Politische Überwachung

Nicht nur eine Frage des Datenschutzes

von Heiner Busch

Im Dezember 1983, vor bald dreißig Jahren also, verkündete das Bundesverfassungsgericht in seinem Volkszählungsurteil ein neues Grundrecht: das der „informationellen Selbstbestimmung“. Es ging in dem Urteil keineswegs nur um die – von heute aus betrachtet – relativ harmlose Volkszählung und die damit verbundenen eher abstrakten Bedrohungen der Privatsphäre. Das Gericht hatte zumindest auch die durchaus habhafte politische Überwachung vor Augen, die in den 70er Jahren, dem Jahrzehnt der Berufsverbote und des „Deutschen Herbstes“, eine neue Dimension erreicht hatte. Ein zentraler Satz der Entscheidung lautete: „Wer damit rechnet, dass etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird und dass ihm dadurch Risiken entstehen, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte verzichten.

Das Urteil hatte zwar einen schier endlosen Gesetzgebungsprozess zu Folge, denn sämtliche Formen der Erhebung, Bearbeitung oder Weitergabe von Daten brauchten nun eine formelle gesetzliche Grundlage. Die Apparate der politischen Überwachung sind dadurch bekanntlich nicht verschwunden.

 

Geheimdienste …
Nach einigem Hin und Her verabschiedete der Bundestag 1990 ein ganzes Paket von Gesetzen für die drei Geheimdienste des Bundes – das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), den Bundesnachrichtendienst (BND) und den Militärischen Abschirmdienst (MAD), das auch ihre Pflicht zur Zusammenarbeit untereinander und mit Staatsanwaltschaften und Polizei förmlich festhielt. Das Bundesverfassungsschutzgesetz (ebenso wie danach die Gesetze der Länder für ihre Verfassungsschutzämter) wurde durch die neue Datenschutzrhetorik erheblich länger. Für den BND und den MAD war es die erste gesetzliche Grundlage überhaupt. Praktisch änderte sich nichts. Die Gesetzesmacher ermächtigten die Dienste zur Führung von Datenbanken. Das Auskunftsrecht für die Betroffenen geriet zur Farce. Das Parlament schaffte es nicht einmal, die so genannten nachrichtendienstlichen Mittel abschließend aufzuzählen und damit klarzustellen, welche geheimen Überwachungsmaßnahmen denn nun zulässig sind und welche nicht. „Hinsichtlich der als V-Mann anzuwerbenden Personen gibt es kaum rechtlich verbindliche (...) Kategorien“, hatte 1986 Helmut Roewer in seinem damals führenden Kommentar zum „Nachrichtendienstrecht der Bundesrepublik Deutschland“ geschrieben. Der Satz verlor mit dem vier Jahre später verabschiedeten Gesetz nicht seine Richtigkeit. Sein Verfasser wechselte 1994 von der Verfassungsschutzabteilung des Bundesinnenministeriums an die Spitze des Thüringer Landesamtes, wo er das Fehlen jeglicher rechtlicher Kategorien auch praktisch unter Beweis stellte. Die Nachwirkungen sind im NSU-Skandal zu besichtigen.

Das definitive Ende des Kalten Krieges und damit der Verlust des Feindes – des (ir)realen Sozialismus und seiner „fünften Kolonne“ im Innern – brachte den Diensten nur einen kurzfristigen Personalabbau. Man suchte sich neue Feinde und fand sie zwischenzeitlich teils in der „organisierten Kriminalität“, teils im Rechtsextremismus und im jeden Fall bei den ImmigrantInnen und ihren Exilorganisationen. Ansonsten stand der Feind weiterhin links – in Gestalt der außerparlamentarischen Bewegungen und der Autonomen sowie der erstarkenden PDS (bzw. heute der Partei „Die Linke“). Nach dem 11. September 2001 war die Zurückhaltung endgültig wieder vorbei. Die Geheimdienste erhielten nicht nur wieder mehr Personal und Finanzen, sondern mit den Anti-Terror-Gesetzen auch zusätzliche Befugnisse. Sie können seitdem unter anderem Daten bei Telekommunikations-, Luftfahrt- und Finanzunternehmen anfordern.

Immerhin: Seit dem NSU-Skandal wird die Forderung, den Verfassungsschutz abzuschaffen, nicht mehr nur von den üblichen linken und bürgerrechtsbewegten Verdächtigen vorgetragen. Selbst in den Redaktionsstuben der großen, sonst so staatstragenden Blätter – von der Süddeutschen Zeitung über die Berliner Tagespost bis hin zum Spiegel – ist die Legitimität des Inlandsgeheimdienstes dahingeschmolzen. Die krasse Fehleinschätzung der von rechts drohenden Gefahren und der sorglose Umgang mit den Spitzeln aus der Neonazi-Szene haben endlich dafür gesorgt, dass die Verfassungsschutzämter insgesamt in Verruf gerieten.

 

… politische Polizei
Vom wachsenden Misstrauen gegen geheimdienstliche Apparate verschont sind dagegen die polizeilichen Staatsschutzabteilungen – und das obwohl auch ihr Geschäft zu einem großen Teil in der politischen Überwachung besteht. (1) Einigen linksliberalen GeheimdienstkritikerInnen erscheint die politische Polizei gar als Alternative, die anders als der Verfassungsschutz an Straf- und Strafprozessrecht gebunden und damit eher kontrollierbar sei. (2) Wer genauer hinsieht, muss solche Pläne für eine „neue Sicherheitsarchitektur“ verwerfen.

Staatsschutzabteilungen existieren seit Anfang der 50er Jahre auf allen Ebenen der polizeilichen Organisation – beim BKA, bei den Landeskriminalämtern und selbst auf lokaler Ebene bei den Polizeipräsidien der Großstädte. Ihnen korrespondierten die mit dem politischen Strafrecht 1951 eingeführten politischen Abteilungen bei den Staatsanwaltschaften und die Staatsschutzsenate bei den Obergerichten, die dafür sorgten, dass die von der Polizei bearbeiteten Fälle bei der Justiz in zuverlässige Hände gerieten. Schon bei der Kommunistenverfolgung in den 50er Jahren hatten die politischen bzw. Staatsschutzkommissariate eine zentrale Rolle. Die Liberalisierung des politischen Strafrechts 1968 brachte nur eine kurze Entspannung. Unter der sozialliberalen Koalition in den 1970er Jahren erfolgte – begünstigt durch die RAF – vor allem der Ausbau der zentralen Stellen, also der politischen Abteilungen der Landeskriminalämter und insbesondere des BKA, das 1975 zusätzlich eine eigenständige Abteilung Terrorismus erhielt. Die 90er Jahre brachten zwar auch den polizeilichen Staatsschutzstellen einen leichten Rückgang des Personals, aber auch hier wirkte der 11. September 2001 als Initialzündung für einen neuerlichen Ausbau.

Der Staatsschutz ist eben keine polizeiliche Gliederung wie jede andere. Dafür sorgt nicht nur die organisatorische Abschottung gegenüber dem Rest der Polizei, sondern auch das spezielle rechtliche Instrumentarium, dessen sich diese Abteilungen bedienen können. Da sind zum einen die Bestimmungen des politischen Strafrechts: Diese kriminalisieren nicht beispielsweise terroristische Handlungen, denn die sind bereits durch das gewöhnliche Strafrecht verboten – von Mord und Totschlag bis zur Brandstiftung oder zum Eingriff in den Bahnverkehr. Die politischen Strafbestimmungen zielen vielmehr auf Meinungen und vermutete organisatorische Zusammenhänge. Besonders deutlich ist dies bei den §§ 129, 129a und b (kriminelle bzw. terroristische Vereinigung). Die Verurteilungen wegen entsprechender Beschuldigungen sind vergleichsweise selten, wobei bezeichnenderweise jene wegen Unterstützung überwiegen. Ihre Wirkung entfalten diese Strafbestimmungen vor allem als juristisches Instrument der Ausforschung politischer Bewegungen. Sie sind der Passepartout für alle möglichen in der Strafprozessordnung vorgesehenen Überwachungsmethoden – von der Telefonüberwachung über die Observation und diverse Formen der verdeckten Ermittlung bis hin zum Großen Lauschangriff. Folgen dessen waren beispielsweise zu besichtigen bei den über Jahre dauernden 129a-Verfahren gegen die „militante gruppe“ oder die „militante Kampagne“ gegen den G8-Gipfel 2007. Der Bundesgerichtshof stufte zwar die Beschuldigungen wegen Bildung einer terroristischen zu solchen der kriminellen Vereinigung zurück und entzog die Verfahren damit der Bundesanwaltschaft. Ein großer Teil wurde eingestellt. Im Ergebnis blieb aber ein Berg von Informationen – erhoben durch Telefonüberwachungen, Observationen und anderen speziellen Ermittlungsmethoden.

Aber auch außerhalb strafrechtlicher Ermittlungsverfahren können die Staatsschutzabteilungen weitgehend auf dieselben Überwachungsbefugnisse zurückgreifen, die die Polizeigesetze für die „vorbeugende Bekämpfung“ von Straftaten mit erheblicher Bedeutung, und dazu gehören standardmäßig die politischen Delikte, vorsehen. Nicht zufällig berichten deshalb Anwälte, dass ihre Mandanten auch nach der Einstellung von Verfahren mit derselben Intensität und von den gleichen Staatsschutzdienststellen weiter überwacht wurden.

Das Ergebnis dessen zeigt sich auch in den ausufernden Datensammlungen, die ausschließlich den Staatsschutzabteilungen zur Verfügung stehen. (3) Die zentrale Verbunddatei „INPOL Fall Innere Sicherheit“ umfasste Ende 2011 fast 840.000 Datensätze, rund 90.000 zu Personen. „Strafverfahrensdateien“, die vom BKA zum Teil über Jahrzehnte hinweg meist zu 129a-Komplexen betrieben werden, können mehrere Zehntausend Personendaten enthalten. Kleiner, aber ganz und gar nicht unproblematisch sind die Datensammlungen außerhalb des Terrorismusbereichs: etwa die seit 2001 existierenden „Gewalttäterdateien“, die ebenfalls im Bund-Länder-Verbund betrieben werden, sowie die seit 2008 betriebenen Zentraldateien über „Politisch motivierte Kriminalität“ (PMK), bei denen die Länder nur zum Abruf, aber nicht zur Eingabe berechtigt sind. Für eine Speicherung reicht hier oft eine bloße Personalienfeststellung am Rande einer Demonstration. Selbst ein Freispruch ist aber keine Garantie für eine Löschung, denn schließlich bleibt ein „Restverdacht“. Im September 2011 waren in „Gewalttäter-links“ 2.285, in „PMK-links“ 1.710 Personen verzeichnet. Hinzu kommen personenbezogene Hinweise „Straftäter links-„ oder „rechtsmotiviert“, die zum Beispiel in die Personenfahndungsdatei eingegeben und etwa bei Straßenkontrollen im Vorfeld von Demos abgerufen werden können. Sie ermöglichen präventive polizeiliche Maßnahmen – vom Platzverweis bis hin zum „Unterbindungsgewahrsam“. Der linke „Stempel“ betraf im September 2011 7.642 Personen.

Eine Zusammenarbeit von polizeilichem Staatsschutz und Geheimdiensten gab es von Anfang an. Mit dem Aufbau gemeinsamer Zentren wie dem Terror-Abwehrzentrum in Berlin-Treptow und dem Gemeinsamen Terrorismus- und Extremismus-Abwehrzentrum in Köln bzw. Meckenheim ist diese Kooperation fest institutionalisiert worden. Gemeinsame Dateien existieren bisher im Bereich des islamistischen Terrorismus und des Rechtsextremismus. Man darf gespannt sein, wann und mit welcher Begründung eine entsprechende gemeinsame „Linksextremismusdatei“ eingerichtet wird.

 

Zurück zum Ausgangspunkt
Mit etwas mehr Datenschutz ist dem Komplex der politischen Überwachung offensichtlich nicht beizukommen. Wer Licht, Luft und Sonne für die Demokratie will, sollte auch nicht über eine «neue Sicherheitsarchitektur» und etwas mehr Kontrolle nachdenken, sondern zum Abriss schlechter Bausubstanz bereit sein: zur ersatzlosen Abschaffung der Geheimdienste, zur systematischen Auslichtung des politischen Straf- und Polizeirechts und der darauf aufbauenden polizeilichen und justiziellen Apparate.

 

Anmerkungen
1 Siehe die aktuelle Nummer 103 von Bürgerrechte & Polizei/CILIP (www.cilip.de; vertrieb [at] cilip [dot] de)

2 Siehe z.B. Leggewie, C.; Meier, H. (2012) Nach dem Verfassungsschutz. Plädoyer für eine neue Sicherheitsarchitektur der Berliner Republik, Berlin

3 Mehr Details in den Antworten der Bundesregierung auf die Anfragen der Linksfraktion im Bundestag: BT-Drs. 16/13563 v. 25.6.2009, 17/2803 v. 25.8.2010; 17/7307 v. 13.10.2011; 17/8089 v. 7.12.2011

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