Warten auf den Zuschauerrängen?

Neues Denken in der Friedensbewegung

von Otmar Steinbicker
Schwerpunkt
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Wie kann die Friedensbewegung mit ihren Vorstellungen eine Hegemonie im gesellschaftlichen Diskurs erlangen? Diese Frage scheint angesichts der Stimmung in Deutschland nach Russlands Überfall auf die Ukraine schwierig bis deplatziert. Die Befürwortung der ukrainischen Kriegführung gegen die offensichtliche Aggression und von Waffenlieferungen auch aus Deutschland geht weit hinein in gesellschaftliche Gruppen, die sich in den letzten Jahrzehnten der Friedensbewegung verbunden fühlten. In einer solchen Situation erscheint die Quadratur des Kreises mitunter leichter, als für Argumentationen aus der Friedensbewegung überhaupt Gehör zu finden.

Wie konnte das passieren, wo die Friedensbewegung doch seit den frühen 1980er Jahren eine gewisse Hegemonie in der friedenspolitischen Debatte einnahm, wie Umfragen immer wieder bestätigten, auch wenn die Zahl der Aktivist*innen schon lange nicht mehr die Dimensionen der Großdemonstrationen zwischen 1981 und 1983 erreichte?

Die Friedensbewegung der 1980er Jahre
Blicken wir zuerst zurück auf diese besonders erfolgreiche Zeit der Friedensbewegung. Als die NATO am 12.12.1979 ihren Beschluss zur Stationierung von Pershing-2-Raketen und Cruise Missiles in der Bundesrepublik, Italien und Großbritannien fasste, tat sich die bundesdeutsche Friedensbewegung erst einmal schwer mit der neuen Situation. Die sowjetische Aufrüstung mit atomar bestückten SS-20-Raketen wurde von der NATO als „Vorrüstung“ bezeichnet, die jetzt von ihrer Seite eine „Nachrüstung“ erforderlich mache. Das Thema erschien eher etwas für Militärspezialist*innen zu sein und nicht für „normale“ Friedensbewegte. Die ein Jahr zuvor gelaufene Debatte über die „Neutronenbombe“, die nur Menschen töten und Gebäude intakt lassen sollte, konnte man schließlich noch mit moralischer Entrüstung als „Perversion menschlichen Denkens“ (Egon Bahr) führen. Nennenswerte Proteste gegen den Stationierungsbeschluss blieben erst einmal aus.

Es dauerte fast ein Jahr bis zum November 1980, als sich mit dem „Krefelder Appell“ ein breiteres Bündnis über die traditionellen Organisationen der Friedensbewegung hinaus zusammenfand und bis zum Stationierungstermin mehr als vier Millionen Unterschriften gegen das neue Rüstungsvorhaben sammelte. Die einleuchtende Argumentation: Mit den neuen Atomwaffen wurde ein atomarer Angriffskrieg der NATO gegen den Warschauer Pakt eher praktikabel und damit ein Atomkrieg – ob bewusst geplant oder durch den Zufall eines Fehlalarms herbeigeführt – wahrscheinlicher. Zum Stationierungstermin zeigten Umfragen eine Ablehnung der neuen Atomwaffen bei 75 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung. Die Ablehnung von Kriegen blieb in den Jahrzehnten danach ein weitgehender gesellschaftlicher Konsens.

Zu den Faktoren, die die Situation von 1980 von der heutigen unterscheidet, gehört sicherlich, dass damals noch die Schrecken des Zweiten Weltkrieges in der Erinnerung präsent waren. Das Kriegsende lag erst 35 Jahre zurück. Heute im Jahr 2022 liegt das Wendejahr 1989, das zur deutschen Wiedervereinigung und zum Zusammenbruch der UdSSR und des Warschauer Pakts führte, bereits 33 Jahre zurück. Überlebende Kriegsteilnehmer und Zeitzeug*innen des Zweiten Weltkrieges gibt es heute, 77 Jahre nach Kriegsende, kaum noch. Auch deren Kinder, die die schrecklichen Erlebnisse noch aus erster Hand aus Erzählungen ihrer Eltern erfuhren, sind in die Jahre gekommen. Die jüngere Generation in der Politik, im Bundestag und bis in Ministerämter ist heute davon nicht mehr geprägt.

Die Friedensbewegung hat unterschiedliche Wurzeln, religiöse, bürgerlich-pazifistische und solche aus der Arbeiterbewegung. In den 1980er Jahren kamen auch einige wenige ehemalige oder aktive Militärs hinzu. Für sie war ein großer weiträumig geführter Krieg wie der Zweite Weltkrieg vor allem als Atomkrieg, aber zunehmend auch als großer konventioneller Krieg nicht mehr führbar, weil es in einem solchen Krieg keine Gewinner mehr geben konnte. Vor allem auch unter dem Einfluss des von Gorbatschow geprägten Neuen Denkens wurde diese Position gegen Ende der 1980er Jahre am Ende des Kalten Krieges Konsens in NATO und Warschauer Pakt.

In der deutschen Friedensbewegung fand diese Debatte der Militärs über Führbarkeit oder Nichtführbarkeit von Kriegen wenig Beachtung. Hier dominierte eine moralische Ächtung des Krieges. Darüber hinaus wurde vor allem auch der Bruch des Völkerrechts wie beim Krieg der NATO gegen Jugoslawien 1999 (Kosovo-Krieg) oder beim Krieg der „Koalition der Willigen“ unter Führung der USA gegen den Irak thematisiert.

Einengung der Betrachtung
Heute erweist sich diese Einengung der Betrachtung des Krieges als Dilemma in der Debatte. Völkerrechtlich gibt es keinen Zweifel daran, dass Russland als Aggressor in die Ukraine eingefallen ist. Dass das Völkerrecht dem Aggressionsopfer das Recht zur Selbstverteidigung zugesteht, ist ebenso eindeutig. Aber ergibt sich aus diesen völkerrechtlichen Aspekten zugleich eine Sinnhaftigkeit des Krieges? Für einen religiös oder auf andere Weise moralisch begründeten Pazifismus ist eine solche Sinnhaftigkeit ausgeschlossen. Auch aus den Positionen der Sozialen Verteidigung ergibt sich eine klare Ablehnung militärischen Handelns und die Suche nach Alternativen zivilen Widerstands.

Darüber hinaus gibt es bis in das Umfeld der Organisationen der Friedensbewegung hinein deutliche Irritationen.

Auch wenn sich der Krieg in der Ukraine noch lange Zeit hinziehen dürfte mit ungewissen Szenarien und erheblichen Eskalationsdimensionen bis hin zu einem weltweiten Atomkrieg, so sieht es auf absehbare Zeit nicht danach aus, dass eine Seite einen „Sieg“ proklamieren kann. Nicht wenige Menschen in Deutschland halten derzeit dennoch eine Fortsetzung von Waffenlieferungen an die Ukraine auch über mehrere Jahre hinweg für richtig.

Hier dürfte es leider erst zu einem deutlichen Meinungsumschwung kommen, wenn der Krieg „ausblutet“ (eine Formulierung von Militärs) und die hohe Zahl von Toten eine Weiterführung des Krieges sinnlos erscheinen lässt. Dass es ukrainische Soldaten und Zivilist*innen und russische Soldaten sind, die in diesem Krieg sterben, erleichtert womöglich auf deutschen Zuschauerrängen die Zustimmung zum Krieg.

Kritische Stimmen zum Krieg kommen derweil aus dem militärischen Spektrum
Oberst a. D. Wolfgang Richter, Mitglied der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) formulierte Anfang August: „Gewiss ist nur: Je länger der Krieg dauert, desto mehr Opfer werden auf beiden Seiten zu beklagen sein, und desto höher wird die Gefahr einer weiteren Eskalation. Friedenslösungen, die auf Kompromissen und nicht auf Kapitulation beruhen, sind nur unterhalb der Maximalforderungen beider Seiten erreichbar.“ (1)

Bitter beschrieb Prof. Dr. Elmar Wiesendahl, ehemaliger Dozent für Politikwissenschaft an der Universität der Bundeswehr in München, das Szenario der deutschen Debatte zum Krieg in der Ukraine: „In den Redaktionsstuben, den Parlaments- und selbst Regierungsämtern sitzt mittlerweile eine Kriegsdienstverweigerer-Generation, an die eine wehrpflichtfreie Nachfolgegeneration anschließt. Die Generation KDV unter den Journalisten und Politikern reiht sich jetzt angesichts des Ukrainekrieges in die Gesinnungsgemeinschaft der Bellizisten ein und favorisiert aus einem moralischen Empörungsimpuls heraus die Eskalation der militärischen Gegenwehr gegen die russischen Kriegszerstörungen und -verbrechen. Die bellizistischen Journalisten und Politiker spielen ohne genauere militärstrategische Grundkenntnisse mit dem Einsatz von Waffen einer Kriegsmaschinerie, ohne, wie die davon betroffenen ukrainischen Soldaten oder die Zivilbevölkerung, auch nur entfernt in das Kriegsgeschehen involviert zu werden.“

Am Ende seines sehr langen Beitrags kommt Wiesendahl zu dem Schluss:

„Der tiefsitzende postheroische Raushalte-Pazifismus der Bevölkerungsmehrheit wird einer forcierten Militarisierung der Rolle Deutschlands im internationalen Konzert der Mächte weiterhin Fesseln anlegen wollen. Nur wird sich hierdurch der längst auf den Weg gebrachte bellizistische Kurswechsel der deutschen Sicherheitspolitik nicht aufhalten lassen. Dies weist für die Zukunft auf sich vertiefende Spaltungen hin, die mit der Metamorphose Deutschlands zum mehr auftrumpfenden bellizistischen Machtstaat die politische Klasse und die Bevölkerung auseinandertreiben werden. Auf eine militaristisch-bellizistische Wehrgesellschaft wird die Politik auch zukünftig nicht bauen können.“ (2)

Dieser Auseinandersetzung wird sich die Friedensbewegung stellen und sich mit realistischen Positionen einmischen müssen, wenn sie einen Anspruch auf Hegemonie im gesellschaftlichen Diskurs erheben will. Hoffnungslos ist dieses Unterfangen offensichtlich nicht. Allerdings ist auch auf Seiten der Friedensbewegung neues Denken gefragt.

Anmerkungen
1 https://www.zebis.eu/veroeffentlichungen/positionen/gedanken-zum-ukraine...
2 https://www.zebis.eu/veroeffentlichungen/positionen/der-ukrainekrieg-und...

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Otmar Steinbicker ist Redakteur des FriedensForums und von aixpaix.de