Zur Problematik der Stationierung von weitreichenden Marschflugkörpern in Deutschland

Neue Marschflugkörper und Raketen in Deutschland

von Otmar Steinbicker
Im Blickpunkt
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( c ) Netzwerk Friedenskooperative

Von 2026 an sollen die USA weitreichende Marschflugkörper vom Typ Tomahawk in Deutschland stationieren. Kanzler Scholz lobte die geplante Stationierung und begründete sie mit der Bedrohung aus Russland. Zusätzlich sollen SM-6-Raketen mit einer Reichweite von 370 km und 3,5-facher Überschallgeschwindigkeit zur Abwehr hyperschallschneller Gleitvehikel und Marschflugkörper stationiert werden sowie in der Endstufe auch Hyperschallwaffen, die derzeit noch entwickelt werden.

Dieses massive Aufrüstungsprogramm weckt vor allem im Hinblick auf die Marschflugkörper vom Typ Tomahawk Erinnerungen an die Stationierung von atomaren US-Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik zwischen 1983 und 1987. Damals demonstrierten Hunderttausende Menschen in der Bundesrepublik und Millionen in Europa gegen die Raketenstationierung. Ihr Protest trug dazu bei, dass 1987 die USA und die UdSSR den INF-Vertrag abschlossen, der damals eine ganze Waffengattung – landgestützte atomare Mittelstreckenwaffen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 km - verbot und die bereits stationierten verschrotten ließ.

Als auf dem NATO-Gipfel in Brüssel 1988 die USA und Großbritannien anstelle der Mittelstreckenwaffen atomare Kurzstreckenwaffen, die nicht unter das Verbot des INF-Vertrages fielen, in der Bundesrepublik stationieren wollten, verwehrte sich die damalige Bundesregierung unter Kohl und Genscher massiv dagegen und ließ um Haaresbreite den Gipfel scheitern. Ich erinnere mich noch gut an die Pressekonferenz mit den beiden Politikern in Brüssel, in der Helmut Kohl erklärte, eine solche Stationierung sei nach den jahrelangen Auseinandersetzungen um die Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik politisch nicht durchsetzbar.

Heute geht es bei der geplanten Stationierung erst einmal nicht um Atomwaffen. Die Tomahawk-Marschflugkörper werden derzeit von der britischen und US-Marine nur als konventionelle Waffen bereitgehalten und eingesetzt. Frühere atomar bestückte Varianten wie auch die landgestützten Cruise Missiles aus den 1980er Jahren, aber auch seegestützte, wurden außer Dienst gestellt, bzw. gemäß dem INF-Vertrag verschrottet. Allerdings lässt sich das auch wieder ändern. Grundsätzlich sind die Tomahawk-Marschflugkörper sowohl konventionell als auch atomar bestückbar und auch eine landgestützte Variante könnte womöglich wieder aufgelegt werden.

Die aktuell genutzten seegestützten Tomahawk-Marschflugkörper verfügen über eine Reichweite von über 1.650 km. Die ab 2026 zu stationierenden sollen deutlich mehr als 2.000 Kilometern Reichweite aufweisen. Damit wäre auch die etwa 1.600 Kilometer Luftlinie von Berlin entfernte russische Hauptstadt Moskau erreichbar. Die Tomahawks fliegen in der Regel in einer Geschwindigkeit von rund 880 km/h und in einer Höhe von unter 200 m. Über flachem Terrain kann die Flughöhe zwischen 30 und 90 m liegen. Entsprechend schwierig sind sie für gegnerische Radarsysteme zu erkennen, weil sie mit der Oberfläche der jeweiligen Landschaft verschmelzen können – zum Beispiel mit den Wellen der Ostsee oder mit Wäldern und Hügeln. So können sie tief in gegnerisches Territorium eindringen, Bunker, Radaranlagen, Raketensilos sowie Kommandoposten zerstören mit einer Zielgenauigkeit von 10–15 Metern.

Bei russischen Militärs dürfte die Stationierungsankündigung Nervosität auslösen. Durch die Option für die USA, die Tomahawks auch atomar zu bestücken und damit auch Moskau als Sitz der politischen und militärischen Führung Russlands zu treffen, bekommt das Stationierungsprojekt über den potenziellen europäischen Kriegsschauplatz hinaus eine strategische Ebene für einen denkbaren atomaren Schlagabtausch zwischen den USA und Russland. Sogar eine gewisse eingeschränkte Erstschlagsfähigkeit wäre gegeben, auch wenn die Vorwarnzeit aufgrund der vergleichsweise langen Flugzeit der Tomahawks nicht bei den 4,5 Minuten der Pershing-II-Raketen aus den 1980er Jahren, sondern eher bei zwei Stunden läge. Allerdings schließt die Stationierungsankündigung für die Tomahawks und andere Waffen nicht prinzipiell weitergehende Stationierungen wie die von schnellen Raketen aus.

Da, anders als beim NATO-Raketenbeschluss von 1979, keine Option für Verhandlungen vorgesehen ist, dürfte die russische Regierung mit hoher Wahrscheinlichkeit ihrerseits ebenfalls Maßnahmen eines beschleunigten Rüstungswettlaufs in Erwägung ziehen.
Damit werden auch Atomkriegsszenarien wieder greifbarer mit allen denkbaren Varianten, also auch des Atomkriegs aus Versehen, z.B. durch einen Fehlalarm oder eine Fehlinterpretation gegnerischer militärischer Maßnahmen. Die schnelle Entwicklung der künstlichen Intelligenz, der dann womöglich Anteile an der konkreten Entscheidungsfindung zufallen, wirkt in diesem Zusammenhang als zusätzliche Bedrohung.

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Otmar Steinbicker ist Redakteur des FriedensForums und von aixpaix.de