Neue Prozesse gegen RAF-Mitglieder - bleibt die Versöhnungsinitiative auf der Strecke?

von Hubertus Janssen

Über den Eingängen von vielen Gerichtsgebäuden steht die aus Stein gehauene "Justitia", die römische Göttin der Gerechtigkeit, dargestellt mit verbundenen Augen und in der rechten Hand die bekannte Waage mit den beiden Schalen.·Schon seit Jahrtausenden symbolisiert sie die Gerechtigkeit. Sie will keinen bevorteilen und keinen benachteiligen. Ein Ansehen der Person kennt und berücksichtigt sie nicht. Vor ihr sind alle Menschen gleich. Daher sind auch ihre Augen verbunden. Die Gerechtigkeit, so sagen wir, muß garantieren, daß Verbrechen entsprechend bestraft werden. Sie muß dafür sorgen, daß einen gerechten Ausgleich erhält, wer benachteiligt ist. Daher hält die "Justitia" eine Waage in ihrer rechten Hand. Die Gerechtigkeit, so meinen wir, wägt alle genau gegeneinander ab. Verbrechen und Strafe, Gesetzesübertretungen und Buße, Schaden und Wiedergutmachung müssen miteinander ins Gleichgewicht gebracht werden. Gerechtigkeit ist, so sagen wir, genau abgewogene Vergeltung, so daß die Schwere der Strafe haargenau der Schwere des Vergehens entspricht. Hierzu braucht man also nur eine Waage.

Aufgrund von Kronzeugenaussagen, die nicht nur in Fachkreisen äußerst umstritten und fragwürdig sind, begannen im Mai 1993 neue Verfahren gegen Gefangene aus der RAF. Sie sind teilweise bereits zu lebenslänglichen Strafen verurteilt worden, z.B. Rolf Clemens Wagner, 3 x lebenslänglich, Christian Klar, 6 x lebenslänglich + 15 Jahre, Heidi Schulz, 2 x lebenslänglich, Brigitte Mohnhaupt, 5 x lebenslänglich + l5 Jahre. Irmgard Möller befindet sich seit 21 Jahren in Haft. Sie wurde zu lebenslänglich + 15 Jahren Haft verurteilt.

Jede Verurteilung zu einer weiteren lebenslänglichen Strafe schafft die formale Grundlage eine sogenannte "vorzeitige" Entlassung nach 15 Jahren unmöglich zu machen.

Am 3. Juni 1987 sagte der damalige Generalbundesanwalt Kurt Rebmann als Kommentar zum offenen Brief der Gebrüder von Braunmühl: "Prävention auf Dauer bedeutet hier nur Inhaftierung auf lange Zeit. Sie zu verwirklichen ist Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden." Daran hat sich offensichtlich seitdem nichts geändert. Von einer Politik der Deeskalation sind wir weiter denn je entfernt, um von "Versöhnung" erst gar nicht zu reden. Das Thema "Innere Sicherheit" soll Wahlkampfthema der CDU werden. Dafür stehen Politiker wie Wolfgang Schäuble und der stramme Innenminister Manfred Kanther. Das geplante Kanthersche Sicherheitspaket enthält eine Reihe von äußerst rigiden Maßnahmen, die aber keine Lösungen bedeuten. Er trommelt beharrlich für seine "Innere Sicherheit", Nicht ohne Erfolg übrigens. Die SPD, unter der Führung von Rudolf Scharping, ist schon längst umgekippt und besitzt kaum noch ureigenste sozialdemokratische Züge. Und bei der FDP scheint es keine Frage zu sein, ob sie umfällt, nur eine Frage des Wann! Ihr Ruf als "Hüterin der Grundrechte" ist schon längst verblaßt. Vater Staat macht deutlich, daß er nicht bereit ist mit "Terroristen" zu verhandeln. Was hat eigentlich Schmidtbauer die ganze Zeit getan? Und Helmut Kohl? Bei seinem Chinabesuch wurden die Menschenrechtsverletzungen nicht wirklich thematisiert. Bei seinen "Hausaufgaben"- sind wohl nur die "Lieblingsfächer" drangekommen. Die Suche nach Sicherheit vor der Gewalt des anderen ist verständlich und berechtigt. Deswegen suchen Menschen auch Schutz beim Staat. Es darf aber nicht so sein, daß "sein" Sicherheitsbegriff universal wird. Wenn ich mir unsere heutige Welt anschaue und den Staat, in dem wir leben, dann wird mir klar, daß wir viel mehr "inneren Frieden" als "innere Sicherheit" brauchen. Gandhi sagte einmal: "Es gibt keinen Weg zum Frieden: Per Friede ist der Weg." Ein wenig abgewandelt möchte ich hinzufügen: "Es gibt keinen Weg zur Versöhnung. Die Versöhnung ist der Weg.'' Dazu sagt Dorothee Sölle:

"Der Satz klingt zwar sehr einfach, er stellt aber eine der wichtigsten und selbstverständlichsten Voraussetzungen unseres politischen Denkens in Frage, nämlich die Unterscheidung von Zweck und Mitteln." Wir meinen, immer wenn der Zweck gut ist, so mögen die Mittel unschön, gewalttätig, kostspielig und unvernünftig sein, der hohe Zweck heiligt sie. Zum einen zweifle ich daran, ob alle "die Versöhnung", besser noch "Gerechtigkeit" wollen, zum anderen bin ich der Überzeugung, daß der Zweck das Mittel nicht heiligt. Die Überlegung, einen „Weg zur Versöhnung und Gerechtigkeit" zu finden, der selber unversöhnlich und ungerecht ist, ist kontraproduktiv. Was unsere "Machtzyniker" in der Politik wollen, kann höchstens mit "Sicherheit" angedeutet werden, nicht aber mit Versöhnung, Gerechtigkeit oder innerem Frieden. "Das Mittel der Gewalt, die in Zwang, Erpressung und Kontrolle herrscht, zerstört das Ziel und macht sich selber immer mehr zum alleinigen Ziel. Dabei wird die Sicherheit, die wir vermeintlich eintauschen, wenn wir auf wirklichen Frieden verzichten, zunehmend neurotisiert: das Bedürfnis nach ihr wird unersättlich, man kann nie sicher genug sein." (Sölle) Und weiter formuliert sie: "'Sicherheit' ist 'Hoffnung', bürgerlich reduziert; kleingemachte Sehnsucht; eine Art Selbstbeschränkung, die schon Verstümmelung ist.“ Wenn wir den Wunsch nach Gerechtigkeit und Versöhnung auf ein bürgerliches Bedürfnis, "sicher zu sein", verengen, handeln wir im Grunde genommen nicht mehr politisch, sondern reagieren nur noch, und der schreckliche Kreislauf der Gewalt wird dadurch nicht durchbrochen. Aus dem Kreislauf der Gewalt herauszukommen, geht nur mit einer pazifistischen Grundeinstellung.

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Hubertus Janssen ist Vorstandsmitglied im Komitee für Grundrechte und Demokratie.