: Gegenkongreß "Abrüstung statt NATO-Aufrüstung" am Wochenende vor der Assembly-Tagung (12./13.11.)
Getragen von Grünen im Bundestag, Krefelder Initiative, Friedenskoordination und Hamburger Forum, zahlreichen lokalen und regionalen Organisationen und Einzelpersonen. Thema: Analyse der NATO-Politik und Gegenstrategien. Besuch: insgesamt etwa 500 Leute, nicht viel, aber in diesem mit Kongressen . vollgepflasterten Herbst auch nicht wenig - etwa gemäß den Erwartungen. Spannende Kontroversen zur Europäisierung (Hintergrund: SPD-Zustimmung zum Zusatzprotokoll des Elysee-Vertrags) und zur NATO-Austrittsforderung. Der Kongreß verabschiedete eine gemeinsame Abschlußerklärung. Einige Kernsätze:

Wir lehnen das Denken in militärischen 'Gleichgewichten 'ab. Wir sehen die Erfordernis einseitiger Abrüstungsschritte. Sie sind für uns Bestandteil und Voraussetzung eines Abrüstungsprozesses und des Schaffens von  Vertrauen. Wir fordern, daß die Abrüstung jetzt sofort und in unserem eigenen Land beginnt:" Und zur NATO Frage:  "Die Politik des Militärpakts NATO zeigt, bei allen inneren Widersprüchen, keinerlei Abrüstungsbereitschaft. Wenn die NATO ihre Mitgliedländer vor die Wahl stellt zwischen 'Bundnissolidatitat und Friedenspolitik, dann ist für uns die Entscheidung klar: Eine NATO-Mitgliedschaft, die Abrüstung be- oder verhindert, lehnen wir ab.
Der Frieden kann nicht mit militärischen, er muß mit politischen Mitteln gesichert werden."

2. Akt; "Zukunft der NATO" NATO-kritische Parlamentarierinnen aus sieben Ländern diskutieren. (Montag, 14.11.)
Auf Einladung von Grünen im Bundestag und GAL setzten Abgeordnete aus Dänemark, den Niederlanden, Belgien, Spanien, Italien, Großbritannien und der BRD einen "parlamentarischen!' Gegenakzent zur "NATO Parlamentariertagung". Bei gutem Besuch ("bestbesuchte Veranstaltung der  OAL Hamburg seit einem Jahr") erbrachte die Diskussion neben vielen interessanten Einzelaspekten zu den einzelnen Ländern zwei bemerkenswerte Ergebnisse: Die Forderung "Einseitig abrüsten - Austritt aus der NATO" wurde  von den ausländischen Gästen mit viel Sympathie aufgenommen. Nachfragen bestätigten, daß die Gefahr eines neuen. Nationalismus, eines deutschen "Sonderwegs" oder dergleichen von "draußen" überhaupt nicht gesehen wird. Diese von einigen Grünen und Sozialdemokraten geführte Kritik geht fehl. Andererseits hatten die Gäste sichtliche Schwierigkeiten, die aktuelle Relevanz der NATO-Frage in der gegenwärtigen Diskussion in der BRD nachzuvollziehen - ihre Probleme seien viel handgreiflicherer Natur.

Zweites Ergebnis: Die Bedeutung der Westeuropäisierung wurde von den Gästen sehr hoch und hochaktuell eingeschätzt. Ein mahnender Zeigefinger, denn das Problem des europäischen Pfeilers scheint in unserer Diskussion immer noch ziemlich am Rande zu stehen. Am Schluß der Veranstaltung stellten die Parlamentarierinnen einen gemeinsamen Änderungsantrag zur Abschlußresolution der Versammlung vor, der die Ziele der Friedensbewegung erstmalig förmlich in dieses NATO-Gremium tragen sollte (s. u.).

3. Akt: 'Wenn Generäle von Abrüstungträumen" (Dienstag, 15. 1. 88)
Die Krefelder Initiative hatte vier der "Generäle für den Frieden" nach Hamburg geholt, um mit ihnen Abrüstungsmöglichkeiten und -perspektiven zu erörtern, Die Tatsache allein, daß die Generäle in Gegenaktion zur NATO-Tagung aufzutreten bereit waren, sorgte bei den NAV-Teilnehmern' für betretene Diskussionen. Einig waren sich die Generäle untereinander und mit der Friedensbewegung in der Analyse, daß die NATO-Politik gegenwärtig nicht auf Begrenzung oder Verringerung, sondern auf Intensivierung der Rüstungsanstrengungen ziele allen Entspannungsbeteuerungen zum Trotz.

4. Akt: Demonstration (17. 11. 88) Während am Morgen Kohl und Wörner sprachen und kritische  Stimmen dazu keine Chance hatten, lief die Vorankündigung der Demonstration am Abend fast immer mit. Die Demonstration "Abrüstung statt NATOAufrüstung", mit einein das gesamte norddeutsche Friedensspektrum umfassenden Trägerinnenkreis, zählte dann etwa 10 000 Teilnehmerinnen. Hier kam es zur einzigen "Panne" der Woche. Die Demonstration war als strikt friedlich. angelegt und entsprechend vorbereitet; der Auftakt und der Umzug durch die Stadt verliefen auch in völliger Entspannung. Auf dem Rathausmarkt nutzte die Polizei das .  Abbrennen von Feuerwerkskörpern während . des ersten . Redebeitrags . (SPD) als Vorwand, um nach diesem Beitrag - der DKP-Redner hatte eben begonnen - über die Absperrung hinweg in die Demonstration hineinzu-  stoßen und drei Leute festzunehmen. Diese Polizeiprovokation führte, wie nicht anders zu erwarten, zu einer raschen Eskalation, die in der polizeilichen Auflösung der Kundgebung gipfelte - dies zu einem Zeitpunkt, als an sich wieder Ruhe eingekehrt war und die Polizei nur wieder hätte hinter ihre Absperrungen zurückgehen müssen. Leider wurde durch diese Auseinandersetzungen der Inhalt der Demonstration, das breite, bis tief in die SPD reichende Bündnis für sofortige Abrüstungsschritte, verschüttet, jedenfalls in den Medien. Das Konzept des Polizeieinsatzes ging also insofern auf. Andererseits blieb der Trägerinnenkreis geschlossen in seiner Verurteilung des Polizeieinsatzes, so daß der Ausklang der Debatte darüber in Hamburg noch nicht entschieden ist.

5. Akt: Abscblußresolution der Versammlung
lm breiten Konsens von Konservativen, Christ - und Sozialdemokraten verabschiedete die Versammlung ihre "Antwort auf Gorbatschows Herausforderung an die NATO". Textproben:. Die Versammlung "betont, daß die Abschreckungs- und Verteidigungsstrategie ... weiterhin auf der Grundlage einer angemessenen Zusammensetzung nuklearer und konventioneller Streitkräfte be-ruhen muß, wobei nur das nukleare Element einen potentiellen Angreifer vor ein nicht akzeptables Risiko stellen kann", spricht der Rüstungskontrolle eine "komplementäre Rolle"  zu und fordert die NATO-Regierung  dringend auf, ... die erforderlichen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Wirksamkeit der nuklearen und konventionellen  NA TO-Streitkräfte zu ergreifen .." usw. usf. Die NATO-kritischen Parlamentarierinnen brachten hierzu 18 Änderungsanträge ein, zu-sammengenommen eine fast vollständig neue Resolution. Diese waren zum Teil grundsätzlicher Art - die Versammlung solle betonen, "daß auf der Basis  gegenseitiger Vernichtungsdrohung eine dauerhafte Friedensordnung in Europa nicht entstehen" kann, und darum "dem Konzept der 'atomaren Abschreckung' eine klare Absage" erteilen, oder "die zentrale Rolle' (anerkennen), die einseitigen Abrüstungsschritten beider Seiten und umfassenden 'Rüstungskontrollverhandlungen auf dem Weg zu einem von Militärblöcken und 'militärischer Bedrohung freien Europa zukommt". Andere Anträge waren viel weniger drastisch, aber in der jetzigen Situation durchaus brisant, wie z. B. die Forderung, "unverzüglich: mit dem Warschauer Vertrag innerhalb eines geeigneten Forums Verhandlungen über  die Begrenzung und den Abbau aller Atomwaffen in und für Europa aufzunehmen ".

Erwartungsgemäß  lehnte die Versammlung alle diese Änderungsanträge ab. Bemerkenswert dabei ist, daß es zwar einzelne Ja-Stimmen aus Italien, Griechenland, Norwegen und den USA gab, die deutschen Delegierten aus CDU, SPD und FDP hingegen gemeinsam alle Anträge ablehnten bzw. mit Nichtbeteiligung straften (einzige Ausnahme: der Antrag zu Punkt 8, der konstatiert, daß das Wettrüsten trotz des veränderten politischen Klimas ungebremst weitergehe, veranlaßte zwei der anwesenden SPD-lerlnnen zur Stimmenthaltung). Auf einhellige Ablehnung durch sämtliche anwesenden CDU/SPD/FDP-Delegierten stießen die Forderung nach einseitigen Abrüstungsschritten und Verringerung der Militärhaushalte ebenso wie die nach Verzicht auf atomare und konventionelle "Modernisierungsprogramme", der Bahr- Vorschlag zur konventionellen Rüstungskontrolle (Abbau auf 50% der jetzigen westlichen Potentiale) ebenso wie die Einbeziehung von Luft- und Seestreitkräften in vertrauensbildende Maßnahmen oder der Gedanke, die Einhaltung der Menschenrechte und die Abschaffung der Folter nicht nur von den östlichen, sondern auch von den NATO-Ländern selbst zu verlangen. Die Nordatlantische Versammlung hat sich also wenigstens in dieser Hinsicht noch einmal bewährt: Innenpolitisch längst gemachte Zugeständnisse an die Friedensbewegung werden im NATO-Rahmen sofort wieder fallengelassen". Sozialisationsrahmen für treue NATOParlamentarierlnnen einerseits, interessant und lehrreich für die Friedensbewegung andererseits.

Die Bewertung zum Abschluß!
Die Friedensbewegung hat der NATO die Show gestohlen. Von Anfang an liefen unsere Gegenaktivitäten in allen Medien parallel zur Hofberichterstattung mit. Das Bild der Harmonie wollte sich nicht einstellen: Wir haben es die ganze Woche über geschafft, politische News zu produzieren, die dieses Bild empfindlich und wirksam störten. In diesem Punkt -Öffentlichkeitswirkung- waren wir m. E. so erfolgreich wie lange nicht mehr.
Die Tagung hat inhaltlich gezeigt, daß die NATO fest und durch Gorbi unerschüttert auf Aufrüstungskurs fährt. Die Entscheidung über, die atomare Modernisierung insbesondere ist, wenn man Kohl und Wörner glauben darf, nur hoch eine Formsache: Die militärische Notwendigkeit sei klar, die explizit gestellte Frage, unter welchen Bedingungen denn ein Verzicht darauf für die NATO denkbar sei (Abrüstung des Ostens o. ä.) beantwortet Wörner mit allgemeinen Ausführungen über die Bedrohlichkeit des Russen. An der politischen Entschlossenheit zur nächsten Aufrüstungsrunde kann kein Zweifel mehr bestehen. An uns liegt es jetzt, ob sie damit durchkommen.

Die Friedensbewegung hat durch die Zusammenarbeit bei der Vorbereitung der' Aktionen in jeder Hinsicht gewonnen. Sowohl atmosphärisch als auch organisatorisch war die Zusammenarbeit gut, überstand sogar den "Krisentest" nach dem Polizeiangriff auf die Demonstration (s. o.) unbeschadet. Inhaltlich sind die Kompromißformulierungen, die wir für die Abschlußerklärung des Gegenkongreß gefunden haben, sicher eine gute Grundlage für die weitere Positionsdiskussion, und die Bereitschaft. zu gemeinsamen Aktionen im nächsten Jahr scheint mir bei denen, die in Hamburg dabei waren, ebenfalls beträchtlich zu sein. Also ein ganz ungewohnt positives Bild!

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