5. Friedensratschlag in Kassel

Neue Regierung - neue Politik? - Friedensbewegung formuliert Ansprüche

von Peter Strutynski
Initiativen
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Am 5. und 6. Dezember trafen sich mehr als 250 Friedensaktivisten aus rund 100 Städten und Regionen Deutschlands, aus dem benachbarten Ausland sowie aus Japan in Kassel, um gegenseitig Erfahrungen und Probleme der Friedensarbeit auszutauschen und gemeinsame Verabredungen für lokale, bundesweite und transnationale Aktivitäten zu treffen. Solche "Ratschläge" finden seit 1994 jährlich jeweils am ersten Dezemberwochenende statt und werden veranstaltet vom "Arbeitsausschuss Friedensratschlag", einem bundesweiten offenen Arbeitskreis von zur Zeit rund 70 Personen, dem Kasseler Friedensforum sowie Wissenschaftlern der Universität Gesamthochschule Kassel. Natürlich kann im Folgenden - schon aus Platzgründen - nicht der Versuch gemacht werden, einen umfassenden Bericht über dieses bedeutende friedenspolitische Treffen zu geben. Interessierte Leserinnen und Leser des "FriedensForums" sind hier auf die Dokumentation verwiesen, die im Frühjahr als Buch erscheinen wird (Anfragen bitte an das Kasseler Friedensforum, c/o DGB, Spohrstr. 6, 34117 Kassel). Möglich sind aber doch ein paar Hinweise auf mir interessant erscheinende Begebenheiten und Inhalte - eine sehr subjektive Kongress-Nachlese also.

Keine "Pflichtübung"
Wenn die Veranstalter bisher mit relativ gutem Erfolg die Klippe der friedenspolitischen Pflichtübung umschifft haben, dann liegt das an mindestens zwei Gründen: Erstens handelt es sich bei den Teilnehmer/innen der Ratschläge überwiegend um Aktivisten der Friedensbewegung "vor Ort": In Kassel treffen sich lokale oder regionale Friedensinistiativen, die ihre politische Arbeit unter den erschwerten Bedingungen der 90er Jahre ständig neu diskutieren und organisieren müssen, um sich in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen. Um diesen Teilnehmerkreis gruppieren sich - von Jahr zu Jahr in wachsender Zahl - Vertreter/innen von bundesweiten Friedensorganisationen oder -kampagnen, die ihrerseits das steigende Bedürfnis haben, ihre vorbildliche inhaltliche und konzeptionelle Arbeit den Basisinitiativen zu vermitteln. Auch Lobbyarbeit braucht eben den "Druck der Straße".
 

Zweitens haben sich die "Ratschläge" zu einem Forum entwickelt, auf dem die unmittelbare persönliche Kommunikation zwischen - politischer - Friedensbewegung und - auf Politikberatung zielender - Friedenswissenschaft stattfindet und zu immer neuen Erkenntnissen und Aha-Erlebnissen auf beiden Seiten führt.

Dass bei den Ratschlägen von Routine und Erstarrung keine Rede sein kann, hat aber noch einen anderen Grund. Seit zwei Jahren findet der Ratschlag auch ein Echo im benachbarten Ausland. Dieses Mal war ein Dutzend Vertreter/innen von Friedensorganisationen aus Österreich, Belgien, Frankreich, den Niederlanden und - erstmals - aus Japan nach Kassel gekommen. Der Wunsch nach gegenseitigem Informationsaustausch über die Themen und politischen Schwerpunkte in den einzelnen Ländern ist sehr groß und immer wieder stellt sich heraus, wie wenig man doch voneinander weiß. Hinzu kam diesmal die Absicht, mit den ausländischen Gästen zu konkreten friedenspolitischen Vereinbarungen zu kommen. Mit der Konzentration auf den NATO-Gipfel - hierzu wird es in Brüssel eine europäische Konferenz geben - und der Verabredung eines regionalen französisch-deutschen Ostermarsches in Strasbourg ist das auch gelungen.

Atomwaffen, ein Hauptthema
Die Atomwaffen waren Gegenstand intensiver Diskussionen in verschiedenen Arbeitsgruppen, in denen einerseits detaillierte wissenschaftliche Analysen (z.B. über die Völkerrechtswidrigkeit von Atomwaffen und die NATO-Strategie) angeboten wurden, andererseits an konkreten Beispielen über mögliche Aktionen der Friedensbewegung informiert wurde (z.B. über "Abolition 2000", Erfahrungen der "Gewaltfreien Aktion Atomwaffen abschaffen" und über lokale Initiativen zur Schaffung "atomwaffenfreier Zonen"). Unterstrichen wurde die große Bedeutung des Themas noch durch den Plenarvortrag von Horst-Eberhard Richter. Sein sehnlichster Wunsch ist, dass "die Zahl derer wieder wächst, die sich offensiv engagieren und ihren aktiven Pazifismus nicht dort enden lassen, wo der Segen aus Washington in Frage steht." "International", so Richter weiter, "gibt es zweifellos eine gewaltige Bevölkerungsmehrheit, die die Massenvernichtungswaffen weghaben will und der es davor graut, dass neuerlich sogar gentechnisch an biologischen Waffen gearbeitet wird, die gezielt nur feindliche Ethnien auslöschen sollen. Es gilt also, allmählich wieder oder auf neue Art eine breite internationale Widerstandsbasis aufzubauen, welche die vorhandenen psychologischen Ressourcen bündelt."
 

Ganz generell bin ich der Meinung - und auch dafür stehen die "Ratschläge" -, dass die nationalen, regionalen und lokalen Friedensorganisationen und -initiativen sich künftig noch viel mehr als transnationale Bewegungen verstehen müssen. Trotz unterschiedlicher nationaler Voraussetzungen gibt es - vor allem bei uns in Europa - einen gewaltigen Vorrat an gemeinsamen Problemlagen und Zielen. So konnten wir z.B. aus Belgien hören, wie sehr sich die dortige Bewegung schon seit geraumer Zeit mit dem Kurdistan-Konflikt beschäftigt - ein Thema, von dem nach Öcalans Ankunft in Italien nur zu hoffen ist, dass es auf die europäische Agenda kommt. Ein anderes Beispiel sind unsere Beziehungen zu Österreich. Der Kampf unserer österreichischen Freunde um den Erhalt der "immerwährenden Neutralität" mutet nur auf den ersten Blick etwas exotisch an. Sieht man genauer hin, so zeigt sich, dass ein erfolgreicher Ausgang dieses Kampfes auch unserem Widerstand gegen die Militarisierung der Europäischen Union neue Impulse verleihen würde. Und umgekehrt würde ein Aufschub der WEU-Pläne und der "Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" (GASP) der EU den Verteidigern der österreichischen Neutralität sehr helfen.

Hoffnungen und Befürchtungen
Einen großen Raum auf dem Friedensratschlag nahmen die Debatten um den außenpolitischen Kurs der neuen Bundesregierung ein. Dazu wurden zunächst die einschlägigen Passagen aus der rot-grünen Koalitionsvereinbarung einer gründlichen Kritik unterzogen. Dass sich im Ergebnis einer solchen Prüfung eher Enttäuschung als Zuversicht einstellte, kam nicht überraschend: Hatten sich doch schon im Vorfeld der Bundestagswahl die Positionen von Friedensbewegung auf der einen und SPD/Bündnisgrüne auf der anderen Seite sichtbar auseinander entwickelt. Die unterschiedlichen Haltungen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr à la Kosovo sind da nur ein Beispiel, wenn auch ein besonders wichtiges. Gravierend sind auch die Absprachen der Koalition in bezug auf die Fortsetzung aller von der abgewählten Regierung beschlossenen Rüstungsbeschaffungsprogramme: Es bleibt also vorerst beim "Eurofighter", der "Panzerhaubitze 2000", dem Kampfhubschrauber "Tiger", der Kampfdrohne "Taifun" oder dem gepanzerten Transportfahrzeug GTK - Großwaffensysteme, die nicht nur viel Geld kosten (zusammen mit allen anderen Programmen belaufen sich die Kosten auf ca. 200 Mrd DM), sondern die auch für die Ausrüstung der Krisenreaktionskräfte vorgesehen sind. Mit anderen Worten: Auch unter der neuen Bundesregierung wird die Umrüstung der Bundeswehr zu einer interventionsfähigen, flexibel einsetzbaren Kampftruppe weitergehen. Die Einberufung einer "Wehrstrukturkommission", die bis Herbst 2000 einen Bericht vorlegen soll, ist da nicht einmal ein schwacher Trost: Denn bis dahin werden die entscheidenden Weichen gestellt und die zentralen Aufträge vergeben sein. Die Bundeswehr ist auf dem besten Weg eine strukturelle Angriffsfähigkeit zu erlangen.
 

Der BT-Abgeordnete und Verteidigungspolitiker Winni Nachtweih, der in der Abschlussdiskussion den Ratschlagsteilnehmern Rede und Antwort stand, hatte es demgemäß schwer, die positiven Ansätze und Signale der neuen Regierung "rüber" zu bringen. Es gibt solche Ansätze und die Friedensbewegung tut sicher gut daran sie auch wahrzunehmen. In der Medienberichterstattung kam dieser Aspekt zu kurz - die Presse liebt nun einmal die Zuspitzung! Es darf aber nicht vergessen werden, dass die Friedensbewegung bei aller Kritik an Rot/Grün auch die - vergleichsweise wenigen - positiven, friedensorientierten Ansätze als Angebot und Chance begreifen muss, die neue Regierung auch zu einer neuen Politik zu bewegen. Eine solche Politik könnte ansetzen an dem Versprechen, nicht -militärische Prävention und Konfliktbearbeitung stärker zu betonen, die Friedensforschung zu fördern, die OSZE-Strukturen zu stärken oder für die Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen einzutreten. Ob dies tatsächlich geschieht, wird an uns liegen. Horst-Eberhard Richter drückte es so aus: "Ungeachtet aller noch so vielversprechenden Absichtserklärungen in den Koalitionsvereinbarungen wird die Regierung nur dann mutige friedenspolitische Initiativen entwickeln, wenn sie von unten genügend Druck bekommt. Und der muss fühlbar sein."

Wenn nicht alles täuscht, haben wir mit dem 5. Friedensratschlag ein paar Voraussetzungen geschaffen, um diesen Druck im kommenden Jahr zu erhöhen. Von einem neuen "Aufbruch" der Friedensbewegung zu sprechen, wäre in meinen Augen verfrüht. Zumindest könnte aber - um ein Wort des Bundespräsidenten umzumünzen - ein "Ruck" durch die Friedensbewegung gehen, der sich aus der in Kassel gewonnenen Zuversicht speist, nicht nur über das richtige friedenspolitische "Programm" zu verfügen, sondern in der Bevölkerung und sogar in der Regierungskoalition Verbündete zu haben, auf die man zählen kann. Insofern haben wir es mit einer zu unseren Gunsten veränderten gesamtpolitischen Situation zu tun, die es zu nutzen gilt.

"Friedensmemorandum 1999"
Während des Ratschlags wurde der Entwurf eines "Friedens-Memorandums 1999" vorgelegt, dem in diesem Prozess möglicherweise ein großes Gewicht zukommt. In dem Memorandum wird der Versuch unternommen, die friedens- bzw. kriegspolitisch relevanten Probleme der Welt und die wichtigsten Entwicklungen des vergangenen Jahres zu beschreiben, außen- und sicherheitspolitische Konfliktlinien und Weichenstellungen in Europa und der BRD zu analysieren sowie ein abrüstungspolitisches Sofortprogramm für die nächste Zeit vorzustellen. Das Memorandum soll nicht nur Informationsquelle und Handreichung für die Friedensbewegung sein, sondern auch als Grundlage für unsere Arbeit als außerparlamentarische "Lobby" gegenüber Bonn bzw. Berlin dienen. Vielleicht gelingt es ja, mit solch einem jährlich erscheinenden Memorandum eine Art Klammer zu bilden, welche die vielen Arbeitsansätze und Aktionen der sehr heterogenen und pluralistischen Friedensbewegung politisch verbindet. Die Ostermärsche in diesem Jahr, die Aktionen gegen den NATO-Jubiläumsgipfel Ende April, Initiativen gegen den Euromilitarismus anlässlich der Europawahlen im Juni, die Kampagne gegen die Atomwaffen u.v.a.m würden dann nicht mehr unverbunden und relativ beliebig nebeneinander stehen, sondern inhaltlich aufeinander bezogen sein und den gemeinsamen Willen einer der Idee nach zusammengehörigen Friedensbewegung ausdrücken. Die Zeit ist reif, dass sich wieder etwas bewegt im Land. Und dass die langjährige Opposition, die sich der Friedensbewegung vorübergehend sehr weit angenähert hatte, in Bonn nun die Regierung stellt, kann nach Lage der Dinge nur heißen, noch mehr zu tun, um zu friedens- und abrüstungspolitischen Erfolgen zu kommen. Sie sind möglich, aber sehr schwer zu machen.

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Peter Strutynski, AG Friedensforschung, Kassel, ist Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag.