NS-Gedenkstätten

„So nah bei uns“

von Sophie Schmidt

„So nah bei uns, bislang habe ich gedacht, dass die Konzentrationslager alle weit weg sind, aber hier hat ja der Weg dorthin begonnen, direkt vor unserer Haustür.“ So das Resümee einer jungen Besucherin der Erinnerungsstätte an der Großmarkthalle in Frankfurt, die an die Deportationen der als Juden Verfolgten zwischen 1941 bis 1945 erinnert. Die Möglichkeit der Erkenntnis, dass die Verbrechen im Nationalsozialismus nicht bloß weit entfernt stattfanden, ist eine große Stärke lokaler Gedenkstätten.

Ein Tagesausflug von sechs zehnten Klassen einer Schule in die Gedenkstätte Buchenwald: Nach ca. 300 Kilometer einfache Strecke kommen die drei Busse an der Gedenkstätte an. Dem Einführungsfilm folgt ein zweistündiger Rundgang über die Gedenkstätte im jeweiligen Klassenverband. Nach dem Mittagessen und bevor die lange Rückreise angetreten wird, findet noch ein Spaziergang durch die Klassikstadt Weimar statt. Welche Einsichten und Erkenntnisse werden von dem Besuch in Erinnerung bleiben?
Ein Oberstufenkurs besucht im Rahmen des Unterrichtsthemas NS-„Euthanasie“ die Gedenkstätte Hadamar. Vorausgegangen war eine Sensibilisierung für die Thematik und die Herausarbeitung individueller Interessensschwerpunkte. Die Führung durch die Gedenkstätte dauert wesentlich länger als üblich, denn die jungen Leute stellen viele Fragen. Die im folgenden Unterricht erarbeiteten Präsentationen zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung, die auch Gegenwartsbezüge mit einbezieht. So wird unter anderem die Frage nach der Vergleichbarkeit von NS-Krankenmorden mit heutigen Abtreibungen bei Trisomie 21 erörtert.
Die Vor- und Nachbereitung des Gedenkstättenbesuchs ermöglichte es, dass die jungen Menschen eine individuelle Beziehung zu dem Ort und historischen Personen aufbauen und eigenen Fragen nachgehen konnten. So wurden Wissensbestände erweitert und Einsichten gewonnen. An dem Beispiel zeigt sich auch, dass ein Aktualitätsbezug dann gelingen kann, wenn erworbene geschichtliche Wissensbestände fundiert in die Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Fragen einbezogen werden können. Unter der Voraussetzung, dass der historische Sachbezug nicht verkürzt wird und als bloße Mahnung für die Zukunft instrumentalisiert wird, können Gedenkstättenbesuche auch mit Demokratie- oder Menschenrechtsbildung sinnvoll verknüpft werden.

Um wessen Geschichte geht es?
Eine zehnte Klasse besucht die Gedenkstätte Neuer Börneplatz in Frankfurt, der an die im Holocaust ermordeten Jüdinnen und Juden erinnert. Zu Beginn der Veranstaltung fehlt ein Drittel der Klasse. Mir wird erklärt, dass Jugendliche „mit Migrationshintergrund“ schwänzen. Die Erklärung der begleitenden Lehrkraft lautet, die Abwesenden „interessieren sich nicht für unsere Geschichte“. Die Lehrkraft konstruiert hier eine Differenz zwischen Nachkommen der deutschen Mehrheitsgesellschaft, zu der sie sich zugehörig fühlt, und den „Anderen“ ohne entsprechende Vorfahren. Üblicherweise kann ich bei der Arbeit mit Jugendgruppen in Gedenkstätten keine Korrelation zwischen Grad des Interesses und der Zuschreibung „mit“ oder „ohne Migrationsintergrund“ feststellen. Wirkte die von der Lehrkraft vorgenommene Unterscheidung zwischen einem kollektiven „wir“ und den „Anderen“ auf die Jugendlichen mit sogenanntem Migrationshintergrund ausschließend? Zeigten sie kein Interesse, weil dies von ihnen erwartet wurde?

Wie über den Holocaust sprechen?
Wenn Klassen die besagte Gedenkstätte besuchen, erkunden sie zunächst eigenständig, wie der Ort auf sie wirkt. Eine erste Antwort einer 15-Jährigen lautet: „Also, mir haben die Sitzbänke dahinten gefallen, da könnte ich mir vorstellen, mich mal mit Freunden zu treffen.“ Prompt folgen weitere Äußerungen, die auf mich beinahe entschuldigend wirken: „Ich fand‘s total traurig“, „bedrückend“. Wird hier deutlich, wie stark Jugendliche gesellschaftlich erwünschtes Sprechen über den Holocaust verinnerlicht haben? (1) Wie können sie darüber hinaus in eine authentische Auseinandersetzung über den Holocaust treten?

Und wie kann die Erinnerung bewahrt werden, jetzt, wo direkte Zeitzeugen bald nicht mehr leben?
Für Jugendliche bedeuten Zeitzeugen ein lebendes Bindeglied zur Vergangenheit. Die persönliche und emotionale Begegnung ermöglicht einen sehr wertvollen Zugang. Gleichzeitig sprechen Jugendliche den Überlebenden eine große Autorität zu. Denn in den Augen vieler Jugendlicher, verkörpern ZeitzeugInnen ihre subjektive Erfahrung, die „wahre“ Geschichte. Insofern birgt das Arbeiten mit Videoaufnahmen von Zeitzeugeninterviews auch eine Chance. Das vermittelnde Medium des Videos schafft Distanz zur Erzählung und ermöglicht dadurch eine zusätzliche Reflektionsebene. Auch literarische Erinnerungen sind eine Quelle, um sich fernab von trockenem Faktenwissen, sinnlich-ästhetisch mit Erfahrungen von Verfolgten zu befassen. Einfacher als bei Zeitzeugengesprächen kann bei diesen beiden Zugängen, die emotionale Wirkung reflektiert und die individuelle Erzählung mit anderen Quellen und Wissensbeständen verglichen und eingeordnet werden. Sowohl für die Beschäftigung mit Erinnerungen von Zeitzeugen als auch für Gedenkstättenbesuche sind die Vor- und Nachbereitung mit den Jugendlichen unabdingbare Voraussetzungen für eine gelingende Annäherung an die nationalsozialistischen Verbrechen.

Anmerkung
1 Dies wurde bereits 2004 für den Geschichtsunterricht untersucht. Vgl. Wolfgang Meseth, Matthias Proske, Frank-Olaf Radtke (Hg.) (2004): Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts. Campus.

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Sophie Schmidt arbeitet als abgeordnete Lehrerin am Pädagogischen Zentrum des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt. Zu ihrem Arbeitsschwerpunkt gehört historische Bildung zum Nationalsozialismus und Holocaust. Sie ist u.a. zuständig für die Pädagogik an der Erinnerungsstätte Großmarkthalle und der Gedenkstätte Neuer Börneplatz in Frankfurt.