Nicht alle Wunden verheilen, einige hinterlassen auch tiefe Narben!

von Steffen Emrich

Eine Bekannte aus Banja Luka zeigte mir vor kurzem ihre Fotoalben. Ein Bild ist auf den ersten Blick ein Urlaubsschnappschuss wie viele andere. Auf dem Foto sieht man zwei junge Männer auf Liegestühlen in der Sonne liegen. In der Hand halten sie jeder eine Flasche Bier und prosten der Fotografin zu. Das Foto ist etwa 2 Jahre alt und wurde an der kroatischen Adriaküste aufgenommen. Die Fotografin erzählt mir die Geschichte hinter dem Foto. Einer der beiden Männer ist Muslim, der andere ist Kroate. Sie hatten sich beim Baden kennen gelernt und beim Erzählen herausgefunden, dass sie ein paar Jahre vorher an der gleichen Frontlinie gewesen sind, aber auf unterschiedlichen Seiten. Jetzt bräunen sich die beiden ehemaligen Todfeinde nebeneinander und erzählen sich die gemeinsamen Kriegsgeschichten, so wie man sich das vielleicht von konkurrierenden Sportlern vorstellen kann, die von der guten alten Zeit schwärmen.

Sicher gibt es viele ähnliche tragisch komische Nachkriegsgeschichten, aber für die meisten Kriegsbetroffenen aus Bosnien-Herzegowina und Kroatien sieht die Realität ganz anders aus, und der Weg zu einer Versöhnung, einem friedlichen, wenn nicht gar freundschaftlichen Miteinander ist noch weit. Der Krieg in Bosnien und Herzegowina (BiH) ist vor rund 8 Jahren durch den Vertrag von Dayton offiziell beendet worden. Das Land wurde geteilt in einen serbischen Teil und einen bosniakisch-kroatischen Teil. Beide Teile haben in vielen Bereichen unterschiedliche Gesetze, und die Verwaltungseinheiten kooperieren nicht miteinander.

Heute, gut 10 Jahre nach Kriegsbeginn, ist BiH noch immer weit davon entfernt, zu einem einheitlichen, politisch stabilen Staat zu werden. Bei den letzten Parlamentswahlen im Oktober diesen Jahres konnten die nationalistischen Parteien der Serben, Kroaten und Bosniaken ihre starken Positionen nicht nur behaupten, sondern ausbauen. Selbst die Teilung des Staates wird in regelmäßigen Abständen thematisiert. In einer Zeit, in der in einem dreigeteilten Bildungssystem den Kindern in der Schule häufig immer noch beigebracht wird, die anderen seien die Feinde, ist Versöhnung zu einem der zentralen Begriffe geworden, der, neben Wiederaufbau und Wirtschaftsförderung, die Zukunft des labilen Staatsgebildes sichern soll.

Im muslimischen Kontext steht im Unterschied zur christlichen Tradition nicht die Vergebung, sondern Wahrheit und Gerechtigkeit vor der Versöhnung. Vergebung ohne Anerkennung von Schuld birgt die Gefahr, dass existierende Schwierigkeiten mit dem Prinzip "Decke drüber" gelöst werden, mit der Gefahr, dass irgendwann die Decke wieder weggenommen wird und ein unbewältigtes Konfliktpotential wieder auftaucht. Die Forderung nach Wahrheit und Gerechtigkeit bedeutet mehr als ein individuelles Reuebekenntnis. Sie beinhaltet die Aufarbeitung von Tatsachen und die Anerkennung von Wahrheiten, verbunden mit der Forderung nach Gerechtigkeit bis hin zur Vergeltung.

Für die Versöhnungsarbeit in Bosnien Herzegowina stellt sich immer wieder die Frage, wie es zum Miteinander der zeitweise verfeindeten Gruppen kommen kann. Ein breites Spektrum von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen arbeitet daran, diesen Versöhnungsprozess einzuleiten. Die deutsche Jugendorganisation "Schüler Helfen Leben" (SHL) konzentriert sich vor allem auf den Bereich der interethnischen Jugendarbeit. Eines ihrer wichtigsten Ziele ist es, junge Menschen mit unterschiedlichen sozio-kulturellen Hintergründen in Seminaren zusammen zu bringen und ihnen eine Möglichkeit zu geben, sich vorurteilsfrei kennenzulernen. Letzlich sind - so die Annahme - alle Jugendlichen, unabhängig von ihrer Herkunft, Opfer des Krieges gewesen. Nicht nur wurde ihnen ein großer Teil ihrer Jugend geraubt, sondern in fast allen Fällen haben sie Eltern bzw. Familienangehörige oder Freunde verloren, sind vertrieben worden und haben viele Jahre in großer Angst um ihr Leben oder das Leben von Angehörigen gelebt. Durch die Arbeit an kulturellen, sozialgesellschaftlichen oder politischen Themen wird ein Schwerpunkt auf die Gemeinsamkeiten der Jugendlichen gelegt, lernen sie einen toleranten Umgang miteinander und bauen Vertrauen ineinander auf. Sie sollen dabei unterstützt und motiviert werden, sich für eine gemeinsame, friedliche Zukunft ihres Landes einzusetzen.

Dem Versuch, Wahrheiten zu ermitteln, hat sich auch die 2001 gegründete Wahrheitskommission verschrieben. Der Krieg in Bosnien und Herzegowina ist ein extrem schlecht dokumentierter Krieg. Kommandos sind über Funk erteilt worden und oft nur schwer rekonstruierbar. Aus Angst vor der Verwendung vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag sind Unmengen an Akten und Daten vernichtet worden. Der von dem Präsidenten der jüdischen Gemeinde von BiH, Jacob Finci, gegründeten Wahrheitskommission geht es darum, Fakten zu sammeln und mit möglichst vielen Zeugen, mit Überlebenden, mit Tätern und mit Opfern Interviews zu führen. Es soll nicht Schuld gegeneinander aufgerechnet werden, sondern man will den Krieg wenigstens in Ansätzen dokumentieren und den Betroffenen ein Forum bieten, in dem sie sich artikulieren können.

Dies sind nur zwei von zahlreichen Arbeitsansätzen, die letztlich alle das Ziel haben, ein friedliches Miteinander in Bosnien und Herzegowina in der Zukunft zu ermöglichen. Es kann nicht das Ziel sein, dass in wenigen Jahren ehemals verfeindete Gruppen zu besten Freunden werden, aber es muss zu einem Punkt führen, wo die Objektivität vor den Gerüchten steht, wo Schuld bewiesen ist und wo die Gemeinsamkeiten und nicht die Unterschiede im Vordergrund stehen. Mit den Worten von Jacob Finci: "Ohne Versöhnung zwischen den Bosniern wird es keine Zukunft und auch keine Stabilität für Bosnien geben". Bleibt noch hinzuzufügen, für den Balkan und den Rest von Europa auch nicht.
 

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Steffen Emrich ist EIRENE-Friedensfachkraft in Sarajevo.